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Das Bedeutungsfeld der Zeit in Volks- und Kunstmärchen:

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Das Bedeutungsfeld der Zeit in

Volks- und Kunstmärchen:

Eine literarische Vergleichsstudie zum Wandel des angewandten

Zeitbegriffs am Grimmschen Märchen „Die Sterntaler“ und

H.C. Andersens „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“

eingereicht von:

René Völzke

Juni 2020

Institutionen för slaviska och baltiska språk, finska, nederländska och tyska

Examensarbete för kandidatexamen i tyska ,15 hp Vårterminen 2020

Handledare: PH.D. Markus Huss Examinator: Dr. phil. Andrea Meixner

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Aufsatztitel: Das Bedeutungsfeld der Zeit in Volks- und Kunstmärchen: Eine literarische Vergleichsstudie zum Wandel des angewandten Zeitbegriffs am Grimmschen Märchen „Die Sterntaler“ und H.C. Andersens „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“

Verfasser: René Völzke Abstract:

Das Bedeutungsfeld der Zeit im literarischen Genre der zur Kurz-Epik hinzugehörenden Volksmärchen und Kunstmärchen wird in dieser literaturwissenschaftlichen Untersuchung in den Mittelpunkt gerückt. Ausgegangen vom aristotelischen Zeitbegriff, der Bewegung und Veränderung als unabdingliche Merkmale der Zeit postuliert, wird nach dem Unterschied des den Märchen der Brüder Grimm und H.C. Andersen jeweils zugrunde liegenden Zeitbegriffs der zeitlich aufeinanderfolgenden Autoren gefragt. Daraus ergibt sich eine durch die close reading Methode gestützte Untersuchung, wie sie die Zeit anhand eines Beispiels aus ihren Werken thematisch, stilistisch und narratologisch organisiert haben. Der strukturalistische Literaturtheorieansatz Gérard Genettes hilft dabei die Komposition aus erzählter Welt und Erzählwelt der Märchen zu begreifen und die Zeitorganisation der vorliegenden Werke nach Ordnung, Dauer und Frequenz zu unterscheiden. Der aus dem erkenntnistheoretischen Ansatz Käte Hamburgers entwickelte Begriff des Epischen Präteritums lenkt das Bewusstsein auch auf die zugrunde liegenden Rahmenbedingungen der epischen Fiktion in der Dichtkunst und verhelfen die zeitliche Ansprache an die Leser in die Untersuchung mit einzubinden. In der Untersuchung wird auch der Rhythmus als ein Wechselspiel der Zeit entdeckt und ihn als eine ihr dazugehörende Qualität erkannt und miteinbezogen. Als Beispiele wird das Volksmärchen „Die Sterntaler“ und Andersens „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ nach einem zwischen Form und Inhalt möglich kongruenten Zeitbegriff untersucht. Ein in dieser literarischen Auseinandersetzung entstehendes Begriffsnetz der sich gegenübergestellten Werke unterstützt die Annahme des kulturgeschichtlichen Wandels der Einstellung zur Zeit bei H.C. Andersen gegenüber der der Brüder Grimm und mag zur Diskussion und fortlaufenden Forschung der Literaturgeschichte im Detail beitragen.

Schlüsselworte:

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Inhaltsverzeichnis: Seite

1. Einleitung ...3

2. Hintergrund und theoretischer Rahmen ...6

2.1 Begriffsklärung: ...6

2.1.1 Zeit ...6

2.1.2 Begriffsklärung und Aspekte zum Genre: ...6

2.1.2.1 Märchen – Volksmärchen – mit Bezug auf die Brüder Grimm ...6

2.1.2.2 Kunstmärchen – mit Bezug auf H.C. Andersen ...8

2.2 Literaturtheoretischer Rahmen ...10

2.2.1 Gérard Genette ...10

2.2.2 Käte Hamburger ...11

3. Hauptteil: Analyse ...12

3.1 „Die Sterntaler“ (close reading) ...12

3.1.1 Der zeitliche Ablauf in der Geschichte ...13

3.1.2 Kreative Zeitstrukturen in der Erzählung ...14

3.2 „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (close reading) ...17

3.2.1 Der zeitliche Ablauf in der Geschichte ...18

3.2.2 Kreative Zeitstrukturen in der Erzählung ...19

4. Vergleich und Diskussion ...27

4.1 Die Zeit als Gestaltungselement ...27

4.1.1 Vergleiche an Hand des Theorieteils ...27

4.1.2 Aspekte zum Rhythmus als Gestaltungselement zwischen Form und Inhalt ...28

4.2 Das Bedeutungsfeld der Zeit – Zeitbegriff und literarischer Fußabdruck ...29

4.3 Diskussion und Imponderabilien ...32

4.4 Eine tabellarische Gegenüberstellung der Untersuchungsergebnisse ...33

5. Zusammenfassung und Schlusswort ...34

6. Bibliographie ...35

6.1 Primärliteratur...35

6.2 Sekundärliteratur ...35

7. Anhang ...37

7.1 Verwendete Märchentexte ...37

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Das Räumliche können wir wahrnehmen und damit auch vorstellen, während wir die Zeit, die »Anschauungsform des inneren Sinnes«, nicht wahrnehmen und vorstellen, sondern nur wissen, d.h. sie nur in begrifflicher Weise zum Bewußtsein bringen können. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung 1

1. Einleitung:

Raum und Zeit sind die zwei ungleichen Grundfesten, auf die sich unser Dasein stützt. Soweit es überhaupt möglich ist beide getrennt anzuschauen, denn das eine bedingt das andere in unserer Welt, lässt sich sagen, dass das erste uns Sicherheit in der Anschauung der Leiblichkeit, in der Physis vermittelt. Das Zweite ermöglicht es, wie schon aus Aristoteles‘ Überlegungen zur Physik herauszulesen ist, uns zu verändern, uns zu bewegen und zu handeln. Er räsonierte, „daß ohne Bewegung und Veränderung Zeit nicht ist“.2 Dieser zweite so schwer zu erfassende

Grundpfeiler unserer Welt, die Zeit, Aristoteles umschreibt den Zeitbegriff verkürzt in einer Negation, hat die Natur- und Geisteswissenschaften durchgehend bis heute beschäftigt, da wie Käte Hamburger in ihrer Logik der Dichtung bemerkt, wir „sie nur in begrifflicher Weise zum Bewußtsein bringen können“. Er liegt dieser Untersuchung als Sujet zu Grunde.

Auf der Ebene der Literaturkunst im Bereich der Fiktion wird die Zeit als Rahmen und als Bedeutungselement des literarischen Geschehens immer wieder neu interpretiert, geformt und dem jeweiligen Oeuvre spielerisch auf mannigfaltigste Weise einverleibt. Besonders in der Epik hat die literaturwissenschaftliche Forschung die Vielschichtigkeit des Themas Zeit quantitativ und qualitativ entdeckt. In erster Linie wird die Zeit hier als eine mit Anfang und Ende gestaltete Zeitspanne eines Handlungs- und Erzählverlaufes untersucht, aber auch Rhythmusstrukturen und Dauer des Seins sind qualitative Elemente ihrer Betrachtung.

Einen für die folgende Untersuchung hilfreichen Blickwinkel auf die Zeitgestaltung in der Epik liefern die auf die Formalisten folgenden Strukturalisten. Insbesondere im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, im Deutschen mit Eberhard Lämmert und weiterführend mit dem Franzosen Gérard Genette, ist das Element der Zeit unter den Aspekten, was und wie erzählt wird, als Gestaltungsstruktur eines Textes immer weiter erkannt und aufgefächert worden.3

Namentlich Genette, der, wie Jochen Vogt, Herausgeber seiner deutschen Übersetzung Die

1 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1977, S. 107.

2 Aristoteles: Philosophische Schriften. Band 6. Physik, Vorlesung über Natur, übersetzt von Hans Günter

Zekl, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2019, S. 119.

3 Matías Martínez: Klassiker der Modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler,

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Erzählung bemerkt, in Deutschland nur verhalten Zustimmung gefunden hat4, verhilft in dieser

Arbeit Erzählstrukturen mit Bezug auf die Zeit aktuell zu benennen.

Käte Hamburger beleuchtet ihrerseits das Zeiterleben des Lesers im Genre der Fiktion mit einem durch Goethe inspirierten erkenntnistheoretischen Denkansatz. In ihrer Die Logik der Dichtung (1977) hat sie unter dem Aspekt „Ursprungspunkt des Erlebens“ Auffälligkeiten der angewendeten Zeitformen der Verben in fiktionalen Werken der Dichtung untersucht und deren grammatische Anwendung mit dem Begriff des epischen Präteritums neu gegriffen.5 Genette

und Hamburger werden mit ihren gegenwartsnahen, unterschiedlich theoretischen Ansätzen für diese Untersuchung einander ergänzend akzentuiert herangezogen.

