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Der menschliche Blick der Regie: (Film-)Ästhetik und gesellschaftliche Utopie

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Academic year: 2022

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Der menschliche Blick der Regie – (Film-)Ästhetik und gesellschaftliche Utopie David Fopp

Beitrag zur Konferenz „Bild – Performance – Improvisation im Ausgang von Eugen Finks Phänomenologie”, 14. und 15. Mai 2014, Karls Universität Prag. Leitung: Dr. Hans Rainer Sepp

In manchen Kunstwerken, Filmen, Bildern oder Büchern scheint zweierlei gleichzeitig zu passieren:

Es eröffnet sich eine ganz spezifische eigensinnige Welt des bildlichen Denkens einer Regisseurin oder eines Regisseurs; und gleichzeitig werden die Zuschauenden mit einer allgemeineren, universalen Dimension verbunden, die im Folgenden als Idee der Menschlichkeit bezeichnet wird. Wie kann das geschehen? Wie kann das Spezifische, Individuelle zugleich ganz allgemein sein? Es geht mir im Folgenden darum, eine Dimension aufzuzeigen und zum Vorschein zu bringen, die dem Blick des Filmpublikums ansonsten entgehen könnte. Es handelt sich dabei um eine Dimension, die ich zwar am Beispiel von Filmen untersuchen werde; genauso gut könnten aber auch Bilder oder Texte und entsprechend die sie thematisierende Kunst- und Literaturgeschichte herangezogen werden. Es geht also um Kunst als Kunst – und damit um einen Versuch zu einem neuen ästhetischen Blick und eine starke These: Kunst soll sich dadurch auszeichnen, dass eben diese Dimension, die ich jetzt aufzeigen möchte, in ihr am Werk ist.

Was vielleicht überraschend ist, ist die These, dass diese Dimension der Kunst eine Art von Neben- sich-stehen oder Entfremdung spiegelt. Sie nimmt die in den Kunstwerken präsentierten Protagonist_innen gefangen. Kunst als Projekt kommt deswegen auch kritisch in den Blick. Der Text schließt dann mit Überlegungen dazu, wie diese Gefangenschaft innerhalb der Kunst und von Kunst gesellschaftlich aufgehoben werden könnte. Damit ist er in drei Teile gegliedert: Zuerst soll die entscheidende Dimension überhaupt erst sichtbar gemacht werden. Zugleich geht es um deren entfremdende Wirkung, und schließlich um einen möglichen erlösenden Aspekt, um eine gesellschaftliche Utopie.

1. Die Dimension der Figuren 1.1 Die Ausgangskonstellation

Zum theoretischen Kontext: Als Folie für dir folgende Gedanken dient mir die Phänomenologie und vor allem die phänomenologische erweiterte Gestalttheorie des französischen Philosophen Maurice Merlau-Ponty (1966). Vor diesem Hintergrund kommen nicht etwa einzelne Filme in den Blick, sondern das Gesamtwerk von wichtigen Regisseurinnen und Regisseuren. Eine Ausgangsfrage ist dabei, wie diese Künstler_innen mit der Dimension der Raumtiefe umgehen, die im Werk Merleau- Pontys eine zentrale Rolle spielt. Sein Verdacht: diese Dimension hat etwas Mysteriöses an sich, wenn wir etwa vor die Frage gestellt werden, ob sich in die Tiefe erstreckende Tramschienen für unsere Wahrnehmung parallel verlaufen oder sich nähern. Beides scheint zugleich zuzutreffen und die Raumtiefe selbst scheint sich einem geometrischen Blick zu entziehen. Sie ist für ihn der Inbegriff einer Gestaltdimension. Gleich mehr dazu. Zweitens ergibt sich daraus die Frage oder der Verdacht, dass just das Spezifische für die Film-Sprache aller dieser Regisseur_innen besser verstanden werden kann, wenn ihr Umgang mit dieser Raumdimension genauer analysiert wird. Versuchen sie, diese Tiefendimension in ihrer eben skizzierten Gestaltstruktur nachzuahmen – oder weichen ihre Werke von ihr gerade ab?

