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Das fliegende Klassenzimmer: damals und heute.

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Academic year: 2021

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Das fliegende Klassenzimmer:

damals und heute.

Erich Kästners erzieherischen Absichten der Nachkriegszeit im

Verhältnis zum Zeitgeist. Eine Analyse der Wertevermittlung.

Tanja Wredberg

Institutionen för slaviska och baltiska språk, finska, nederländska och tyska

Examensarbete 15 hp Tyska

Tyska kandidatkurs inom ämneslärarprogrammet (30 hp/330 hp) Höstterminen 2020

Handledare: Dr. phil. Caroline Merkel Examinator: Dr. phil. Andrea Meixner

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Das fliegende Klassenzimmer:

damals und heute.

Erich Kästners erzieherischen Absichten der Nachkriegszeit im Verhältnis zum Zeitgeist. Eine Analyse der Wertevermittlung.

Tanja Wredberg

Abstract

This thesis is about the German children’s book ‘The flying classroom’ [Das fliegende Klassenzimmer] written by the author Erich Kästner. The living conditions and requirements for upbringing have changed since the book was first published in 1933, and yet Kästner’s book conveys values and educational intentions that, in my opinion, are still relevant and valuable today in relation to the educational goals of the contemporary school system. To strengthen this hypothesis, I analysed which values and virtues are being propagated, what the intention behind those are, and how they are being represented in the children’s book and its latest adaption from 2003. My focus is on the character of the teacher Dr Bökh alias Justus, the just. In order to investigate Kästner’s educational intentions, I used a qualitative and intermedial content analysis with the book as a starting point and compared it with the adaption of 2003 to examine possible differences between them. Furthermore, I’m interested in what is expected and demanded of today’s teacher, the image one has of him or her, and how this relates to the teacher figure in Kästner’s children’s book.

In order to come closer to answering the research question, I also examined external factors, such as historical contexts, to be able to justify possible changes in the communication of values during the period post-war until today. My thesis aims to show that – although times have changed – the values conveyed in the children’s book have remained the same and the book is thus attributed to authentic Zeitgeist.

Schlüsselworte

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ... 1

2. Der Entstehungskontext ... 2

2.1.Wer ist eigentlich Erich Kästner? Biographie und Forschungsübersicht ... 3

2.2. Erich Kästners Leben als Spiegel im Fliegenden Klassenzimmer... 5

2.3. Handlung und Struktur des Kinderromans... 6

3. Analyse und Ergebnisse ... 9

3.1. Die 1930er Jahre und der Kinderroman Das fliegende Klassenzimmer ... 10

3.1.1. Die Entstehungszeit ... 10

3.1.2. Das Thema Kindheit ... 11

3.1.3. Die zeitliche Prägung... 12

3.1.4. Die Moralvorstellungen ... 14

3.1.5. Die Schlüsselszene ... 16

3.1.6. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ... 18

3.2. Die 2000er Jahre und Wigands Adaption von Das fliegende Klassenzimmer in 2003 ... 19

3.2.1. Exkurs: Zeitraffer der Geschichte zwischen Buch und Film ... 19

3.2.2. Die aktuellste Verfilmung und das Buch im Vergleich ... 20

3.2.3. Erzieherische Maßnahmen und Ziele im Film ... 22

3.2.4. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ... 24

3.3. Ausblick in die Gegenwart ... 25

3.4. Zusammenführung und Diskussion der Ergebnisse ... 27

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1. Einleitung

Die Grundidee für diese Arbeit entstand in meinem ersten Lehramtspraktikum an einem Gymnasium in einem der Stockholmer Vororte, als ich eine Klasse des 2. Jahrgangs im Kurs Tyska 3 begleitet habe. Vor allem ist mir aufgefallen, wie anders das Lehrer-Schüler-Verhältnis war, viel persönlicher und näher, als ich es aus der deutschen Schule gewohnt war. Es warf sich mir die Frage auf, ob dies eine Frage der Generation oder der Kultur ist, oder ob es lediglich meine Schule war, in der eine strenge und unpersönliche Hierarchie herrschte. Auf diese Frage habe ich nie eine Antwort gefunden, weshalb ich mich gerne weiter in das Thema Lehrer-Schüler-Verhältnis und Wertevermittlung vertiefen möchte. Eine kontrastive Untersuchung und Analyse der deutschen und schwedischen Schule übersteigt den Rahmen dieser Arbeit, deshalb

möchte ich mit dem Kinderbuch Das fliegende Klassenzimmer1 von Erich Kästner als

Ausgangspunkt das Lehrerideal im Kinderroman den aktuellen Vorstellungen, genauer gesagt

den Anforderungen an den Lehrer2 einer deutschen Schule von heute gegenüberstellen.