Lange vor dieser detaillierten Bewusstseinsarbeit in der Literaturwissenschaft, in der Zeit der Romantik, haben die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm ihren Herzenswunsch verwirklicht, die oft nur in mündlicher Tradition überlieferten alten Volkssagen vor dem Vergessen zu bewahren und aufzuschreiben. Ihr Anliegen, diesen Schatz der Vergänglichkeit zu entreißen und ihm Dauer zu verleihen, spiegelt eine der wesentlichen Tendenzen dieser Literaturepoche, Antikes universell zu machen, wider. In diesem kollektiven Vermögen der Vergangenheit sehen sie, laut ihrer Vorrede zur Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen (KHM) von 1819, Formen „eines einmal dagewesenen Urbildes“6 von Mythen und Erzählungen, die sie als „Samen für

die Zukunft“7 weitergeben wollen. Wie ist es ihnen gelungen, dass weltweit das bekannteste

Oeuvre der deutschsprachigen Literatur immer noch die von ihnen vor 200 Jahren aufgeschriebenen Kinder- und Hausmärchen sind und dieser „Same“ sogar als Stoff für die Produktion in den Medienwelten, angefangen von Paul Lenis Stummfilm Dornröschen8 von

1917 bis zum Gretel & Hansel9 Horrorfilm vom Januar 2020, genutzt wird und ankommt? In

ihrer Vorrede von 1819 berichten die Brüder Grimm von ihrer Intention den ursprünglichen Charakter der Märchen mit Hilfe ihrer wissenschaftlichen Vorarbeit zu erhalten und getreu den Originalen aufzuschreiben. Später modifiziert, wie aus der Literaturrecherche Hans-Jörg Uthers zu entnehmen ist, zumindest Wilhelm diese Aussage zur Ausarbeitung der Märchen in dem Anmerkungsband zur Ausgabe der KHM von 1856 mit Formulierungen wie: „in unserer Weise

4 Gérard Genette: Die Erzählung, München 1998 [2016], S. 273. (Jochen Vogt hat im Nachwort der dritten

Auflage der Übersetzung bemerkt „[d]ass der Rhein bisweilen schwieriger zu überqueren ist als der Atlantik – jedenfalls für Bücher und Ideen“.).

5 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1977, S. 83. 6 Grimm: „Vorrede“, Kinder- und Hausmärchen, 1819, S. 22. 7 Ebd., S. 15.

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umgeschrieben“ oder „nach meiner Weise aufgefaßt“ und „ausgearbeitet“, was laut Uther „immer eine kräftige sprachliche und vor allem inhaltliche Bearbeitung“ bedeutet.10 Daraus

lässt sich mutmaßen, dass es auch an Wilhelms Formgefühl und Einsatz gelegen haben mag, dass die Texte heute noch zugänglich sind und gelesen werden. Eine Vertiefung dieser Hypothese würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Sie ist anstelle hinführend zur ersten Teilfrage der zentralen Thematik dieser Arbeit: Wie haben die Grimms das Element der Zeit in ihren Märchen verarbeitet?

Während insbesondere noch Wilhelm Grimm an den Formulierungen der Texte weiter feilt, beginnt schon eine neue Literaturepoche, die des Biedermeier und Vormärz sowie die Anfänge des Frührealismus. Das Aufschreiben alter Volksmärchen verliert seine Bedeutung, und an seine Stelle in der Klassifizierung der Kurz-Epik bekommt das Kunstmärchen übergangsmäßig mehr Gewicht. Neues vom Hier und Jetzt wird in dem Erzählstoff aufgegriffen und mit Tradiertem vermischt. Einer der bekanntesten Schriftsteller dieses Genres in der europäischen Kultur ist Hans Christian Andersen aus Dänemark.11 Er hat die erzählte Welt der Phantasie

durch seine Erzählweise mit der rationalen Welt der Zuhörer bewusstseinsmäßig in Berührung kommen lassen. Während die Brüder Grimm im Einklang mit dem in der gleichen Zeitepoche lebenden Novalis eine imaginäre Zauberwelt außerhalb der „gezählten Zeit“12 einen Raum

geben, nimmt Andersen in seine Märchengestaltung eine konkrete Zeit auf, zum Beispiel mit einem Datum wie den Neujahrsabend. Er lockert in Zeiten der mit sozialen Umbrüchen und Unsicherheiten einhergehenden Industrialisierung die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit und lässt die Leser in seinen Geschichten oft fühlbar Bezug zu sich selbst und der sie umgebenden Umstände nehmen.

Wie haben diese zwei zeitlich aufeinanderfolgenden epischen Größen des 19. Jahrhunderts die Zeit als Gestaltungs- und Bedeutungselement in ihrem Oeuvre verstanden und wie haben sie es in ihren Märchen, ihrer Erzähltechnik verwirklicht? Fragen, die eine große Spannbreite innerhalb der Forschung benötigen und die in diesem Bearbeitungsrahmen nur angedeutet und in den zu untersuchenden Einzelwerken vertieft werden. Kann man aus ihren Märchen einen von ihnen implizierten Zeitbegriff herauslesen und wie unterscheiden sie sich

10 Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm, eBook 2010, S.

509.

11 Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen, Stuttgart 1985, S. 245.

12 Anm. vom Verf.: als Referenz siehe hierzu auch das Gedicht von Novalis aus der Romantik: „Wenn

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voneinander? In der vorliegenden Arbeit werden diese Fragen in einer literarischen Vergleichsstudie in einem close reading an Hand zweier Märchen mit einer in der histoire ähnlicher Zeitthematik, dem Grimmschen „Die Sterntaler“ und Andersens „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ unter literaturwissenschaftlichen Aspekten untersucht. Diese Fragen stehen sich wie ein Form-zu-Inhalt Verhältnis gegenüber. Ergibt sich daraus noch ein Drittes, eine kongruente Ästhetik des Zeitbegriffs in ihrem Werk?

2. Hintergrund und theoretischer Rahmen 2.1 Begriffsklärungen:

2.1.1 Die Zeit

Der Begriff Zeit kann wissenschaftlich aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Im Deutschen Universalwörterbuch des Duden besagt der erste Eintrag, dass das Wort aus dem Althochdeutschen stammt und etwas „Abgeteiltes“ bezeichnet. Darauf folgt der Eintrag: „Ablauf, Nacheinander, Aufeinanderfolge der Augenblicke“.13 Etwas Abgeteiltes impliziert

eine quantitativ messbare Länge mit Anfang und Ende. Aristoteles weiß es als Qualität auszudrücken, wenn er sagt, „dass ohne Veränderung und Bewegung Zeit nicht ist“.14 Zeit

ermöglicht erst Veränderung und Bewegung und bildet damit die Voraussetzung zum Handeln und die Möglichkeit zur menschlichen Entwicklung. Der Faktor Zeit ist damit ein wesentliches Element in der Pädagogik und auch in der Literatur. In der Literatur, besonders in der Epik, interessieren Zeitabläufe, Veränderungen, Entwicklungen und werden als Stoff verarbeitet. Wie mit der Zeit für das Leseerlebnis thematisch, stilistisch und narratologisch in den vorliegenden Märchen umgegangen wird, ist Aufgabe dieser Untersuchung, deren Ergebnis zu einer Beschreibung eines literarischen Fußabdrucks der jeweiligen Autoren führt.

2.1.2 Begriffsklärung und Aspekte zum Genre:

2.1.2.1 Märchen – Volksmärchen – mit Bezug auf die Brüder Grimm

Der Begriff Märchen stammt, laut dem Herkunftswörterbuch des Dudenverlags, von dem veralteten „Grundwort Mär(e)“ und bedeutet „Erzählung [(]ohne Bindung an historische

13 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 5. Überarbeitete Auflage, Mannheim 2003. „Zeit“: [...] [mhd., ahd.

zīt, eigt. = Abgeteiltes, Abschnitt]: 1. ‹o. Pl.› Ablauf, Nacheinander, Aufeinanderfolge der Augenblicke, Stunden,

Tage, [...].

14 Aristoteles: Philosophische Schriften. Band 6. Physik, Vorlesung über Natur, übersetzt von Hans Günter

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Personen oder an bestimmte Örtlichkeiten[)], fantastische Dichtung; erfundene Geschichte“.15

Mit der wissenschaftlichen Art der Erarbeitung und Herausgabe, der von den Brüdern Grimm gesammelten Volksmärchen, den KHM, etabliert sich aus den mit Makel behafteten erfundenen Geschichten, vom Ammen- oder Lügenmärchen, der einstigen Mär, die hochdeutsche Form des Diminutivs Märchen und wird zu einer geachteten Literaturform innerhalb der Kurz-Epik. Hier wird zunächst zwischen Volksmärchen und Kunstmärchen unterschieden. Auf letzteres wird im nächsten Abschnitt eingegangen. In der Einleitung zu Märchen und Moderne umschreibt Hans Eichler den Handlungsrahmen dieser Literaturgattung, mit Verweis auf Max Lühtis Buch Märchen, wie folgt:

Das Märchen ist handlungsorientiert, aber in seiner Handlung eindimensional, das heißt es gibt keine Nebenhandlungen und in der Regel auch keine Abweichung von einer geradlinigen Handlungsführung. Episode reiht sich an Episode ohne größere Vor- oder Rückgriffe des Erzählers. Die Erzählperspektive ruht beständig auf dem Märchenheld.16

Eichler bzw. Lühti charakterisiert den zentralen Fokus auf den Protagonisten und die Eindimensionalität in der Zeitabfolge der Geschichte als typische Merkmale des Volksmärchens. Diesen Eindruck der Einfachheit in den Volksmärchen nennt Jacob Grimm „Naturpoesie“ im Gegensatz zur individualisierten Dichtung, der „Kunstpoesie“ der Dichter.17

Der Literaturwissenschaftler André Jolles macht diesbezüglich in seinem Werk Einfache Formen auf einen Briefwechsel zwischen Jacob Grimm und Achim von Arnim um 1811 aufmerksam. Darin beschreibt Grimm den Unterschied: „die Volkspoesie tritt aus dem Gemüth des Ganzen hervor; was ich unter Kunstpoesie meine, aus dem Einzelnen“.18 Der Disput geht

dahin, dass Arnim Grimm hinterfragt, ob denn vom Autor keine Veränderung der Texte vorgenommen werden dürfe. Grimm verteidigt sich zunächst und sagt, dass nur Kunstpoesie eine „Zubereitung“, Naturpoesie aber ein „Sichvonselbstmachen“ sei.19 Er muss dann im

Verlauf indirekt zugeben, dass es unmöglich sei, die genauen Formen des Erzählten zu übernehmen ohne selbst daran zu formen, stellt aber seine Treue zu der zu erhaltenden Form

15 Duden, Das Herkunftswörterbuch, Etymologie der deutschen Sprache. 5. neu bearbeitete Auflage. Berlin

2014.