1.2 Gestalt und Improvisation: Zwei Arten von Imagination

Doch was ist eine Gestalt, deren Struktur nach Merleau-Ponty das Wesen unserer Wahrnehmung ausmacht? Die Standarddefinition beschreibt Gestalten als Ganzheiten, die mehr sind als die Summe

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ihrer Teile, weil sie als dynamische Figuren immer erst daran sind, sich vor einem nichtthematisierten Hintergrund zu einer sinnvollen Einheit abzuheben.

Ich möchte die interne Struktur von Gestalten am Beispiel einer Theater-Improvisation genauer darstellen, genauer gesagt anhand von Keith Johnstones Unterscheidung verschiedener Typen von Phantasie, die beim Improvisieren zur Anwendung kommen können (Johnstone 1995). Er stellt sich dabei die Frage, wie man in ein spontanes Improvisieren durch spezifische Übungen hineinfinden kann. Eine solche Standardübung sieht so aus: Man stelle sich eine Schachtel oder Box vor, die in einem Antiquitätenladen steht. Die Aufgabe besteht darin, in die Schachtel hineinzugreifen und spontan eine Idee zu entwickeln, was da herausgenommen werden könnte. Dabei unterscheidet er die zwei fundamental voneinander abweichenden Ausführungsarten: Entweder kann man sich künstlich ausdenken, worauf man da stößt. Es handelt sich dann um einen reinen kognitiven willentlichen Akt.

Oder aber man lässt die Hand über das gefundene Ding entscheiden, und zwar im Moment indem sie es herauszieht. Johnstonse These ist dabei, dass nur so wirklich spontane kreative Antworten entstehen können. Die sozialen Zensurmechanismen, die im ersten Fall eine entscheidende Rolle spielen, werden so umgangen. Ich habe an anderer Stelle (Fopp 2011) weitere dieser Standardübungen beschrieben, die zu einer öffnenden Aktivierung dessen führen, was Merleau-Ponty und die moderne Körpertherapie (Fogel 2013) das Körperschema nennt.

1.3 Körperschema und Energie: Volle Gestalten

Sämtliche Übungen von Johnstone sind darauf ausgerichtet, dass man in der Interaktion mit Anderen in die eigene Leiblichkeit hineinfindet, die spontan und fantasievoll ist. Diese positive sozial-leibliche Imagination stellt er der problematischen, weil kopflastigen konstruierenden Phantasie gegenüber.

Dabei ist das Hineinfinden in diese lebendige Imagination gekoppelt daran, dass die Improvisierenden ihre Sinne öffnen: die Augen werden wacher, die Aufmerksamkeit schärfer, die Energie und spontane Kooperationsfähigkeit nimmt zu, mit Herrschafts- und Statusverhältnissen kann gespielt werden.

Die Teilnehmenden finden so in eine neue Art hinein, in ihrem Körper zu sein. Merleau-Ponty würde mit der Gestalttradition sagen, sie füllen ihr Körperschema besser aus (Fogel 2013): Die einzelnen Körperteile sind nicht separat als Einzelteile lose verbunden, sondern machen eine lebendige Sinneinheit aus, ohne dass deswegen die einzelnen Glieder in einer diffusen Einheit verschwinden (Alexander 2001). Dabei zeigt sich eine Verwandtschaft von leiblicher Gegenwärtigkeit und der Ankopplung an die Dimension der leiblich-sozialen Imagination (des Improvisierens). Aber damit tritt nicht nur die umgebende Welt stärker gestalthaft auf, also farbiger, kontrastreicher, der Raum wird tiefer, die Zeit wird voller, sondern auch das eigene Sein-zur-Welt nimmt stärker die Struktur einer vollen Gestalt an. Die Sinne sind synästhetisch koordiniert, die einzelnen Körperteile spielen besser zusammen und Denken, Fühlen und Wahrnehmen werden ununterscheidbar eins.