Die Erstausgabe erschien im Jahr 1933, darauf folgten drei Verfilmungen des Buches, die in unterschiedlichen Jahren veröffentlicht wurden. Der erste Film wurde 1954 veröffentlicht, der zweite 1973 und die letzte und modernste Verfilmung erschien im Jahr 2003. In diesen gut 90 Jahren hat sich rein geschichtlich und politisch einiges verändert, was natürlich Einfluss auf die Menschen und die Lebensumstände genommen hat, nicht zuletzt auf Erziehung der Kinder. Trotz dieser Veränderungen seit Erstausgabe des Buches vermittelt Kästners Kinderroman Werte, erzieherische Absichten und Grundeinstellungen, die meiner Meinung nach auch heutzutage noch aktuell und wertvoll sind und den erzieherischen Zielen des Lehrers von heute entsprechen.

Es gibt umfangreiche Forschung von unter anderem Beutler, Doderer und Haywood3 zu sowohl

der Person Kästner als auch zu dem Kinderbuch. Diese Arbeit möchte die Forschung erweitern und herausfinden, welche Tugenden er eigentlich propagiert und welche erzieherische Absicht sich dahinter verbirgt, um schließlich herauszufinden, wie die Lehrerfigur im Buch und Film dargestellt und als Übermittler der Werte angewandt wird. Dabei stellt sich die Frage, ob sich diese Figur und somit die Wertevermittlung im Laufe der Zeit verändert. Die Analyse, in

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welchem Verhältnis die Lehrerfigur im Kinderroman von 1933 zu heutigen Erwartungen an einen Lehrer steht, soll Erkenntnis geben, inwiefern dem DfK einen pädagogisch wertvollen und aktuellen Zeitgeist zugeordnet werden kann.

Um zu untersuchen, welche erzieherischen Absichten sich hinter Kästners fliegendem Klassenzimmer verbergen, wie diese übermittelt werden und ob sich diese verändern, wähle ich eine qualitative und intermediale Inhaltsanalyse mit dem Kinderroman als Ausgangspunkt und vergleiche, inwiefern die letzte Verfilmung von 2003 in ihrer Verwirklichung und Interpretation der erzieherischen Absicht des Buches abweicht und den jeweiligen Zeitraum der Veröffentlichungen widerspiegelt.

Zuerst werden Hintergrundkenntnisse des Schriftstellers Erich Kästner und die Entstehungsgeschichte des Buches dargestellt, indem Parallelen zwischen seinem Leben und der Geschichte beschrieben werden. Es folgt eine Übersicht über den Inhalt und die Werte des Kinderbuches und inwiefern der formale Aufbau zur Vermittlung dieser beiträgt. Das Buch ist der Ausgangspunkt für diese Arbeit, aber auch die letzte und aktuelle Verfilmung aus dem Jahre 2003 wird analysiert. Um mich einer Beantwortung der Forschungsfrage zu nähern, werden außerdem äußere Faktoren, wie beispielsweise der geschichtliche Kontext, der Einfluss auf die Veränderungen und Darstellung in der Adaption genommen hat, untersucht. Der Fokus liegt aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit auf der Figur des Hauslehrers Dr. Johann Bökh alias Justus der Gerechte, sowie ausgewählte Szenen, die für eine Analyse besonders prägnant sind.

Die Ergebnisse werden schließlich mit dem gegenwärtigen Lehrerbild, seinen Aufgaben und dem erzieherischen Ziel verglichen. Das Ziel dieser Arbeit ist es aufzuzeigen, dass – obwohl sich die Zeiten verändert haben – die im Kinderbuch vermittelten Werte gleichgeblieben sind und dem Buch somit aktuellen Zeitwert zugesprochen werden kann.

2. Der Entstehungskontext

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im Buch deuten lassen. Warum das Kinderbuch als pädagogische Lektüre, moralisches Lehrstück oder pädagogisches Konzept angesehen werden kann, wird anhand der formalen Struktur erläutert.