16 Thomas Eichler (Hg): Märchen und Moderne, Fallbeispiele einer intertextuellen Relation, Münster

1996, S. 8.

17 André Jolles: Einfache Formen, 1930 [1968] [eBook 2011], S. 221. 18 Ebd., S. 221.

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und den Inhalt der Märchen nicht infrage.20 Schon in der Einleitung wurde deutlich, dass die

Grimms, insbesondere Wilhelm Grimm den Märchenstoff gründlich durchgeformt haben müssen. Dennoch oder gerade deshalb ist das „Sichvonselbstmachen“ Grimms eine Formqualität der Volksmärchen, dass Jolles in Einfache Formen als Beweglichkeit in der Welt, als Belassen in der Allgemeinheit und als eine „Jedesmaligkeit“ zusammenfasst.21 Der

Märchenforscher Lühti bezieht die Beweglichkeit der Märchen auch auf den Stil Wilhelm Grimms, dass er „nicht nur zeitbedingt und persönlich ist [...], sondern in einem gewissen Grad überzeitlichen Bedürfnissen entspricht.“22 Diese Aussage kann zweifach gedeutet werden, zum

einen, dass die Grimms sich zeitlich begrenzten Modeerscheinungen des Schreibens enthalten haben und zweitens, dass die Märchen in dem Leser eine der Zeit unabhängige Schicht berühren könnte. Daraus ergibt sich eine Komposition des Zeitbegriffs für die Volksmärchen, die sich aus einer zeitlich geradlinigen Handlungsführung ohne viel vor und zurück und so allgemein gehalten, von einer ewig zu scheinenden möglichen „Jedesmaligkeit“, bis zu einer Zeitunabhängigkeit zusammenfügt.

2.1.2.2 Kunstmärchen – mit Bezug auf H.C. Andersen

Ein wesentlicher Unterschied von Volks- zu Kunstmärchen kann schon aus dem oben erwähnten Briefwechsel zwischen Jacob Grimm und Achim von Arnim herausgelesen werden, in dem Grimm die Entstehungsweise der Volks- und Kunstpoesie als aus kollektiven beziehungsweise aus Einzelbewusstsein Entstandenem zu differenzieren weiß. Aus der heutigen Märchenforschung bestätigt Jens Tismar Grimms Aussage, dass das wesentliche Merkmal der Kunstmärchen gegenüber den Volksmärchen darin liegt, dass diese einen bestimmten Verfasser haben, die anderen anonymer Herkunft sind.23 Dabei dienen die Inhalte

der Volksmärchen mit ihrer entwickelten Fiktionsbreite des Stoffes, die Volker Klotz „ein Wundergeschehen, das keiner Begründung bedarf – befreit von den Zwängen der Wahrscheinlichkeit“ nennt, den Kunstmärchen als Sprungbrett in die phantastische Welt.24 Der

Schriftsteller bedient sich ihrer und verknüpft sie mit der jeweiligen Gesellschafts- und Zeitströmung in der er lebt, um einen Gegenwartseffekt und oft auch -spiegel hervorzuzaubern.

20 André Jolles: Einfache Formen, S. 226. 21 Ebd., S. 234.

22 Max Lühti: Märchen, zehnte Auflage, Sammlung Metzler, Band 16, bearbeitet von Heinz Rölleke.

Stuttgart 2004, S. 54.

23 Jens Tismar: Das deutsche Kunstmärchen des zwanzigsten Jahrhunderts, Germanistische Abhandlungen

Band 51. Stuttgart 1981, S. 1.

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Die Volksmärchen sind „ahistorisch“ schreibt Tismar, die Kunstmärchen sind Schöpfungen einer bestimmten Zeit und sind der Gefahr ausgesetzt sich durch die mögliche Anlehnung an das Muster der Volksmärchen in „literarischen Innovationen“ zu erschöpfen, an der die Leser ermüden könnten.25 Die Antwort auf diese Gefahr liegt im Bedürfnis und Willen zur

Eigenständigkeit der Autoren, die eine Individualisierung des Erzählstoffes und der Erzähltechnik gegenüber dem Oeuvre der Volksmärchen erarbeiteten.

Thematisch liegen die Kunstmärchen in der Zeit Andersens erstens zwischen dem, „daß Wünsche erfüllt werden“, also Reise, beziehungsweise dem Bewegungsanteil des aristotelischen Zeitbegriffs und zweitens in dem „ins Lot kommen, was zur Zeit verquer oder mangelhaft erscheint“.26 Die Veränderung als zweites aristotelisches Charakteristikum der Zeit

ist in den Andersen Märchen modifiziert, die Anteile der Veränderung sind weniger aktive Wandlung, sondern sie haben mehr Wunsch- und Erlebnischarakter. Dies bestätigt auch Klotz, wenn er bemerkt, dass das Erlebnis, das „eventyr“,27 wie Andersen seine Märchen im

Dänischen betitelt, „der Reiseweg“28 ist, welcher sich typisch am Beispiel des „Häßlichen

jungen Entlein[s]“ oder des „Däumelinchen[s]“ beobachten lässt und „gleichermaßen räumlich wie zeitlich verfolgt“ wird.29 Andersens „eventyr“ sind am aristotelischen Zeitbegriff orientiert,

anteilig mehr auf der Bewegungs- und Erlebnisseite zu Hause, während die Grimmschen KHM mehr durch ihre Wandlungsthematik bekannt sind. Als ein typischer Vertreter der Kunstmärchen individualisiert Andersen die Geschichte in der Erzählwelt. Er entwickelt seinen bekannten Erzählstil, in dem er zuweilen durch kleine Ausrufe oder Zwischenbemerkungen eines zuweilen anmutenden homodiegetischen Erzählers von dem narratologischen Modus in den dramatischen Modus zu wechseln scheint und eine gefühlte Unmittelbarkeit, ein gesteigertes Miterleben am Geschehen im Zuhörer hervorzuruft.30 In Andersens Erzählstil31

wird deutlich, wie er mit den noch zu erläuternden Ebenen der „erzählten Welt“ und der

25 Jens Tismar: Das deutsche Kunstmärchen des zwanzigsten Jahrhunderts, S. 1. 26 Ebd., S. 1.

27 Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen, Stuttgart 1985, S. 387, Anmerkung 1. 28 Ebd., S. 253.

29 Ebd., S. 253f.

30 Ebd., S. 246. Anm. vom Verf. der Arbeit: Klotz spricht vom „affektiven Wechselstrom“, in dem

Andersen lebt, weil er sich in die erzählte Welt und in die Erzählwelt des Vortragens zeitgleich hineinversetzen kann.

31 Anm. vom Verf. der Arbeit: Ein weiteres stilistisches Erzählmerkmal Andersens ist, dass die

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„Erzählwelt“ Gérard Genettes im Erzählen spielt, während die Brüder Grimm in Zeiten der Romantik darauf geachtet haben, die „Erzählwelt“ für den Zuhörer wie unbewusst zu lassen, um dem Leser dadurch eine andere Unmittelbarkeit des Erlebens, ein Hineinträumen in die „erzählte Welt“ zu sichern.

2.2 Literaturtheoretischer Rahmen 2.2.1 Gérard Genette

Gérard Genette übernimmt zunächst die entdeckten Strukturen seines zeitlich früheren Kollegen Tzvetan Todorov und unterscheidet das Wie von dem Was, die Erzählung „discours“ (Diskurs) von der erzählten Welt, der „histoire“.32 Darüber hinaus differenziert er den Diskurs

Todorovs in eine Erzählaussage und einen narrativen Akt.33 Diese erweiterte Aufteilung der

Darstellungsseite in eine narrative Aussage der Erzählung und in einen narrativen Akt, der Narration und Stimme des Erzählers, ist für das angestrebte Verstehen von Andersen hilfreich, nicht aber für die schlichtere Erzählart Grimms. Sie verbleibt deshalb für die Suche nach einer vergleichbaren Schnittmenge der Begrifflichkeiten in der angewandten Zeitgestaltung in den hier zu untersuchenden beiden Märchen nur von marginaler Bedeutung. Genette strukturiert in seiner Erzähltheorie die drei genannten Bereiche und verwendet folgende Begriffe:34

histoire, das Erzählte discours, das Erzählen discours, das Erzählen

narrativer Inhalt narrative Aussage narrativer Akt

Ereignis Darstellung Erzählsituation

die Geschichte oder die Diegese die Erzählung Narration

Für diese Arbeit relevant erscheinen die wesentlichen Bezugsmomente für die Aspekte der Zeit zwischen der nach Genette benannten Erzählung und der Geschichte zu liegen. Zur weiteren Differenzierung übernimmt Genette die schon von Todorov angewendeten Begriffe und nuanciert die Untersuchungen zur Darstellung des Erzählens folglich in Zeit, Aspekt und Modus.35 In dieser Aufgabenstellung ist der Fokus auf die Zeit und vornehmlich auf das

Wechselspiel zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit gerichtet. Die Zeit strukturiert Genette in Ordnung, Dauer und Frequenz, wobei er unter Ordnung zwischen synchronischen,

32 Matías Martínez: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999 [2016] S. 26. 33 Gérard Genette: Die Erzählung, 1998 [2016], S. 11f.

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anachronischen und achronischen Erzählen der Zeitabläufe in der erzählten Welt unterscheidet.36 Die Dauer beleuchtet vergleichsweise die Geschwindigkeit zwischen

Erzähltem und der Erzählung, in der zeitdeckend erzählt werden kann, wie beim Moment, in dem das Mädchen das erste Schwefelholz anzündet oder in der zum Beispiel eine Zeitraffung oder ein Zeitsprung im Erzählen der Diegese stattfindet. Das Instrument der Frequenz setzt Genette ein, um auf singulatives, repetitives oder iteratives Erzählen, hinzuweisen.