So entdeckt Johnstone eine Korrelation zwischen der eigenen gegenwärtigen Lebendigkeit und der spontanen Beziehungen zu den Anderen und zur Umwelt. Der Begriff Gestalt bezeichnet deswegen auch nie einfach nur eine Form, sondern die Qualität einer Beziehung, einer Begegnung, eines Ausgerichtet- und In-Kontakt-und-Austausch-seins sowie die Qualität der Seinsweise der beiden, die sich da aufeinander beziehen. Eine volle oder ausgefüllte Gestalt kann deswegen als Norm angesehen werden, als eine Art utopischer lebendiger Matrix einer Ich-Du-Beziehung, vor deren Hintergrund sich nun das analysieren lässt, was uns in Filmen und Bildern gezeigt wird.

2. Was geschieht im Kunstfilm?

2.1 Die Dimension des Neben-sich-stehens

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Eine erste Beobachtung bei der Analyse der erwähnten Kunstfilme, die diese Dimension der Gestalt im Blick hat, ist, dass deren Protagonist_innen gerade nicht in dieser Art von Lebendigkeit durch die Bilder spazieren. Die handelnden Personen bei Bergmann, Antonioni, Scorsese oder Campion scheinen oft wie neben sich zu stehen, gerade keinen guten Kontakt zu sich und den Anderen zu haben und Gefangene ihrer selbst und ihrer auch gesellschaftlichen Umwelt zu sein.

Oder um es technisch zu sagen: Sie füllen ihr Körperschema nicht voll aus, oft ohne es selbst zu merken.

In diesen Bildern spiegelt sich so oft ein Leiden, eine Entfremdung. Ein wichtiges Moment ist dabei, dass dieses Neben-sich-stehen den handelnden Personen selbst gerade nicht bewusst ist; aber für uns sichtbar wird. Die Hauptthese lautet folglich: Kunst stellt diese neben-sich-stehenden Protagonist_innen dar auf eine Weise, die sie uns als Personen hinter Masken, als ein Du gegenwärtig macht.

Oder anders, dialektischer gesagt: Form und Inhalt laufen hier auseinander (als zusammenfallende), ganz im Gegensatz zu sämtlichen klassischen Definitionen von Kunst und Ästhetik. Es ist also so, dass gerade das Abweichen von der erfüllten Gestaltstruktur in Form einer erfüllten Gestalt präsentiert oder besser hergestellt wird: Kunstwerke sind dadurch, dass in ihnen Gehalt und die Form selbst untrennbar werden (jeder Pinselstrich etwa ist unersetzbar, jede Lichtsetzung entscheidend), selbst auf den ersten Blick gestalthaft. Bloß ist das, was als Gehalt und Form zusammenfällt, konterkariert von dem Auseinanderfallen eben dieser Gestalthaftigkeit im Auftreten ihrer Protagonist_innen – und des sie umgebenden Raumes; was gleich wichtig werden wird. Kunst präsentiert so misslingende Gestalten in Gestaltform.

2.2 Von Figurenmächten

Die in Kunstwerken vorkommenden Personen sind gewissermaßen verhext, von sie neben sich stellenden Kräften und Mächten verzaubert. In ihrem Von-Mächten-durchdrungen-sein sprengt ihre Darstellung immer schon die Ebene psychologischer Schilderung. Hier kommt nämlich eine zweite Beobachtung ins Spiel. Wären Kunstwerke nur Darstellungen von außer sich Geratenen, wäre rätselhaft, was ihren Reiz und ihre menschliche Tiefe ausmachen sollte. Etwas in ihrer sinnlichen Ausformung muss es uns erlauben, uns ihnen gerade zuzuwenden und zwar nicht aus einer Sensationsfreude am Entdecken von Entfremdung, sondern aus einem genuinen Angesprochen-sein.

Dieses erlaubt es uns sogar, oder zwingt uns fast dazu, diese Protagonist_innen zu mögen, weit über jeden psychologischen Mechanismus von Identifikation der Mitgefühl hinaus.