2.1. Wer ist eigentlich Erich Kästner? Biographie

und Forschungsübersicht

Erich Kästner wurde 1899 in Dresden geboren und lebte bis 1974. Somit hat er zwei Weltkriege miterlebt, was ihn in seinem Schreiben und in seinem Leben beeinflusst hat. Er selber

bezeichnete sich als „Moralisten und Urenkel der Aufklärung“.4 Und selbst wenn seine Bücher

keine Biographien sind, weisen sie dennoch autobiographische Spuren auf,5 denn das Leben

von Erich Kästner hinterlässt Abdrücke in seinen Erzählungen. DfK ist ein fiktionales literarisches Werk, und doch lassen sich sowohl die Figuren als auch die Beziehungen, die er in seinem Buch präsentiert, teilweise auf sein Leben zurückführen.

Seine Erfahrungen und Erinnerungen, welche er vor allen in dem Buch Als ich ein kleiner Junge

war6 beschrieb, sind wichtige Quellen des Erzählens in seinem Kinderroman.7 Auch die von

Kästners früheren Partnerin Luiselotte Enderle gesammelten Schriften und Briefe Kästners an seine Mutter sind eine Quelle und Belege dafür, dass sich Ähnlichkeiten mit Kästners eigenem

Leben im Buch aufzeigen lassen.8 Der voluminöse Sammelband von Görtz und Sarkowicz9

beinhaltet außerdem ausführliche Recherchen über die Lebensgeschichte Kästners, die für diese Arbeit sehr interessant sind. Diese Biographie geht weit über Kästners Rolle als Autor hinaus, denn Kästner wird als Mann hinter seinen Werken präsentiert, und zwar vom Kindesalter bis hin zu seinem Tod.

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, gibt es umfangreiche Forschung zu sowohl Erich Kästner als auch über das Kinderbuch DfK sowie ausführliche Sekundärliteratur, die sich mit Kästners

Leben und mit vielen seiner Werke beschäftigt.Eine der Forschungen, von der in dieser Arbeit

ausgegangen wird, ist die von Kurt Beutler.10 Er befasst sich mit der literaturpädagogischen

Untersuchung Kästners und vor allem den Werken DfK und Fabian, sowie mit der Frage der

4 Görtz, Franz Josef/ Sarkowicz, Hans: Erich Kästner: eine Biographie. München: Piper, 1998. S. 277.

5 Vgl. Kästner, Erich: Als ich ein kleiner Junge war. Zürich: Atrium Verlag, 1957.; Karrenbrock, Helga: „Erich Kästners kinderliterarische

Anfänge“. In: Ewers, Hans-Heino; Nassen, Ulrich; Richter, Karin und Rüdiger Steinlein (Hrsg.) Kinder- und Jugendliteraturforschung, Stuttgart, 1998/99, S. 30.; Beutler, Kurt. Erich Kästner. Eine literaturpädagogische Untersuchung. Verlag Julius Beltz, Weinheim und Berlin,1967, S.189.

6 Als ich ein kleiner Junge war. 7 Karrenbrock, S.30.

8 Enderle, Luiselotte: Erich Kästner in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Dargestellt von Luiselotte Enderle. Reinbek bei Hamburg,

1960.

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Erziehung als Gesellschaftsreform in Kästners Jugendliteratur. Beutler befasst sich auch mit den gesellschaftlich-politischen Vorstellungen und den pädagogischen Ansätzen in Kästners Literatur. Besonders wertvoll für diese Arbeit ist die Darstellung der pädagogischen Funktion von Jugendliteratur und auch die Analyse des Erziehungsziels und Erziehungsmethode derer, wobei einer von Beutlers Schwerpunkten auf dem Erziehungsprinzip der Vernunft liegt. Eine

weitere Forschung, die Beutlers erweitert, ist die von Klaus Doderer.11 Auch er schildert sowohl

offizielle als auch private Situationen und Lebensphasen, um Kästners Weltbild zu rekonstruieren, und stützt somit die Vermutung, dass sich autobiographische Spuren in Kästners Werken finden lassen, vor allem in dem Buch DfK. Gleichermaßen baut Doderer auf Kästners Prinzip der Vernunft auf und geht sogar so weit zu behaupten, dass Kästners Plädoyer, mehr

‚gesunden Menschheitsverstand‘ zu gebrauchen, mehr Achtung verdiene.12 Deshalb ist

besonders die Darstellung von Kästners theoretischer Stellungnahme und seinem Bekenntnis zu pädagogischen Fragen in Bezug auf Themen wie Schule, Erziehung und Kindheit interessant und fließt in diese Arbeit mit ein.