2.2.2 Käte Hamburger

Ergänzend zu den dargestellten literaturtheoretisch erarbeiteten Zeitstrukturen Genettes hat Käte Hamburger mit ihrem erkenntnistheoretischen Ansatz Unterschiede zur Anwendung des Verbs in der fiktionalen und faktionalen Epik beschrieben und herausgestrichen. Hamburger macht noch einmal anders auf das in der Zeit eingebundene Leseerlebnis aufmerksam und sagt in ihrer Literaturkritik Die Logik der Dichtung, dass es „im Satze, in der Rede das Verb [ist], das über die „Seinsweise“ von Dingen und Personen [in der Zeit] entscheidet [... und ...] aussagt“.37 Anders als in faktualen Texten lässt sich der Gebrauch des Tempus in die Fiktion

nicht Eins-zu-Eins übertragen. Sie schließt sich Erich Auerbachs Verteidigung des aristotelischen Begriffs der Mimesis an und schlussfolgert, dass es sich in der Kunst der Fiktion nicht um eine Nachahmung der Natur handelt, sondern um eine neue „dargestellte Wirklichkeit“.38 Sie hinterfragt dann, ob das Präteritum immer „Ausdruck vergangenen

Geschehens sein“39 muss und räsoniert weiter, dass „das Vergangensein [...] keine

wahrnehmbare Eigenschaft [ist], es ist begrifflich, durch Daten bestimmt, gewußt.“40 Durch

Hamburger wird der Unterschied zwischen der erlebten Rede in der fiktionalen zur faktualen Erzählung herausgearbeitet. Sie bemerkt, dass das Geschilderte in der Fiktion in dem

36 Gérard Genette: Die Erzählung, 1998 [2016], S. 17-102. Ordnung: S. 17-52, Anm. vom Verf. der Arbeit:

(Für diese Untersuchung relevant: die Anachronie, sie bedeutet eine Umstellung der chronologischen Ereignisfolge in der Erzählung). Dauer: S. 53-71, Frequenz: S. 73-102.

37 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1977, S. 59. 38 Ebd., S, 17.

39 Ebd., S. 60.

40 Ebd., S. 76. Anm. vom Verf. der Arbeit: Dazu legt sie Textbeispiele der deutschen und internationalen

fiktionalen Literatur vor, in der die „logisch grammatischen Gesetze ihre Gültigkeit verloren haben“ („Am Vormittag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen war Weihnachten.“ (aus: Alice Berend, Die

Bräutigame der Babette Bomberling, 1977, S. 65). Dies begründet sie damit, dass in der Fiktion das

Aussagesubjekt, die „Ich-Origo“, einen Ausdruck, den Hamburger von Brugmann und Bühler übernimmt, „als strukturelle[r] Faktor der Wirklichkeit“, fehlt (Hamburger, S. 62f). Dies ist nach Hamburger

kennzeichnend für die Fiktion, dass anstelle einer realen Ich-Origo eine oder mehrere fiktive Ich-Origines gesetzt sind, die bezugsmäßig mit einem „realen Ich, dem Verfasser oder dem Leser,

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Erlebnisfeld des heterodiegetischen41 Erzählers keine Wirklichkeit hat und dass das „Auftreten

der fiktiven Ich-Origines [...] der Grund dafür [ist], daß die reale Ich-Origo [des Erzählers] verschwindet und zugleich, als logische Folge, das Präteritum seine Vergangenheitsfunktion ablegt.“42 Dies kann insbesondere bei der Anwendung der „Verben der inneren Vorgänge

[durch die Nullfokalisation in eine dritte Person,] wie denken, sinnen, glauben“ bemerkt werden.43 Der Leser erlebt die Fiktion in seiner Vorstellung im Jetzt, dem „Ursprungspunkt des

Erlebens“ (s.o.), obwohl sie im Präteritum geschrieben ist, welches nun den Unterschied zum Jetzt der externen realen Welt markiert.44 Hans Robert Jauß spricht in seinem Ursprung und

Probelematik des Modernen Zeitromans vom epischen Präteritum als von der „epischen Distanz“, des Erzählers, mit der dieser seine Einstellung zum Erzählten kundgibt.45 Auch Jauß

bestätigt in seiner Forschung die veränderte grammatische Bedeutung des epischen Präteritums. Während mit Genettes Hilfe die innerhalb der Fiktion gelegten Zeitstrukturen herausgearbeitet werden können, kann mit Hamburgers Denkrichtung auch die gestaltete Zeit der Übergänge des Ein- und Ausstiegs aus und in die fiktive Welt in die Untersuchung des Leseerlebnisses miteinbezogen werden.

3. Hauptteil: Analyse 3.1 „Die Sterntaler“

Das zu den Kinder- und Hausmärchen gehörende „Die Sterntaler“ der Brüder Grimm ist in der Erstausgabe 1812 der KHM noch unter dem Titel „Das arme Mädchen“ bekannt geworden und hat große Beliebtheit bei den Lesern erlangt.46 In der ersten revidierten Ausgabe 1819 erhält es

41 Anm. vom Verf. der Arbeit: Hamburger unterscheidet zwischen Er-Erzählung (zu der „Die Sterntaler“

und „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ gehören) und Ich-Erzählung, letztere unterliegt noch anderen Gesetzmäßigkeiten als die Er-Erzählung, sie bewegt sich zwischen Epik und Lyrik: siehe Hamburger, S. 246.

42 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, S. 67. 43 Ebd., S. 72f „die Ich-Originalität einer dritten Person“.

44 Anm. vom Verf. der Arbeit: In der Beschreibung der Fiktion unterscheidet sich Hamburger begrifflich

von H. Vaihingers 1911 herausgegebenen „Philosophie des Als Ob“ in der Vaihinger von Personen in der Dichtkunst als fingiert spricht, während Hamburger den Ausdruck fiktiv verwendet mit der Begründung, dass die Fiktion in der Literatur keine Als Ob-Struktur besitzt, sondern eine Als-Struktur. Die Dichtkunst ist also keine Täuschung, sondern sie spiegelt ein Teil der Wirklichkeit wider, sie ist Schein der

Wirklichkeit. Sie ist Kunst. Damit schlägt Hamburger die Brücke zur Begründung ihres entdeckten „epischen Präteritums“, dass der Leser trotz des Imperfekts eine fiktive Erzählung als im Jetzt erleben kann (Hamburger: S. 54f).

45 Hans Robert Jauß: „Ursprung und Problematik des modernen Zeitromans“ aus: Zeitgestaltung in der

Erzählkunst. Hrg. Alexander Ritter, Darmstadt 1978, S. 113.

46 Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Entstehung –

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dann seinen jetzigen Titel und wird seitdem unter der KHM-Nummer 153 geführt. Die Geschichte ist laut Uther teilweise von Jean Pauls Dichtung übernommen, teils unter Achim von Arnims Einflüssen weitergestaltet.47 In den Anmerkungen der Brüder Grimm zu den

Märchen ist zu lesen: „Nach dunkeler Erinnerung aufgeschrieben, möge es jemand ergänzen und berichtigen.“48 „Die Sterntaler“ ist also kein Märchen, welches mit einer starken eigenen

Form in die Hände der Brüder Grimm gekommen ist, sondern es ist von ihnen weiter entwickelt und geformt worden. Dadurch ist zu vermuten, dass es, auch wenn es mit nur 296 Worten in elf Sätzen sehr kurz ist, die Handschrift der Autoren trägt und an ihm einiges über den verwendeten Zeitbegriff der Grimmschen Dichtung abzulesen ist.

3.1.1 Der zeitliche Ablauf in der Geschichte

Die histoire oder die Geschichte, um mit Genettes Begrifflichkeit anzufangen, beginnt im ersten Satz mit „Es war einmal“ und erzählt dann von der Vergangenheit der Protagonistin. Ihre Eltern sind gestorben und sie steht ohne Hab und Gut, nur mit dem was sie auf dem Leibe hat und in der Hand hält, da. Es gibt zunächst keine weiteren konkreten Zeitangaben. Mit dem Hinausgehen des Mädchens ins Feld wird Tageszeit impliziert. Die Handlung beginnt. Die vier ersten Begegnungen und die jeweils dazwischenliegende Wanderung des Mädchens kann der Leser unausgesprochen als kursorisch beschriebenen Zeitverlauf verstehen. Erst in der zweiten Hälfte des Märchens wird eine Zeit mit „und es war schon dunkel geworden“ erwähnt und somit der Abend und die hereinbrechende Nacht als Zeit indiziert. Mit dem Sternfall wird Nacht signalisiert. Das Ende im Spiegelbild zum Anfang der Geschichte bedeutet unbestimmte Zeit bzw. verweist mit „und war reich für sein Lebtag“ auf eine der Protagonistin eigene Zeit hin, ihre Lebenszeit, die sie mit den Lesern nicht weiter teilt. Der Verlauf des Märchens spielt sich bis zum letzten Satz innerhalb eines Tages ab. Anfang und Ende liegen zeitlich außerhalb der Geschichte, womit für das Erleben der Märchenwelt eine unbegrenzte Zeit, Dauer angedeutet und gegeben wird. Neben den spärlich gesäten äußeren Zeitangaben gibt es in der Geschichte auch einen Hinweis auf einen implizierten inneren Zeitbegriff des Mädchens. Im neunten Satz wird ihr Gedanke zitiert: „Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben“. Sie hat keine Zukunftsängste, dass sie doch gesehen werden könnte. Sie gibt ihr Brot und alle Sachen weg. Sie lebt im Vertrauen ganz in der Gegenwart, in der Dauer des Jetzt.