Die Lösung, die ich für dieses Problem vorschlagen möchte, ist folgende: Die Umgebung nimmt gewissermaßen dieses Neben-sich-stehen oder diese Entfremdung der Personen auf sich. Deren Abweichen von der erfüllten Gestaltform ist bei diesen Filmen in die Farben und Formen, in die Materialien und Lichtschattierungen der Szenerie und Umgebung übergegangen. Ein Beispiel: Die Hauptperson des Scorsese-Filmes „Gangs of New York“ (2002) ist ein faszinierender, aber übel gewalttätiger Bursche, gespielt von Daniel Day Lewis. Dessen Charakter oder Persönlichkeit kann man vielleicht am besten beschreiben durch den Hinweis auf eine gewisse kalte Härte. Bloß klingt dies nach einer psychologischen Kategorie. Zur Kunst wird das von ihr durchdrungene Werk, wenn Scorsese diese kalte Härte in die Struktur der Umgebung verlagert. Es ist nicht nur die Mimik und Gestik von Daniel Day Lewis, die sie ausstrahlt, sondern es sind die Eiszapfen oder auch das Gerüst, hinter das sich seine „Gang“ zurückzieht. Selbst die Stammkneipe mit der Winkeligkeit ihrer Gänge und damit die ganze Inszenierungsweise dieser Bilder mit dem rechtwinkligen und frontalen

„Framing“ des „Set-designs“ und der Kameraeinstellungen sind von dieser Kälte besessen und nehmen so als Bilder selbst die psychologische Härte auf sich – und verwandeln sich in Kunst.

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zu ihnen eine Beziehung aufzubauen, die uns durch eine realistische psychologische Schilderung eines Psychopathen verwehrt bliebe. Kunst macht den Kontakt zu diesen Neben-sich-stehenden möglich;

eine Person hinter der Persönlichkeit meldet sich. Deswegen auch der Titel des Aufsatzes: Ein menschlicher Blick wird spürbar, der gewöhnlichen Fernsehfilmen abgeht. Er deckt an Kunstwerken das auf, was ich Figuren nennen möchte: eben die dynamischen Strukturen des Neben-sich-stehens.

2.3 Figuren als Stil

Durch diesen Blick auf die figurativen Strukturen von Kunst kommt nun eine ganze Dimension in den Blick, eine Dimension von Figuren-Mächten, eine Shakespearsche Parallelwelt von Wesen, die im Sommernachtswald hinter den armen menschlichen Schicksalen walten. Sie sind es, so die These, die den typischen „Stil“ eines Werkes ausmachen. Das Schaffen einer Künstlerin geht oft einer ganz spezifischen solchen Kraft oder Macht nach; beziehungsweise dem Konflikt zweier solcher Figuren.

Mit einem solchen Blick ausgestattet lassen sich ganz neue Bezüge in der Kunstgeschichte herstellen.

Stephen Daldrys Darstellung des Vaters von „Billy Elliot“ weist etwa eine ähnliche Kantigkeit und Härte auf wie Scorseses Winkeligkeit und Kafkas winkeligen Bewegungstypen, die dem Flauschig- Diffusen gegenüberstehen. Aber hier werden die Details entscheidend. Die Daldrysche metallische quadratische Kantigkeit unterscheidet sich wesentlich von der Scorseseschen Winkligkeit der Kreuzesform. Und beide unterscheiden sich vom Geradlinigen von DeSica Filmen (zum Beispiel:

„Der Fahrraddieb“) oder Boticellis Bildern; und so weiter und so fort. Wie ähnliche Fingerabdrücke unterscheiden sie sich dennoch fundamental.

Oft handeln sämtliche Filme von sogenannten Auteur-Filmemacher_innen von der Auseinandersetzung zwischen diesen Bildmächten. Für Scorsese ist diese Gegenmacht eine Qualität, die diffus macht und im Film „Gangs of New York“ mit Leonardo DiCaprios Person verbunden ist. Er taucht in schwummerig-runden und unscharfen Kontexten auf, rauchigen feurigen Bildern. Genauso kämpft in Scorseses frühem Meisterwerk „Raging Bull“ das Rechtwinklige gegen das Diffuse.