Um ein besseres Verständnis für die zeitgeschichtliche Einordnung des Kinderromans zu

erlangen, hat die Forschung von Susanne Haywood13 eine gediegene Grundlage geschaffen. Sie

beschreibt die bestehenden Verhältnisse zur Entstehungszeit und welche Voraussetzungen diese für die fiktiven Figuren in Kästners Kinderbüchern geben. Einige dieser fiktiven Figuren

sind die Jungs in DfK, die auch einen Teil in Andrea Hübeners14 Analyse und Interpretation

ausmachen. Hübeners Fokus liegt auf der Anwendung von Kinder- und Jugendliteratur in der Grundschule und Sekundarstufe 1, und auch hier gehen Grundlagen zur Person Kästners und seinem Leben der Analyse vor. Vor allem liegt ihr Fokus auf den Kinderbüchern Emil und die

Detektive (1929), Pünktchen und Anton (1931) und schließlich dem ausschlaggebenden

Kinderroman für diese Arbeit – dem DfK.

In der Forschungsliteratur wird auch betont, dass Kästners Kinderbücher aufgrund der Eigenschaften der literarischen Figuren als Werke der Aufklärung zu sehen seien, in denen die Stärkung des aufgeklärten Individuums eine wichtige Rolle spiele. Dies wird in DfK vor allem deutlich durch Kästners wiederholtem Anliegen, Kinder mithilfe von Vorbildern zu erziehen, an denen sie sich selbstständig orientieren können. Dies ist nicht zuletzt daraufhin

11 Doderer, Klaus. 2002: Erich Kästner, Lebensphasen – politisches Engagement – literarisches Wirken. Juventa: Weinheim, 2002. 12 Ebd., Klappentext.

13 Haywood, 1998.

14 Hübener, Andrea: Erich Kästners Kinder- und Jugendbücher in der Grundschule und Sekundarstufe I. Hohengehren: Schneider

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zurückzuführen, dass Kästners Weltbild vor allem von aufklärerischer Literatur inspiriert ist, die wiederum auf der Definition des Philosophen Kants auf die Frage, was Aufklärung sei, beruhen. Doderer erklärt, dass Kästner im Jahr 1925 eine Dissertation im Gebiet der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts schrieb, in der er sich vor allem an humanen Grundwerten der Vernunft orientierte, und dass Kästners gewonnene Perspektive sich in seinen

gesamten Werken wiederfinden sollte.15 Die Vermutung, dass der Großteil der Forscher

Kästner als einen Pionier und pädagogischen Wegweiser sieht, lässt sich nicht von der Hand weisen.

2.2. Erich Kästners Leben als Spiegel im

Fliegenden Klassenzimmer

Als einziges Kind einer für die Zeit gewöhnlichen Arbeiterfamilie kam er früh mit Geldsorgen in Kontakt. Seine Mutter vermietete beispielsweise aus diesem Grund ein Zimmer der gemeinsamen Dresdener Wohnung an einen Lehrer. Dieser wurde zu einem Vorbild für Kästner

und er entschied sich dafür, in seine Fußstapfen zu treten und auch Lehrer zu werden.16 Seine

Lehrerausbildung begann Kästner 1913 in einem Internat. Er wurde 1917 in den 1. Weltkrieg eingezogen und entschied sich nach seiner Rückkehr 1919 dafür, die Lehrerausbildung abzubrechen. Ihm gefiel zwar das Lernen sehr, allerdings nicht der strenge und militärähnliche

Erziehungsstil.17 Außerdem fand er es empörend, dass man „begabte fröhliche Jungen

systematisch zu ‚Untergebenen’umschulte“, da dies seinem „angeborenen hochempfindlichem

Sinn für Freiheit und Gleichberechtigung“ widersprach.18 Ein weiterer Grund für den

Ausbildungsabbruch und den Ausriss aus dem Internat war seine erkrankte Mutter.19 Kästner

verarbeitet ihre Krankheit mit einer Schlüsselszene im Buch, auf die ich in 3.1.5. näher eingehen werde.

Ungeachtet dessen, dass Kästner den Beruf des Lehrers nie ausgeübt hat, machte er es sich zur Aufgabe, mit seinen Büchern als Lehrer zu agieren, indem er Tugenden und Moralvorstellungen

vermittelt, um eine bessere Welt zu schaffen,20 und zwar ganz in der Linie mit seinem bekannten

Zitat: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“.21 Das aktive Propagieren seiner Moral und

15 Doderer, S.109-111.

16 Vgl. Enderle, Luiselotte: Erich Kästner in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Dargestellt von Luiselotte Enderle. Reinbek bei

Hamburg, 1960, S.149.