47 Hans-Jörg Uther: eBook: 2008 [2010], S. 319f.

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3.1.2 Kreative Zeitstrukturen in der Erzählung

Der Diskurs oder die Erzählung, beginnt zeitlich, wie schon erwähnt, mit den sprachlich wohl bekanntesten Märchenanfängen „Es war einmal“. Der Leser wird mit diesen Worten in seinen Gedanken aus der Gegenwart der ihm äußerlich umgebenen Welt heraus geleitet und findet sich wie im Traum in einer anderen Zeit, beziehungsweise in einer Zeitlosigkeit wieder, in der nach Hamburger auch das für die Verbform verwendete Präteritum nicht mit der Zeit einer faktualen Vergangenheit identisch ist. Das Wort „einmal“ impliziert dennoch ein einmal Dagewesenes also eine Vorzeit, das sich aber mit seiner Unbestimmtheit nicht in die faktuale Zeitrechnung einbeziehen lässt. Dieser Beginn bedeutet auch Abstand und Überblick, die Nullfokalisation eines heterodiegetischen Erzählers zur Geschichte. In diese fiktionale Zeit wird gleich zu Beginn, mit Hilfe des Plusquamperfekts, die Tatsache der verstorbenen Eltern eingeflochten. Sie liegt in einem zeitlich unbestimmten Vorraum der Geschichte und bedeutet, um Genettes Begriff der Ordnung anzuwenden, ein zeitlicher Rückgriff, eine externe Analepse außerhalb der Erzählzeit. Aus der kurzen Retrospektive entsteht dann das Verständnis des Lesers für die Ursache der Ausgangsposition der Protagonistin, welches im Verlauf des ersten Satzes noch durch weitere in Analepsen aufgezählten Attribute gestützt wird. Die Vorgeschichte zum Handlungsverlauf endet am Schluss des ersten Satzes mit der Bemerkung, dass ihr ein Stückchen Brot geschenkt worden war. Mit dem zweiten Satz des Märchens, „Sie war aber gut und fromm.“, verweilt die Erzählung noch einen Moment in der Zustandsbeschreibung der Protagonistin. So tritt zeitlich im Erzählen eine Verzögerung der Handlung ein, welche mit Genettes Begriff der Dauer zusammenhängt, bevor der Diskurs mit der räumlichen Bewegung des Mädchens nach draußen im dritten Satz in den mittleren Block der Narration übergeht. Mit dem temporalen Hinweiswort „da“ zu Beginn des vierten Satzes, erlebt der Leser vom dritten zum Folgesatz eine Zeitraffung in der Erzählung. Das Mädchen geht hinaus und befindet sich im nächsten Satz schon mit dem deiktischen „da“ in einem Ereignis. Die Beschreibung des Weges dorthin wird ausgelassen. Dies könnte vom Leser als mangelnde Information erlebt werden. Es entspricht aber dem Stil der Grimms, wie Lühti ihn charakterisiert: „Nur was in die Fläche der Handlung tritt, nur was den hell beleuchteten Weg des Helden kreuzt, wird sichtbar, [...] statt des Ineinander und Miteinander herrscht das Nebeneinander oder Nacheinander.“49 Im

vierten und fünften Satz der Erzählung verlangsamt sich das Erzähltempo zu einer Szene und geht in einer direkten Figurenrede zwischen Mann und Protagonistin und der Handlung des

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Brot Reichens vorübergehend parallel mit der Geschichte. Am Schluss des Satzes entsteht mit der einfachen Bemerkung „und ging weiter“ wieder eine Zeitraffung im Diskurs. Darauf folgt im sechsten Satz ein zweites deiktisches „da“ und leitet die nächste Begegnung der Protagonistin mit einer Figur in der Erzählung ein. Mit einem vorbereitenden Verb des Sagens, einem verbum dicendi, zu einer direkten Figurenrede verlangsamt sich die Erzählung. Die Szene ist kürzer als die erste, da das Mädchen dem Kind in der Erzählung nicht mehr verbal antwortet, sondern im siebten Satz ohne dokumentierte Worte direkt seine Mütze gibt. Dieser Verlauf unterstützt Lühtis oben erwähnte Aussage, dass der Fokus anstatt auf das Ineinander und Miteinander auf das zeitlich geordnete Nebeneinander und Nacheinander liegt. Der achte Satz beginnt mit „[u]nd als es noch eine Weile gegangen war,“ welches nach der Szene des Vorsatzes eine längere Zeit in der Geschichte und damit eine erneute Zeitraffung im Diskurs impliziert. Der Fokus auf das Hauptgeschehen wird nach dem ersten Komma des Satzes mit einer weiteren dritten und vierten Figurenbegegnung wieder aufgenommen. Diese Begegnungen vermissen die direkte Figurenrede und erscheinen in ihrer Beschreibung noch verkürzter als die vorhergehenden angelegt. Mit Hilfe der Zustandsbeschreibung „und fror“, als nonverbale Sprache, und der anschließenden Handlung der Protagonistin kommt es zunächst zu einer Dehnung im Diskurs. Diese wird wiederum von einer erneuten Zeitraffung im Übergang zur zweiten Hälfte des achten Satzes mit dem „und noch weiter“ kurzfristig unterbrochen, um auf eine vierte Figur überzuleiten. Damit wird der in der Erzählung aufgebaute rhythmische Wechsel zwischen Dehnung und Zeitraffung nochmals komprimiert, welches das Erzähltempo und die Dynamik im Diskurs insgesamt weiter erhöht.

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Zeitraffung, mit der nur notwendigsten Feststellung, „Endlich gelangte es in einen Wald“, ohne Beschreibung der Hindernisse auf dem Weg. Das Verb „gelangte“ mag mit dem Adverb „endlich“ für eine lange Wanderung durch den Tag stehen. Das deiktische „da“ nach dem Komma bereitet den Leser auf das nächste Zeitereignis vor und leitet mit einer weiteren erzählten Figurenrede, „und bat um ein Hemdlein“, den nächsten Tempoumschwung zur Verlangsamung der Erzählung ein, das mit dem Gedankenzitat von ihr, „[e]s ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben“, zur Szene und damit zur längsten Zeitdehnung in der Erzählung wird. Der neunte Satz schließt mit der Erzählung der äußeren Handlung der Protagonistin, und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin“, und bringt damit den Diskurs gegenüber der Geschichte wieder in eine Gleichzeitigkeit. Die Erzählung verlangsamt sich zu Beginn des zehnten Satzes mit der Zustandsbeschreibung über das Mädchen, „[u]nd wie es so stand und gar nichts mehr hatte“, um in der Fortsetzung zeitlich wieder zu beschleunigen mit dem „fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter blanke Taler“. Das mit wenigen Worten zusammengefasste Ereignis, dass die Sterne vom Himmel fallen und sich in Taler verwandeln innerhalb eines Satzes bedeutet eine ungeheure Zeitraffung in der Erzählung. Sie mag allerdings vom Leser nicht als solche empfunden werden, da schon im neunten Satz mit dem Adverb „endlich“ der Klimax vorbereitet und damit das Ende der Geschichte fühlbar eingeleitet wird. Die zweite Hälfte des Satzes „und ob es gleich sein Hemdlein weggeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen“ verhält sich zum Sternfall wie eine Fortsetzung des großen Wunders, nimmt aber in der zeitlichen Bewegung nicht so viel Raum ein wie dieser, sondern erst mit der ins Detail gehende Beschreibung „und das war vom allerfeinsten Linnen“ entsteht eine Zeitdehnung in der Darstellung. Der Abschlusssatz „Da sammelte es die Taler hinein und war reich für sein Lebtag“ beginnt wieder mit einer zusammengefassten Handlung, die in ihrer Kürze eine Zeitraffung ohne Details ist. Der zweite Satzteil, mit einer aus der Erzählperspektive die Zukunft betreffende Aussage, mutet wie eine zeitgeraffte interne Prolepse an. Der Verbgebrauch von „sein“ in der zweiten Hälfte des letzten Satzes vermittelt ein zu Ruhe kommen, mit dem das Märchen abschließt.

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im neunten und zehnten Satz in der Katastase der Geschichte zu einer Betonung von Einzelheiten und damit zu längeren Erzähleinheiten und Dehnungen in der Erzählzeit kommt. Der Schlusssatz bildet einen ruhigen abschließenden Ausgleich zwischen Verkürzung und Länge, in dem die Dehnung den Schluss bildet. „Die Sterntaler“ wird, unter dem Aspekt der Frequenz betrachtet, mit wenigen Worten singulativ erzählt, wobei die repetitiven Handlungen von Bitten und Geben, Fragen und Antworten, die sich zum Bedeutungsfeld im Verlauf der Erzählung entwickeln, bis zur großen Dehnung am Höhepunkt immer verkürzter formuliert werden.

3.2 „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“

Zur Entstehungsgeschichte eines seiner bekanntesten Märchen „Das kleine Mädchen mit dem Schwefelhölzern“ gibt es mehrere Quellen. So berichtet der Literaturkritiker Walter A. Berendsohn, dass Andersen von einem seine Phantasie stimulierenden Bild ausgegangen ist und zitiert ihn aus seinem Tagebuch: „Ich empfing von Herrn Flinch einen Brief, zu einem der drei beigelegten gedruckten Bildern ein Märchen für seinen Kalender zu schreiben; das Bild, das ich wählte, stellte ein kleines, armes Mädchen mit Schwefelhölzern dar.“50 Ein weiterer

Tagebucheintrag Andersens mit Datum vom 19. November 1845, den Berendsohn aus dem Anhang der dänischen Originalausgabe der Andersen Märchen zitiert, nimmt Bezug auf die Kindheitserzählungen seiner in Armut aufgewachsenen Mutter.51 Zu dem schreibt er in seiner

Autobiographie Das Märchen meines Lebens von seinem Besuch auf dem Jagdschloss Gravenstein im Herbst 1845: „hier in dem festlichen und fürstlichen Überfluß entstand eines der Märchen, die Entbehrung und Not schildern, »Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern.«“52 Andersen ist sich der krassen gesellschaftlichen Gegensätze zwischen

arm und reich voll bewusst und verarbeitet sie, angestoßen von seinen Erlebnissen auf Gravenstein, schriftstellerisch in dem Sterntalermotiv vom mittellosen Mädchen. Literaturgeschichtlich ist das Märchen in der Zeit des Umbruchs zwischen Biedermeier und Frührealismus geschrieben. Es beleuchtet thematisch neben den sozialen Verhältnissen auch die damals tagesaktuelle industrielle Weiterentwicklung zur Herstellung des Streichholzes

50Walter A Berendsohn: Phantasie und Wirklichkeit in den „Märchen und Geschichten“ Hans Christian

Andersens, Struktur- und Stilstudien. Walluf bei Wiesbaden, 1973, S.209.