Dagegen wird bei Daldry dem Quadratisch-Hartem ein Diagonal-Dynamisches als Gegenmacht zur Seite gestellt. Diese Auseinandersetzungen dienen als Antriebe für die narrative Logik der Filme. Bei Bergman wäre es die strenge Aufrichtigkeit und Vertikalität, etwa des Todes (in „Das siebte Siegel“) oder des Pfarrers (in „Fanny und Alexander“), die sich gegen die in V-Form angerichteten Diagonalen und der damit einhergehenden Schräge der zögerlichen Hauptpersonen durchsetzen will. Diese Schräge und Zögerlichkeit des Charakters seiner Hauptpersonen ist also wiederum – kaum bemerkbar – in die Struktur des Filmbildes übergegangen, in die Art, wie Unterarme und Oberarme als Gegenspieler inszeniert werden, in das diagonale Gegenüber der Oberkörper und Wangen. Wir würden wohl nicht gebannt diesen hadernden Menschen zuschauen, die mit einem sich entziehenden Gott sprechen, würden wir nicht untergründig spüren, dass da zugleich ein ganz anderer metaphysischer Kampf der Figurenmächte stattfindet, der weit über die psychologische Verfassung und den Charakter einer Einzelperson hinausweist.

2.4 Befreiung und Gefangenschaft

Das Hadern der Menschen ist an die Materialität ihrer Umgebung übergegangen, so dass Kleider, Körperhaltungen und so weiter sie von der Last der richtigen Haltung auch befreien. Wenn man so will, handelt es sich um eine protestantische Ästhetik: das Handeln ist aufgehoben in einer Würde von uns leiblich-seelischen Wesen, das von einzelnen Verfehlungen oder Heldentaten nicht berührt werden kann. Die Weise, wie Licht und Schatten organisiert sind, wie die Schauspielführung geleitet ist, die Kleider arrangiert und die Kamera positioniert, verzaubert ein scheinbar gewöhnliches Abbild und macht – ex negativo sozusagen – eine Person hinter jeder Persönlichkeit sichtbar. Der Preis für diese künstlerische Verwandlung ist aber, dass den Protagonist_innen die anfangs beschriebene Spontaneität

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und damit ihr Bei-sich-sein geklaut wird. Die Figuren reflektieren ja gerade ein Neben-sich-stehen. In diesem Sinn macht diese Art von (oft männlicher) Hoch-Status-Kunst auch gefangen. Die Helden von Scorsese und Daldry stehen neben sich, ohne es einzusehen und behandeln entsprechend ihr Umfeld schlecht. Sie sind nicht nur entfremdet, wie man sagen könnte, sondern tragen zu Entfremdung bei.

Meine kunstkritische These: Sie könnten eigentlich aus dieser figurenhaften Haltung (etwa der Härte oder Kantigkeit) hinausfinden, wenn sie es sich selbst und wenn vor allem ihr Umfeld, auch ihr gesellschaftliches, ihnen dies zugestehen würde. Dann könnten sie zu einem spielerischen Selbst finden im freien Zusammenspiel mit Anderen und die problematischen Persönlichkeitszüge könnten sich in unike Stärken (der Hartnäckigkeit, des Suchenden und so weiter) verkehren. Die Kunst und damit ihre Hersteller_innen halten sie aber gefangen. Das äußert sich direkt im Warencharakter von Kunstwerken. Sie sind nicht nur gestalthafte Formen der Nicht-gestalt, sondern auch spielerisches Einfrieren des Spielerischen.

2.5 Zur Ontologie der Figuren jenseits von Symbolen und Zeichen

Eine Besonderheit dieser figuralen Strukturen ist wie gesagt, dass sie unsichtbar bleiben können. Erst wenn sie aktiv ausfindig gemacht werden, wird es unmöglich, sie als mitgestaltende Kräfte zu übersehen. Umgekehrt sind alle Kunstwerke derart verfasst, dass sie uns diese Forschungsarbeit gerade möglich machen und sogar aufzwingen.

Als Schlüssel kann die Frage dienen, worum es bei einem Film, Bild oder einem Text eigentlich geht.