17 Als ich ein kleiner Junge war, S.94; Enderle, S.31. 18 Enderle, S.29.

19 Görtz & Sarkowizc, S. 174.

20 Vgl. Söderhjelm, Kai: De läses än. Svenska och utländska barn- och ungdomsförfattare och illustratörer från 1700–1900-tal: från Louisa

Alcott till Erik Zetterström. A-L, Bibliotekstjänst, Lund, 1992, S.294: ”[…] många barn med alldeles olika bakgrund […] möter en författare som inte talar till dem men med dem”.

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Moralvorstellung wird somit zu einem Werkzeug, und er zu einem Vorbild. Er beeinflusst die kindlichen Leser und will sie zu guten Menschen formen, um somit eine Welt zu schaffen, die er als ideal ansieht. Doderer behauptet deshalb, dass Erich Kästners Pädagogik eine

selbstgewonnene sei da diese auf Kästners eigenen Erfahrungen beruhe.22

Die Erfahrungen des eigenen Lebens formten eine Idealvorstellung von einem Lehrer, die Kästner in seinem Buch mit dem Hauslehrer Dr. Johann Bökh realisierte. Im DfK wird eine Situation beschrieben, in der der Hauslehrer den Schülern gegenüber auf eine besondere Weise

entgegentritt, und zwar so, wie es Kästner sich früher selber gewünscht hätte.23 Kästner wuchs

mit einem Stiefvater auf und die wahrscheinliche Sehnsucht nach dem eigenen leiblichen

Vater24 zeigt eine weitere Parallele zu der literarischen Figur des Hauslehrers. Durch die

Realisierung der Rolle als Vaterfigur für einige Jungs macht dies einen autobiographischen Bezug des Charakters des Dr. Bökh zu Kästners Sehnsucht nach dem eigenen Vater denkbar. Somit war Kästners Werk, auch in seinen eigenen Worten, eng an sein Leben gekoppelt, ebenso kann man sein pädagogisches Streben auf wichtige Erlebnisse und Erfahrungen zurückführen.

2.3. Handlung und Struktur des Kinderromans

Das fliegende Klassenzimmer wir auf der Internetseite „Kaestnerfuerkinder.net“

folgendermaßen rezensiert:

Es ist ein Buch über Schwächen und Stärken, Freundschaften und Herausforderungen und ebenso wie das Leben, voller Überraschungen.25

Diese Rezension verrät nichts über die Handlung, aber doch bekommt man den grundlegenden Überblick über das Buch. DfK verbindet seine spannende Handlung mit einer detaillierten Beschreibung jedes einzelnen literarischen Charakters und deren inneren und äußeren Konflikten, die man anhand unterschiedlicher Erzählperspektiven kennen- und verstehen

lernt.26 Das Werk handelt von der Geschichte der fünf Schüler und Freunde Martin Thaler,

Jonathan ‚Johnny‘ Trotz, Mathias ‚Matz‘ Selbmann, Ulrich ‚Uli‘ von Simmern und Sebastian Frank sowie deren Hauslehrer Dr. Bökh und dessen Freund Robert ‚Der Nichtraucher‘. Die Geschichte spielt in einem Internat in Oberbayern und die Schüler stehen kurz vor den Weihnachtsferien. Die fünf Freunde proben für ein Theaterstück, das „Das fliegende

22 Vgl. Doderer, S.128, S.153.

23 Vgl. Als ich ein kleiner Junge war.; Siehe 3.1.5: Schlüsselsituation DfK, S.83.

24 Vgl. Görtz & Sarkowicz, S.327: Kästner wusste, wer sein leiblicher Vater war und sah ihn als Vorbild. Allerdings war er, der Hausarzt,

im alltäglichen Leben nicht präsent.

25 Unkelbach, Andreas/ Unkelbach, Claudia: „Erich Kästner für Kinder“, 2001, https://www.kaestnerfuerkinder.net/kaestner.php [Stand:

15.10.2020].