51 Hans Brix og Anker Jensen: H. C. Andersens Eventyr, Ny kritisk udgave med Kommentar ved Hans Brix

og Anker Jensen, Band II, København og Kristiania 1919. Andersens Tagebucheintrag vom 19.

November 1845: „Renskrevet Eventyret om den lille Pige m. S. og sendt det samt Brev til Fru Drewsen.” […] Bøgh har gentaget med følgende Tilføljese: „Modern sagde: jeg har aldrig kunnet bede nogen om noget […]” S. 393.

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zwischen 1826 und 1855, in dem dieses als wichtiges Requisit in das Märchen einbezogen wird.53 Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ hat im dänischen Original mit 868

Wörtern in 23 Sätzen verglichen mit „die Sterntaler“ ungefähr die dreifache Länge, zählt aber zu den kürzeren Märchen Andersens. In der deutschen Übersetzung mit 45 Sätzen ist die originale Satzstruktur nicht eingehalten worden und so werden, um die Zeitgestaltung des Dichters auch in der Form der Syntax aufspüren zu können, an Hand der abgeglichenen Urfassung, siehe Anhang, die dänischen Satzeinheiten, mit den Deutschen vergleichend untersucht.

3.2.1 Der zeitliche Ablauf in der Geschichte

Der Zeitbeginn der Geschichte wird im ersten Satz mit „der letzte Abend des Jahres“ konkretisiert. Mit dem „Als sie das Haus verließ“ und mit „Niemand hatte den ganzen Tag ihr etwas abgekauft“, geschieht ein Rückgriff auf den ganzen aktuellen Tag. Daraufhin wird das Datum mit „es war ja Sylvesterabend“ nochmals betont. Im Verlauf der Geschichte bekommt der Leser wie in „Die Sterntaler“ zunächst keine weiteren Zeitangaben, sondern entnimmt dem Verlauf der Geschichte, mit dem Hinkauern, dem sukzessiven Anzünden und Erlöschen der Schwefelhölzer, sowie dem Sehen innerer Erlebnisse, einen unbestimmten Zeitverlauf durch den Abend. Zwei weitere undatierte Vergangenheitserlebnisse des Mädchens werden in der Geschichte erwähnt: die Erinnerung an einen Christbaum bei einem reichen Kaufmann und die Erinnerung an ihre Großmutter, die zu Lebzeiten lieb zu ihr gewesen war. Zum Höhenpunkt der Geschichte im 19. Satz, bzw. im 36. bis 40. Satz in der Übersetzung, gibt es mit „Ich weiß, Du entfernst Dich, wenn das Schwefelhölzchen erlischt“ eine zeitliche Kausalität mit dem Wörtchen „wenn“, welche die Reaktion als Zeitabfolge mit „[u]nd sie strich schnell das ganze Bund Schwefelhölzchen“ in der Geschichte erlebbar macht. Der nächste Satz schließt mit „sie waren bei Gott“ und impliziert inhaltlich ein aus der Zeit fallen bzw. Ewigkeit. Unmittelbar anschließend wird die Geschichte zeitlich wieder ganz konkret mit „saß in der kalten Morgenstunde“ sowie „erfroren an des alten Jahres letztem Abend“ und „Die Neujahrssonne ging auf“ und holt den Zuhörer in ein konkretes Zeiterleben zurück, mit dem die Geschichte dem Ende zugeht. Zum Schluss wird noch einmal auf das abgebrannte Bund Schwefelhölzer als einen zeitlichen Beweis hingewiesen. Der Zeitrahmen der Geschichte beträgt eine halbe

53 Riksarkivet, Svenskt biografiskt lexikon: Gustaf Erik Pasch. Anm. vom Verf.: Pasch hat den vorher

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Tageseinheit von Abend bis zum folgenden Morgen und ist zeitlich am Anfang sowie zum Ende deutlich abgegrenzt.

3.2.2 Kreative Zeitstrukturen in der Erzählung

Mit einer Sinnesempfindung, „Es war entsetzlich kalt“, spricht Andersen zu Beginn des ersten Satzes seine Leser an und führt sie aus ihrer räumlichen Gegenwart in eine fiktive Geschichte, in der das Präteritum seine faktuale Vergangenheitsmarkierung verliert. Der folgende Ausdruck „beinahe“, „und war beinahe schon dunkel“, vermittelt Erwartung der herankommenden Dunkelheit und weist auf eine Veränderung in der Zeit hin, die den Sehsinn miteinbezieht und den Zuhörer in seinem Erleben noch näher heranrücken lässt. Zum Schluss des ersten Satzes wird mit „der letzte Abend des Jahres“, auch ein Zeitpunkt als zeitlicher Beginn der Fiktion, konkretisiert.

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Zu Beginn des dritten Originalsatzes (7-11 in der deutschen Übersetzung) wird der Fokus mit dem deiktischen „da“ wieder auf die zu erlebende Gegenwart gerichtet und beendet die Pause. In seinem Verlauf entsteht durch die unter Genettes Kategorie der Frequenz gezählte, „repetitive“ Aufmerksamkeit auf die „kleinen, nackten Füße[...], die ganz rot und blau vor Kälte waren“, zunächst eine Zeitdehnung in der Erzählung, die mit dem zusätzlichen Sinneseindruck verstärkt wird. Der Diskurs wechselt mit „In einer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer und ein Bund davon in der Hand“ zum zeitdeckenden Erzählen und verlangsamt sich erneut mit „Niemand hatte den ganzen langen Tag ihr etwas abgekauft. Niemand ihr einen Pfennig geschenkt.“, zu einer weiteren Analepse, die bis in die Gegenwart der Geschichte führt. Die Worte „den ganzen langen Tag“ vermögen der Raffung der Erzählzeit innerhalb des Rückgriffs dennoch ein Gefühl der zeitlichen Länge zu geben. Am Schluss des dritten Satzes kommt die Erzählung mit „Zitternd vor Kälte und Hunger schlich sie einher“ wieder beim Verlauf der Geschichte an und dehnt mit einem hörbaren Ausruf der Stimme des Erzählers: „ein Bild des Jammers, die arme Kleine!“ nochmals den Diskurs.

Satz vier im Original stimmt in der Satzlänge mit der benutzten Übersetzung überein (12) und berichtet in einer weiteren zeitdehnenden Umstandsbeschreibung über die Schneeflocken und über „ihr langes blondes Haar, welches in schönen Locken um den Hals fiel“. Er endet erneut mit der narrativen Stimme des Erzählers: „aber daran dachte sie nun freilich nicht“. Dabei erwirkt dieser Einwurf eine weitere Pause in der Erzählung, in der die Position des heterodiegetischen Erzählers, der alles wahrnehmen kann, in der Erzählung bekräftigt wird.

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Diese Eigenart lässt sich auch im sechsten Satz (15-17) verfolgen, der mit „In einem Winkel, von zwei Häusern gebildet, von denen das eine etwas mehr vorsprang als das andere“ beginnt und nach der zeitdehnenden Beschreibung des äußeren Umfeldes zunächst in eine kurze synchrone Erzählphase, in der sich das Mädchen auf der Erde niederlässt, übergeht. Mit „Die kleinen Füße hatte sie an sich gezogen“, einer im Plusquamperfekt stehenden internen Analepse, nimmt das Erzähltempo innerhalb des Satzes erneut ab und eröffnet mit „es fror sie noch mehr“ eine Episode der Spiegelung des äußerlichen und inneren Zustandes der Protagonistin. In einer die Erzählzeit verlängernden weiteren Analepse lässt der innere Gedankenstrom des Mädchens sie von ihrem erfolglosen Tag und von ihrer mit den familiären und häuslichen Umständen verbundenen Angst nach Hause zu gehen, von einer Art innerer Kälte, die sie erwartet, berichten. Innere und äußere Details, wie die Schläge vom Vater oder „über sich hatten sie nur das Dach, durch das der Wind pfiff, wenn auch die größten Spalten mit Stroh und Lumpen zugestopft waren“, helfen die Vorstellungen des Lesers zu verstärken. Das ständige Wechselspiel in der Diegese innerhalb kurzer Abschnitte zwischen Umstandsbeschreibung und Handlung, zwischen Innen- und Außenwelt und im Diskurs zwischen Dehnung und Raffung der Erzählgeschwindigkeit veranlasst den Leser sich ungeachtet wenig erzählten äußeren Vorgängen in seinem Fokus zu bewegen. Dieses kann, wie unter einem Vergrößerungsglas, als eine eigene Zeit in der Erzählzeit, als aristotelische Bewegung in der Modulation des Erlebens in der Erzählung im Verhältnis zur Geschichte aufgefasst werden. Die mit vielen Details ausgestalteten langen syntaktisch zusammengehaltenen Sätze im Original animieren zudem die äußere Handlung mit der inneren Geschichte zu verknüpfen und bewirken eine deutlich erlebte Zeitdehnung in der Erzählung, während in der deutschen Übersetzung die Satzlängen, ohne dem von Andersen in größeren Einheiten geformten Spannungsbogen zu folgen, oft mit den einzelnen Beschreibungen kongruieren.