Dadurch werden Denken und Sehen oder Wahrnehmen so aneinandergekoppelt, dass sich langsam die Figuren ausmachen lassen. Sie erfordern also einen fundamentalen Blickwechsel: Wir müssen uns auf sie einlassen, selbst gestaltförmig werden und die Sinne und das Denken sich integrieren lassen. Mit Benjamin könnte man sagen (Menke 1992), dass Kunstwerke dies brauchen. Die figurativen Kräfte sind auf uns angewiesen. Erst durch unsere „Kritik“, unsere Interpretation werden sie zu dem, was in ihnen angelegt ist. Sie eröffnen einen Raum, von dem wir, die wir denken und empfinden, zugleich ein Teil sind und ihn mitentfalten: Die Figuren der Härte, der Kantigkeit, des Diffus-Verschwurbelten oder des Zögerlich-Schrägen sind etwas Anderes als Formen oder Zeichen, auf die wir drauf schauen und die wir entziffern. Sie sind dynamische Strukturen und Kräfte, die zwar das Bild prägen und über bloß Sinnliches hinausgehen als unsichtbare Seiten der Personen, aber genauso selbst zum Raum von uns Zusehenden gehören: der Vorhang im Kino und alles, was umgibt, kann von ihnen geprägt sein.

Sie verwandeln in ihrer Ausdruckskraft diesen realen Raum und stiegen so gewissermaßen aus der reinen Fiktion hinunter und decken eine Dimension auf, die das Fiktive mit dem Realen verbindet und dadurch unsere Realität als selbst mysteriöse aufdeckt, eben als gestalthafte, in der Materie und Sinn gerade nicht unterschieden werden können.

Ontologisch gesehen könnte man dementsprechend sagen, dass das Kunstwerk eigentlich aus diesen Figuren „besteht“. Es wäre schief zu behaupten, die Härte oder Kantigkeit seien nur abgebildet oder auf sie sei nur verwiesen. Die materielle Qualität, die Farbe, die Quadrierung und so weiter stellen sie vielmehr her und werden so Manifestationsmomente (Fopp 2002/14) von diesen Kräften. Diese Dimension unterläuft damit auch die klassische Aufteilung eines Bildes in Bildträger, Abgebildetes und Abbild (Boehm 2006). Die Figuren sind genauso auf dem Bild zu sehen als auch Teil der Wirklichkeit, aus dem das Bild „besteht“. Es geht plötzlich nicht mehr nur um die abgebildeten Eiszapfen oder die Form der Eiszapfen und deren Qualität, die Nelson Goodman als exemplifizierende bezeichnen würde, sondern darum, dass diese Strenge tatsächlich anwesend ist und nicht nur repräsentiert. Was anwesend ist, ist aber mehr als Vorliegendes, um eine Heideggersche Unterscheidung zu benutzen; oder mit Merleau-Ponty: es handelt sich um Gestalten, deren Seinsweise in dessen Hauptwerk „Phänomenologie der Wahrnehmung“ (1966) permanent zwischen dem, was

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auch als atmosphärische zu spüren, zu empfinden – und haben trotzdem einen Gehalt, der weit über das sinnlich Vorliegende hinausgeht.

2.6 Der gesellschaftliche Grund der Figurenmächte

Als nächstes kann gefragt werden, was diese Figurenmächte „sind“ und wodurch sie entstehen. In Bezug auf die Filme treten da soziale, psychologische und gesellschaftliche Faktoren auf, die sämtliche eine Rolle spielen. Damit kommen auch die politischen Räume in den Blick, die diese Figuren zu neben-sich-stellende Kräfte machen: Bei Billys Vater in „Billy Elliot“ von Stephen Daldry ist es die Welt des Arbeiterdorfes und die ökonomisch prekäre Situation, die seine Haltung und kantige Persönlichkeit prägen. Bei jedem Film könnten analoge entfremdende Faktoren herausgearbeitet werden, die ihre sichtbare Wirkung als neben-sich-stellende Figuren entfalten. So entsteht folgende Grundkonstellation von zwei Welten: die der handelnden Personen und die der sie prägenden und sie verhexenden Mächte; oder wie oben angedeutet in Shakespeares Sommernachtstraum die Welt der normal Sterblichen und die der sie nicht nur zum Guten beeinflussenden Götterwesen. Diese Opposition eröffnen die Kunstwerke allein durch ihre ästhetische Struktur. Sie werden bis in die narrativen Details hinein von diesen Kämpfen der Mächte selbst geprägt: Was passiert, wenn bei Scorsese das Schwummerige auf das Kantige trifft? Die Protagonist_innen sind gegen ihr besseres Wissen plötzlich in ein viel weitreichenderes Geschehen verwickelt, ohne dadurch ganz unfrei zu werden.