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Klassenzimmer“ heißt und auf der abschließenden Weihnachtsfeier aufgeführt werden soll. Die Jungs sind alle grundverschieden, was laut Beutler ein breites Spektrum an Charakteren anbietet, mit denen der Leser Beispiele für unterschiedliche Verhaltensweisen und

Eigenschaften bekommen soll, mit denen er sich identifizieren kann:27 Martin kommt aus

ärmeren Verhältnissen und ist in seiner Eigenschaft mutig. Johnny ist der Autor des Theaterstücks und tritt als introvertierter Junge auf. Matz ist stark und mutig und ein unterstützender Freund für den eher ängstlichen und schüchternen Uli. Sebastian ist der Streber

und hält Abstand von den Anderen.28 Zusammen stehen sie kleinere und größere Konflikte im

täglichen Internatsleben durch, aber vor allem stehen sie füreinander ein.

DfK ist chronologisch verlaufend29 und besteht aus einer Rahmenhandlung und einer

Binnenhandlung. Der Roman besteht auf zwölf Kapiteln, einem Vorwort und einem abschließenden Nachwort. Das Vorwort ist nochmals in zwei Abteilungen unterteilt. Bereits in der Inhaltsangabe des Buches kann man kurze Einleitungen, sozusagen eine extradiegetische Zusammenfassung von dem, was in dem jeweiligen Kapitel geschehen wird, lesen und zu

Anfang von jedem Kapitel wird diese Einleitung wiederholt.30

In der Rahmenhandlung, dem Vor- und Nachwort, tritt ‚Erich Kästner‘ als Ich-Erzähler auf und erzählt, warum er dieses Buch schreibt. Er ist ein allwissender Erzähler, der den Leser durch die Geschichte und Binnenhandlung leitet und anhand von Kommentaren und Erläuterungen

Hintergründe der Geschehnisse vermittelt.31 Dennoch lässt er den Leser aus Sicht der Jungs

lesen. Die Binnenhandlung ist die Internatsgeschichte und die Weihnachtsaufführung, die den Titel des Buches begründet. Die Binnenhandlung ist nochmals in unterschiedliche Handlungsstränge unterteilt und das Buch besteht aus zwei Erzählebenen.

Aber was macht dieses Buch so besonders, und was hat der formale Aufbau mit Wertevermittlung zu tun? DfK ist von einem pädagogischen Ton geprägt mit einer Motivation

im Text, die Kinder zu guten Menschen formen soll.32 Insbesondere sein Vor- und Nachwort,

wie Beutler betont, spielen eine ausschlaggebende Rolle. In erster Linie will Kästner mit seinem Vorwort die Lust zum Lesen wecken und baut mithilfe von kurzen Vorschauen eine Spannung

auf.33 Aber er vermittelt auch Botschaften und Denkanstöße mit einer Mischung aus

27 Beutler, S.155.

28 Vgl. Müller, Beate: Das fliegende Klassenzimmer im Wandel der Zeit – Literaturverfilmungen für Kinder als Spiegel von Geschichte

und Geschehen?, University of Vienna, 2010, S. 27.

29 Hübener, S.28.

30 Kaute, Brigitte/ Schirrmacher, Beate: Literaturanalyse und Literaturtheorie. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Stockholms

universitet, 2014, S.28.

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pädagogischem, aber zugleich auffordernden Ton in einer Art Umgangssprache, mit denen er sich direkt an den Leser wendet: „Wie kann denn ein erwachsener Mensch seine Jugend so vollkommen vergessen […]? (Ich bitte euch bei dieser Gelegenheit von ganzem Herzen:

Vergesst eure Kindheit nie! Versprecht ihr mir das? Ehrenwort?).“34 Der Erzähler der

Rahmenhandlung wird somit zu einem Wegweiser und zu einem Pädagogen. Kästners pädagogisches Streben ist an seine eigene Geschichte gekoppelt und er regt den Leser durch Einbeziehen in diese zum Nachdenken und Reflektieren an, indem er konkrete Fragen und Aufforderungen an sie stellt. Seine Hoffnung auf Humanität drückt er vor allem im Vor- und

Nachwort aus und durch dieses Streben wird der Kinderroman stark intentional.35 Kästner

verfasste das Buch aus der Sicht eines Kindes ganz gemäß seiner Absicht, sich in die Kinder hineinzuversetzen und die Welt aus ihren Augen zu sehen. Er verstand nicht nur ihre

Wirklichkeit, sondern vor allem nahm er die Kinder ernst36 und ergriff ihre Partei, indem er den

Erwachsenen mit der rhetorischen Frage kritisierte, wie dieser denn seine Jugend so vergessen

könne, dass er nicht mehr verstehen kann, wie traurig und unglücklich Kindern sein können.37