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Versetzung der Erzählung auf eine innerlich suggerierte Wunschebene der Protagonistin, führt ohne äußere Handlung zu einer Zeitdehnung innerhalb der Erzählung. Im Original werden in separaten kurzen Sätzen zwei Gedankenschritte gegeben, welche sich wie ein in Stufen nachzuvollziehendes stärker werdendes Wünschen ausnimmt.

Der zehnte Satz (20-22) wechselt in der Erzählung mit „Sie zog eins heraus“ wieder in die äußere Handlung. Das anschließende Anzünden wird, ohne es auszusprechen, mit „Rrscht“ verlautlicht, und mit „wie sprühte, wie brannte es“ fließt die Erzählung zeitlich synchron zur Geschichte weiter. Im ganzen Satz wie auch hier in „es war eine warme, helle Flamme“ oder mit dem Ausruf „es war ein wunderbares Lichtchen!“ spricht der Erzähler stark das Miterleben der Sinne an. Der Leser wird dadurch förmlich in der fiktiven Gegenwart in die „dargestellte Wirklichkeit“, wie Käte Hamburger den aristotelischen Begriff der Mimesis beschreibt, hineingezogen.54 Die Erzählung bewegt sich zeitlich parallel mit der Geschichte.

Im elften Satz, in der Übersetzung Satz 23 und Beginn des 24. Satzes, wird der Leser mit „Es schien wirklich dem kleinen Mädchen, als säße sie vor einem großen eisernen Ofen“ mit Hilfe des Konjunktivs wieder in die Vorstellungswelt der Protagonistin geführt. Dies führt zu einer Zeitdehnung im Erzählen, in der berichtet wird, wie das Mädchen den Ofen und das wärmende Feuer in ihrer Vorstellung erlebt. Der Originalsatz schließt mit einem narrativen Einschub des Erzählers, „nej, hvad var det!“, welcher in der deutschen Fassung als „Nein, was war das!“ ausbleibt. Dieser Ruf in der Mitte des Märchens rüttelt die Zuhörer auf und holt sie von der Phantasiewelt des Mädchens weg. Aus vorher suggerierter Nähe wird in der Fiktion realistische Distanz. Die vorher gedehnte Erzählzeit zieht sich zusammen.

Der Rest des 24. Satzes in der Übersetzung entspricht dem zwölften Originalsatz und schließt sich nach dem Ausruf mit „die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen“ an. Im ganzen Satz, der die Beobachtung schildert, wie die Flamme erlischt und wie sie „nur die kleinen Überreste des abgebrannten Schwefelhölzchens in der Hand“ hält, verläuft die Erzählzeit zeitdeckend zur erzählten Zeit parallel.

Satz 13 im Dänischen (25-28) beginnt mit der äußeren Handlung des Mädchens, indem es singulär und zeitdeckend vom Anzünden eines zweiten Streichholzes berichtet und nur kurz sein Leuchten erwähnt, bevor im Folgenden der Fokus wieder auf das innere Erlebnis des Mädchens gerichtet wird: „und wo der Schein auf die Mauer fiel, wurde diese durchsichtig wie ein Schleier: sie konnte in das Zimmer sehen.“ Die vorher beschriebene andauernde äußere Kälte wird vom Erzähler ausgeblendet. Stattdessen bildet er erneut eine Brücke in die

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Phantasiewelt der Protagonistin, in der der Zuhörer eine imaginierte Sinneswelt vom schneeweißen Tischtuch, einer gebratenen Gans, die mit Messer und Gabel in der Brust auf das Mädchen zuläuft, in einem in der Phantasiewelt des Mädchens zeitdeckenden Diskurs vorgeführt bekommt. Der Satz endet wie der vorige in der Realität, indem das Schwefelholz ausgeht und „nur die dicke kalte Mauer zurück[bleibt]“. Die ausgedehnte Erzählzeit schrumpft wieder auf die von außen wahrnehmbaren Geschehnisse der Geschichte zurück.

Satz 14 ist kurz und entspricht dem ins Deutsche übertragene 29. Satz: „Sie zündete noch ein Hölzchen an“. Im zeitdeckenden Erzählen wird in ihm knapp nur die nächste Aktion des Mädchens, das weitere Anzünden eines Streichholzes, erwähnt und erhöht in seiner Dichte, auch weil er nichts neues verrät, die Erwartung und damit den Spannungsbogen des Zuhörers auf das nächste Ereignis.

Im folgenden 15. Originalsatz (30 und 31) versetzt der Erzähler den Leser ohne Überleitung direkt in die vorgestellte Welt des Mädchens, „Da saß sie nun unter dem herrlichsten Christbaume; er war noch größer [...] als der, den sie [...] bei dem reichen Kaufmann gesehen hatte“, und nimmt ihn mit Hilfe einer Reflexion des Mädchens in ihren Bewusstseinsstrom hinein. Dieses wirkt sich wiederum als eine Zeitdehnung im Verhältnis zur Geschichte aus.

Im 16. Satz (32 und 33) dokumentiert der Erzähler zeitdeckend den wiederaufkommenden Konflikt der Protagonistin zwischen erlebter Innenwelt und äußerer Realität in der erzählten Welt: „Die Kleine streckte ihre Hände danach aus: da erlosch das Schwefelhölzchen“. Der Übergang zum realen Bewusstsein des Mädchens wird im weiteren Verlauf des Satzes zeitdehnend beschrieben: „Die Weihnachtslichter stiegen höher und höher; sie sah sie jetzt als Sterne am Himmel; einer davon fiel herunter [...].“

Der 17. Satz (34) beginnt mit einer direkten Rede: „Jetzt stirbt Jemand“, gefolgt im Dänischem von einem verbum dicendi,„sagte den lille“, im Deutschen „dachte das kleine Mädchen“. Der bis zum Ausruf kommende Gedanke im Original verstärkt den Eindruck der Lebendigkeit der zeitdeckenden Szene. Der kurzen spontanen Äußerung schließt sich eine im Vergleich längere zeitdehnende Analepse, eine Erinnerung an ihre geliebte aber verstorbene Großmutter an. In der Form des Bewusstseinsstroms wird beschrieben, wie sich die Protagonistin darauf besinnt, was sie von ihr gehört hat und es gedanklich mit der erlebten Gegenwart verknüpft: „daß, wenn ein Stern herunterfällt, eine Seele zu Gott emporsteigt.“

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der Geschichte kommen. In der sich anschließenden Veranschaulichung des Leuchtens wird zeitdehnend das Erscheinen der Großmutter geschildert.

Satz 19 (36 bis zur Mitte von Satz 40) fängt mit dem Ausruf des Mädchens: „Großmutter!“ an, und die direkte Rede setzt sich zeitdeckend mit der Geschichte in einem des sich plötzlichen Luftmachens und ihren Gefühlen Worte-Gebens fort:

„O! nimm mich mit! Ich weiß, Du entfernst dich, wenn das Schwefelhölzchen erlischt: Du verschwindest, wie der warme Ofen, wie der herrliche Gänsebraten und der große prächtige Weihnachtsbaum!“

Die vorher im Märchen als zweigeteilt beschriebene Welt der Hauptfigur, das äußere zeitdeckende Geschehen in der Winterkälte und die zeitdehnenden Beschreibungen der inneren Erlebnisse wird zum Höhepunkt der Erzählung verdeutlicht und von dem Mädchen selbst realistisch in ihren Worten erlebt, genannt und zusammengeführt. Nach diesem, dem Genre des Frührealismus nahekommenden kurzen Ausrufs des Wirklichkeitserlebnisses, entscheidet sich die Protagonistin mit „O! nimm mich mit!“, ähnlich wie in anderen zeitgenössischen Kunstmärchen für die innerlich erlebte Welt.55 Dies wird in der weiteren äußeren Aktion, in der

ein Wunsch einbezogen ist, wiedergegeben: „sie strich schnell das ganze Bund Schwefelhölzchen, denn sie wollte die Großmutter recht fest halten.“ Sie endet mit der ebenfalls zeitdeckenden Schilderung des Leuchtens der entzündeten Schwefelhölzer.

Der 20. Satz (zweite Hälfte von 40) umschreibt zunächst zeitdehnend das Erlebnis des Mädchens die vom Licht wunderbar erleuchtete Großmutter und leitet dann in die Erzählung von der Handlung der Großmutter über:

[…] sie nahm das kleine Mädchen auf ihre Arme, und Beide flogen in Glanz und Freude so hoch, so hoch; und dort war weder Kälte, noch Hunger, noch Angst – sie waren bei Gott.

Die Erzählung von dem Erlebnis mit der Großmutter scheint sich auf das Verhältnis zur Geschichte zunächst zeitdehnend auszuwirken, denn in der Geschichte ist in diesem Moment der Tod des Mädchens beschrieben. In der Erzählung wiederum kann die erzählte Episode mit dem Hochfliegen in den wenigen Worten als Zeitraffung erlebt werden, obwohl der Erzähler in dem wiederholten „so hoch“ eine Zeitdehnung hervorruft. Zum Ende des Satzes in den Worten

55 Anm. vom Verf.: Siehe auch: Der Goldene Topf von E.T.A. Hoffmann: In diesem Kunstmärchen

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„sie waren bei Gott“ wird mit dem Verb „Sein“ ein Anhalten des Zeiterlebnisses in der Geschichte markiert. Für einen kurzen Moment wird in der Geschichte eine zeitlose Gegenwart oder ein Außerhalb der Zeit Sein zeitdehnend dargestellt.