Wie dieser Streit der sinnlich-sozialen Mächte inszeniert wird, kann sich dann von Regisseur_in zu Regisseur_in unterscheiden. John Huston beispielsweise bringt es in „Die Spur des Falken“ (1941) fertig, zwei Mächte in einem einzigen Bild aufeinander prallen zu lassen. Die Frauenfigur, die die Treppe im Kreis herunterkommt, wird vom stereotyp-männlichen Blick vor der linienförmigen Jalouise erwartet. Aber oft sind es zwei Mächte, die je ihre eigene Bildstruktur aufweisen.

In Bezug auf die anfangs aufgeworfene Frage nach dem Umgang dieser Regisseure mit der Dimension der Raumtiefe drängt sich jetzt eine Antwort auf. Sie inszenieren gerade nicht eine volle Tiefe mit Gestaltstruktur, sondern je individuell abweichende Muster des Nicht-Eröffnens dieser Tiefe, die sich als Reflex des Neben-sich-stehens der Personen und der entfremdenden sozialen Kräfte erscheinen.

3. Zwei Arten von Utopie

Aber was bedeutet es, dass Kunst – analog zu den gesellschaftlichen Bedingungen – diese Menschen oft gefangen nimmt und das spontane gestalthafte in-Kontakt-mit-sich-seiende Wesen der Protagonist_innen trübt? Welche Formen von Befreiung oder sogar Erlösung von dieser Gefangenschaft sind denkbar? Hier eröffnen sich zwei strukturell verschiedene Möglichkeiten. Gemäß der ersten besteht eine solche Befreiung in der Verbindung oder Vereinigung der widerstreitenden Figurenmächte. So stehen sowohl bei Scorsese als auch bei Daldry oft die Kombination ihrer Figuren am Anfang und am Ende ihrer Filme, die eine Art von dialektischem Geschehen ausmachen, durch welches das, was von Anfang an skizziert ist, durch die Handlung voll entfaltet wird. So tauchen bei Scorsese etwa Bilder auf, in denen eine Kombination des Wolkigen-Diffusen mit dem Rechtwinkligen zu sehen ist, etwa zu Beginn der „Gangs of New York“, wo das Raster der Straßen von Manhattan mit den Wolken friedlich zusammen besteht. In „Raging Bull“ ist es der viereckige Ring des Boxers, der von Rauchschwaden umgeben ist; und so weiter. Zwei widerstreitende Prinzipien finden ein harmonisches Nebeneinander. Bei Bergman ist es oft eine vertikale Erscheinung in der Raumtiefe und in der Bildmitte, die die V-Diagonalen des Zweifelnden, Schrägen für einen Moment erlöst. In Daldrys Bildern des natürlichen Trampolin- und künstlichen Ballet-Sprunges, mit denen sein Film

„Billy Elliot“ anfängt und aufhört, finden Schräge und Aufrechte zu einem Ausgleich. Bei diesen

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Kombinations-Bildern handelt es sich aber nur um eine Erlösung der Kunst im Modus der Kunst. Die Figuren sind nicht mehr nur gegeneinander gerichtet.

Eine zweite radikalere Form von Befreiung oder Erlösung besteht darin, dass die Bilder ganz von der figuralen Prägung von entfremdenden Mächten befreit werden. So gibt es bei Scorsese in „Shutter Island“ Rückblenden von glücklichen Momenten, in denen der Raum sich wirklich in die Tiefe erstreckt und weder Kantigkeit noch Schwummerigkeit vorherrschen. In diesen Bildern werden die Protagonist_innen ganz von den sie verhexenden Mächten befreit, unter denen sie sonst leiden. Einige Künstler_innen erforschen auch direkt in ihrem Arbeiten diese erlösende Dimension: Giotto etwa in seiner Erkundung der Raumtiefe; oder ganz anders aber doch ähnlich Dickens in seinen Erzählungen sowie viele Jugendbuchautor-Innen, die von Anfang an die spielerischen Räume vor Augen haben, in denen Geborgenheit und Freiheit zusammenfallen. In diesen Fällen wird die Idee der Menschlichkeit selbst zum leitenden Thema.