Der Grund dafür, dass Kästner die Sorgen und Ängste, die die Jungs im Internat durchlebten

verstand, war einfach, denn diese entsprachen seinen eigenen Erfahrungen.38 Er richtet sich mit

diesem Verständnis aber nicht ausschließlich an die kindlichen Leser, sondern fordert gleichzeitig die Erwachsenen auf, die Welt der Kinder ernst zu nehmen und sich an die eigene Kindheit zu erinnern. Das machte ihn authentisch und zu einem besseren Autor als den, den er

im Vorwort kritisiert.39

Mithilfe seines Vorwortes zeigt er also Verständnis für Kinder und deren Sorgen auf, aber er spricht auch Aufforderungen und Ratschläge an sie aus. Er weiß, dass Kinder traurig sein können und fordert sie deshalb auf, sich eine „Hornhaut“ zuzulegen und „die Ohren steif zu

halten“.40 Auf diese Weise will Kästner die Kinder auf möglichen Gegenwind und

Herausforderungen vorbereiten, mit denen das Leben unerwartet zuschlagen kann. Er will die Kinder ermutigen, stark zu sein, aber auch ehrlich Schwäche zugeben zu können, „wenn’s weh

tut“.41 Er pointiert hier, dass es irrelevant ist, warum man traurig ist, denn „es ist gleichgültig,

ob man wegen einer zerbrochenen Puppe weint, oder weil man, später einmal, einen Freund

34 DfK, S.15

35 Vgl. Karrenbrock, S.30 (Anwendungsfall). 36 Vgl. Hübener, S.7.

37 DfK, 2. Vorwort S.15; Dieser Appell erscheint auch als erstes Bild im Film: Das fliegende Klassenzimmer. Regie: Tomy Wigand.

Drehbuch: Franziska Buch, Henriette Piper, Hermine Kunka. Deutschland: Bavaria Filmverleih- und Produktions GmbH, Lunaris Film, ZDF, 2003. Fassung: DVD. Euro Video, 2003, Sequenz 0:00:14-0:00:32. Im Folgenden abgekürzt: DfK 2003.

38 Vgl. Als ich ein kleiner Junge war.

39 DfK, S.2 Vorwort S.15: „Der unaufrichtige Herr tut, als ob die Kindheit aus prima Kuchenteig gebacken sei“. 40 Ebd., S.18.

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verliert.“42 Er stellt die Kinder mit den Erwachsenen auf eine ebenbürtige Stufe und zerschlägt

somit hierarchische Strukturen.43

Es gelingt Kästner eine Nähe zum Leser aufzubauen und auch, dass der Leser sich leicht mit der Erzählung identifizieren kann und somit zu einem Teil der Geschichte wird. Dies trägt dazu bei, dass der Leser den Aufforderungen Kästners leichter folgen kann, und auch dadurch, dass

die häufigen Dialoge die Erzählung lebendiger werden lässt,44 werden gute Voraussetzungen

geschaffen, um die erzieherische Absicht Kästners in die Tat umzusetzen. Bereits im Vorwort benennt Kästner eine der Figuren der Binnengeschichte, Johnny Trotz, und verbindet somit die Rahmenhandlung mit der eigentlichen Erzählung.

Die eigentliche Geschichte und Haupthandlung ist die Binnenhandlung, die eine Dauer von vier

Tagen kurz vor Weihnachten beschreibt.45 Die Geschichte des Romans endet mit einem

glücklichen Schluss und einer Hoffnung für eine gute Zukunft.46 Im Nachwort wird dann ein

Übergang zwischen Binnengeschichte und dem Rahmen geschaffen und dieser somit geschlossen.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Vermittlung der Moral auf zwei Ebenen stattfindet: Einmal durch den Rahmen, also Vor- und Nachwort, in dem Kästner als Erwachsener direkt mit den Lesern spricht, und einmal in der Binnengeschichte durch die literarischen Figuren, die Kästners Moral leben und darstellen. In der Binnengeschichte wird

die Moral sowohl implizit als auch explizit dargestellt.47

3. Analyse und Ergebnisse

Dieses Kapitel beinhaltet die intermediale Analyse von DfK des Jahres 1933 und der Adaption von 2003, sowie ein kurzer Ausblick in die gegenwärtige Darstellung der Anforderungen an die Rolle des Lehrers im Vergleich zum DfK. Für eine angemessene Analyse von DfK muss es

42 DfK., S.15. 43 Hübener, S. 7.

44 Ebd., S.28; Vgl. Kaute & Schirrmacher S. 30-31 (Nähe/Unmittelbarkeit der direkten Rede); Vgl. Beutler, S.159 „Anna Krüger (Autorin

des Buches „Kinder- und Jugendbücher als Klassenlektüre. Analysen und Schulversuche.“) selbst sieht in Kästner den ersten Deutschen, der die Welt der Kinder für die Jugendlichen lebendig darstellte.“.