Im Satz 21 (41) geht die Geschichte mit einem Zeitsprung, unter Genettes Begiffssystem der Dauer auch Elipse genannt, mit Hilfe der Nullfokalisation des Erzählers am Neujahrsmorgen weiter: „[...] an die Mauer gelehnt, saß in der kalten Morgenstunde das arme Mädchen [...] mit lächelndem Munde – erfroren an des alten Jahres letztem Abend.“ Die Zeit in der Geschichte wird nochmal konkret repetitiv genannt. Nach der Elipse am Anfang, die mit der stärksten Zeitraffung in der Erzählung eine Distanzierung von der Nähe zur Protagonistin einleitet, wird in einer internen Analepse auf das Ereignis wie dokumentarisch zeitdehnend zurückgeblickt.

Zum Anfang des 22. Satzes (42 und 43) wird die Zeitspanne des Sonnenaufgangs in der Erzählung zeitraffend mit wenigen Worten angedeutet. Die Leiche wird zum Schluss der Fiktion repetitiv wie Abstand nehmend ohne den vorherigen seelischen Attributen erwähnt, und der Erzähler berichtet mit der Geschichte synchron gehend, was es für den Vorübergehenden zu sehen gibt: „Starr saß das Kind dort mit den Schwefelhölzchen, von denen ein Bund abgebrannt war.“

Der letzte Satz (44 und 45) beginnt mit einer Äußerung: „Sie hatte sich erwärmen wollen!“, ergänzt mit „sagte man“. Die vorher in der Geschichte miterlebte Innenwelt der Protagonistin mit den Zeitdehnungen in der Erzählung ist verschlossen, und mit dem anonymisierten Indefinitpronomen „man“ geht eine Zeitraffung von unbestimmten Maß einher. Es ist nicht ersichtlich wie viele Menschen die Leiche entdecken und wie lange darüber gerätselt wird. Zum Schluss führt der Erzähler den Leser mit „Niemand ahnte, was sie Schönes gesehen hatte, [...].“ im zeitdehnenden Erzählen wieder auf die vorher angedeutete andere Seite der Erzählten Welt. Er entlässt den Zuhörer aus der Erzählung, indem er den letzten Teil des Satzes ins Plusquamperfekt setzt und damit das Märchen als ein in die Vergangenheit entschwundenes Erlebnis stehen lässt.

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auf einmal, iterativ berichtet wird. Das Mädchen ruft aus, erkennt und verbindet sich im Licht des Feuers mit dem sonst nicht Sichtbaren und entschwindet wie das Feuer von der kalten zurückbleibenden Erde, die den Verlust ihres der Kälte anheimgefallenen toten Körper am Schluss zeigt.

4. Vergleich und Diskussion

4.1 Die Zeit als Gestaltungselement 4.1.1 Vergleiche an Hand des Theorieteils

Die beiden Märchen sind unter dem Aspekt der Zeit von zwei Seiten untersucht worden; vom strukturalistischen Gesichtspunkt Genettes und vom erkenntnistheoretischen Denken Hamburgers. Die erstgenannte Herangehensweise verhalf der Arbeit die Beziehung zwischen erzählter Welt und Erzählwelt aufzuschlüsseln, die letztere ausschließlich wie die Märchen von den Autoren zeitlich für den Leser in Bezug gebracht werden. Zum Übergang in die Fiktion zu Beginn der Märchen wird in beiden Anfängen das Zustandsverb „Sein“ in der Form des epischen Präteritums genutzt. Die Grimms nehmen mit dem „Einmal“ in es war einmal Bezug auf eine das Genre der Volksmärchen implizierende Vorzeit auf. Ihren Abschluss gestalten sie mit einer indefiniten Zeitangabe. Andersen orientiert die Leser seines Kunstmärchens mit einer konkret zu verstehenden Zeitangabe am Beginn und am Schluss und entlässt sie im letzten Satz im Plusquamperfekt, welches für den Leser den Ausstieg aus der Fiktion ermöglicht.

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wie Ulysses von James Joyce oder Die Verwandlung von Franz Kafka eine Schlichtheit sowie eine zeitgeschichtliche Nachbarschaft der Schriftsteller zu einander feststellen. Die zeitlich fast eindimensionale Erzählweise Grimms wird stilistisch in Andersens Kunstmärchen durch den Schritt einer individuelleren Bezugnahme zu den umgebenden Zeitumständen seines damaligen Lesepublikums mit Hilfe der Gestaltung auf dem Gebiet der Ordnung und Dauer erweitert. Andersen gibt durch das Instrument der Nullfokalisation den inneren Vorgängen der Protagonistin einen eigenen Platz und dividiert zeitlich in seiner Erzählung mit Hilfe von Einschüben den Handlungsbereich des Denkens und Fühlens von der äußeren tätigen Handlung, welches in Folge zu einem Rhythmus zwischen einer zeitdehnenden und zeitdeckenden Erzählung führt. Auch bei den Grimms lässt sich die separate Anwendung der Nullfokalisation auf das Innenleben der Protagonistin finden. Sie wird aber nur einmal mit einem Verb der inneren Vorgänge, wie es Hamburger nennt, mit dem „dachte“ im neunten Satz am Höhepunkt der Geschichte eingesetzt, ansonsten ist Innen- und Außenwelt bei den Grimms, wie am Beispiel „da ging sie im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld“ zeitlich vereint.

Die Ausrufe des Erstaunens von Andersens Erzähler, zu finden in Satz zwei, fünf und am stärksten im vom Original nicht übertragenen Teil des elften Satzes, im „nein, was war das!“, sind kurze Einschübe in die Geschichte. Sie sind Einschnitte in der Erzählung, in der die narrative Stimme in einer kurzen Zeitdehnung hörbar wird. Sie lassen die Geschichte für Momente wie stillstehen. Sie kommen einer Pause nahe, lassen den Blickwinkel des Lesers aber nicht woandershin gleiten, sondern provozieren ihn noch näher an das Geschehen heranrücken. Die Distanzierung von der faktualen Welt, die bei der Grimmschen Erzählweise gleichbleibend in einer Traumwelt besteht, wird durch das näher Heranziehen der Leserschaft an das Erzählte bei Andersen aus ihrer Unbestimmtheit herausgeholt. Es entsteht durch ein stärker ins Bewusstsein geholtes Mitgefühl eine Intensivierung des Geschehens, eine Anteilnahme. Am Ende verwendet Andersen den distanzierenden Zeitsprung, um den Leser wieder zu entlassen. Im Vergleich zu Andersen ist die narrative Stimme bei dem Grimmschen Märchen nur angedeutet, wenn im Zeitadverb „endlich“ die Zeitraffung wie eine kleine Ungeduld des Erzählers hörbar wird.

4.1.2 Aspekte zum Rhythmus als Gestaltungselement zwischen Form und Inhalt

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Nach den ersten beiden einleitenden Sätzen ist das Märchen wie in einem Guss geschrieben, in dem die Satzanfänge zwischen dem hinweisenden deiktischen „Da“ und dem überleitenden „Und“ alternieren und sich ein Rhythmus im steigernden Puls des Wechselns zwischen Zeitraffung im „Und“ und Dehnung der Erzählzeit im „Da“ etabliert. Das Zeitadverb „endlich“ als Satzanfang unterbricht diesen Rhythmus und markiert den Höhepunkt des Märchens, an dem das Tempo plötzlich anhält und in Zeitdehnungen umschlägt, bevor es zum Ende des Märchens im langsameren Wechsel zwischen Zeitraffung und Dehnung ausklingt. Inhaltlich lässt sich im Bedeutungsfeld des Bittens und Gebens auch eine Dynamik erkennen. Die Beschreibung des Gebens verkürzt sich sukzessiv, so dass die Bitten an das Mädchen immer schneller kommen bis es sein letztes Hemd weggibt und eine Umkehrung des Gebens stattfindet, in dem ihr gegeben wird. Die Rhythmusgestaltung kommt in „Die Sterntaler“ in seiner kongruierenden Dynamik zwischen Form und Inhalt sowie der Akzentuierung des Höhepunktes anderen Zeitkünsten, wie der der Poetik und Musik, nahe.

In Andersens „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ kann ebenfalls ein Erzählrhythmus erlebt werden. Im Originaltext sind die Satzlängen auffällig lang, die in Vorgängen des Innenlebens oder mit Rückgriffen enden. Sie resultieren in Dehnungen der Erzählzeit und wechseln sich rhythmisch mit kürzeren Sätzen des äußeren Geschehens ab. Andersen hat, wie schon angedeutet, regelmäßig mit Verstärkungen wie z.B. „schrecklich schnell“ und Wortpaaren wie „Gabel und Messer“ sowie Alliterationen „glans og glæde“56

gearbeitet. Mit ihrer Hilfe hat er die zeitdehnenden Beschreibungen spielerisch rhythmisiert und ihnen stilistisch etwas von ihrer oft inhaltlichen Schwere genommen. Der Gegensatz zwischen lang aufgereihten Einzelheiten und kurzen Aktionen im Lang-Kurz-Rhythmus des Satzgefüges entspricht inhaltlich dem Charakter des Sehnens und Wünschens. In dem Verhältnis der Satzgestaltung zum Inhalt in „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ wird eine zeitliche Kongruenz zwischen Form und Inhalt, zwischen erzählter Welt und Erzählwelt offenbar, die in der vorliegenden deutschen Übersetzung nicht berücksichtigt worden ist.

4.2 Das Bedeutungsfeld der Zeit – Zeitbegriff und literarischer Fußabdruck

Einige in der Grimmschen Vorrede von 1819 genannten Ziele bezüglich ihres literarischen Auftrages helfen Schlüsse auf den im „Die Sterntaler“ unterliegenden Zeitbegriff zu ziehen. Wie schon zu Beginn erwähnt, haben die Brüder Grimm ihre Zeit als einen Übergang

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