Analoges kann aber auch in Improvisationsübungen und den theaterpädagogischen Räumen des

„applied theatre“ geschehen. Dann werden die Teilnehmenden an eine körperliche soziale Imagination angeschlossen, durch die wir die alltäglichen Bewegungsmuster und uns prägenden unterdrückenden sozialen Herrschafts-Strukturen sehen und hinter uns lassen können. Gender-stereotypisch gesehen tritt so dem dunklen männlichen Künstlergenie die befreiende Kunstpädagogin entgegen. Bloß verändert diese im wirklichen Leben und lässt Kunst als ein auch die Gesellschaft affirmativ unverändert lassendes Projekt der Warenproduktion innerhalb der bürgerlichen Moderne dastehen.

Improvisationen – wie viele Erscheinungsformen des „applied theatre“ – haben dagegen selten den Charakter von Waren. Deswegen handelt es sich bei ihnen auch oft um brüchige und flüchtige Momente, um Ausbruchs- und Einbruchsorte, denn die gesellschaftlichen entfremdenden Bedingungen haben sich durch sie ja nicht einfach aufgehoben. Daraus folgt dann auch das Bedürfnis vieler Theatermenschen, die mit solchen Improvisationen arbeiten und diese lebendige menschliche Energie wecken wollen, zugleich die Gesellschaft in ihren Strukturen zu transformieren (Boal 1994, Prentki 2009). Sie beschäftigen sich dann nicht nur mit dem Einrichten didaktischer sozialer Räume, in denen wir miteinander spielen und einander auf gleicher Augenhöhe begegnen können, sondern eben auch mit der Transformation des politischen Raumes als solchen. Er müsste sich in einen verwandeln, in denen wir uns kooperativ als Personen begegnen könnten und nicht in entfremdenden isolierenden Strukturen leben müssten, die viele in die radikale Abhängigkeit von wenigen Besitzenden bringt. Das wäre dann die wirkliche Utopie: dass solche sozialen Räume geschaffen werden, in denen ein menschlicher Blick möglich wird, indem jede und jeder in einen vollen gestalthaften Kontakt zu sich und in einen freien Austausch mit den Anderen finden kann; und zwar alle Kreaturen gleichermaßen. Damit entsteht eine Gesellschaft, in der jede auch daran beteiligt ist, einen Integritätsraum für den Anderen zu eröffnen und an einem gemeinsamen „Integritätsstoff“ zu weben, wobei diese Wertschätzung durch eine radikale Demokratisierung der Ressourcen auch an die Ausgestaltung ökonomischer Verhältnisse gebunden ist. Das Neben-sich-stehen wird nicht mehr als nur psychologische Maske gesehen und in Kunstwerken als sie prägende Figuren präsentiert, sondern als ungerechtfertigter Effekt sozialer politische Verhältnisse beschrieben – die transformiert werden können. Der Maßstab einer solchen Transformation kann insofern auch an Kunstwerken abgelesen werden, als sie, zwar in abweichender Form, die Ich-Du-Beziehung und den vollen Kontakt zu sich und einander hervorscheinen lassen, um den es in sämtlichen sozialen Räumen gehen sollte

Literatur

Alexander, F. M. (2001): Der Gebrauch des Selbst. Basel Boal, A. (1994): The rainbow of desire. London

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Fogel, A. (2013): Selbstwahrnehmung und Embodiment in der Körpertherapie. Stuttgart Fopp, D. (2011): Menschliche Räume. Malmö/Stockholm

– (2002/2013): ”Anwesen und Gestalt”, in: Thomä, Dieter (Hrsg.): Heidegger-Handbuch. Stuttgart, S.

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Johnstone, K. (1995): Impro. Improvisation und Theater. Berlin Menke, C. (1991): Die Souveränität der Kunst. Frankfurt

Merleau-Ponty, M. (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. München Prentki, T. u. S. Preston (2009): The applied theatre reader. London

References

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