45 Hübener, S.28.

46 Vgl. Beutler, S.169: „Happy End” zur Auflösung der Spannung, „positive Lösungen tragen am besten zu einer Konstruktion des

gehäuften Glücks“ bei. (=Hoffnung, Befreiung, usw.).

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in den historischen Kontext eingeordnet werden, um die Hintergründe in der Erzählung verstehen zu können.

In diesem Kapitel werden Antworten auf die Fragen ‚Was ist gleich, was neu, was ist anders in der Adaption im Vergleich zum Buch?‘ und ‚In welchem Verhältnis stehen die vermittelten Werte zu den gegenwärtigen Ansprüchen an die Rolle des Lehrers?‘ gesucht und vorgestellt. Abschließend folgt die Zusammenführung und Diskussion der Ergebnisse um zu präsentieren, inwiefern der Kinderroman moderne Werte vermittelt oder nicht, und um mich der Beantwortung meiner Forschungsfrage anzunähern, inwiefern das Kinderbuch Aktualitätswert besitzt.

3.1. Die 1930er Jahre und der Kinderroman Das

fliegende Klassenzimmer

3.1.1. Die Entstehungszeit

Der Kinderroman entstand kurz vor dem Ende der Weimarer Republik vor der Machtübernahme Hitlers und den Nationalsozialisten in Deutschland. Viele Schriftsteller flohen bereits vor der Machtübernahme aus dem Land aus Angst vor dem, was sie erwarten könnte. Viele Schriftsteller wurden verhaftet und erhielten Publikationsverbot und Bücher, die sich gegen den deutschen Geist stellten, gerieten auf die sogenannte schwarze Liste. Lediglich diejenigen, die sich dazu bereit erklärten, die NS-Bewegung zu bejahen, durften weiterhin als Schriftsteller tätig sein mit der Einschränkung der persönlichen Freiheit und mit der

Beschränkung des Rechts der freien Meinungsäußerung.48 Das Ziel mit diesen Regeln und

Gesetzen war die Bekämpfung von Schriften, die zu weltoffen, liberal und unmoralisch für die NS-Bewegung war. Politische Kritik oder gar eine zu der NS-Bewegung abweichende Weltanschauung war strengstens untersagt.

Die Kinderromane dieser Zeit waren geprägt davon, die Wirklichkeit und die geltenden

Umstände darzustellen:49 Kinder ordneten sich den Erwachsenen unter und der absolute

Gehorsam ohne Infragestellen waren übliche Themen. Kästners Kinderromane, vor allem DfK, stellten den totalen Gegensatz dar. Das Thematisieren der Gültigkeit von Regeln und inwiefern diese eingehalten oder gegen sie verstoßen werden kann, wenn die Moral stärker wiegt, war nur

48 BPD Bundeszentrale für politische Bildung: „Tag des Buches- Erinnerung an die NS-Bücherverbrennung vor 85 Jahren“, 8.5.2018,

https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/268884/ns-buecherverbrennung, [Stand 21.10.2020].

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eines der Beispiele dafür, warum sein Kinderroman verboten wurde.50 Dieser Appell an

selbstständiges und kritisches Denken und Handeln stand in Kontrast zu der NS-Ideologie von

blindem Gehorsam im Kollektiv der ‚Volksgemeinschaft‘ und war somit politisch brisant.51

Seine literarischen Figuren sind außerdem unabhängig und selbstständig und werden von einer Moral ausgezeichnet, die zu der Zeit nicht erwünscht war. Ein anderer Grund, der zum Verbot des Kinderromans, vor allem aber Kästners sehr liberalem Buch Fabian. Die Geschichte eines

Moralisten (1931) geführt hat, war das Einführen von sozialen und familiären Tabuthemen.52

Am 10. Mai 1933 wurden dann die Bücher dieser schwarzen Liste verbrannt, unter anderem

DfK, das Anfang 1933 erstveröffentlicht wurde. Bis einschließlich Kriegsende 1945 hatte

Kästner Schreibverbot. Doch trotz des Schreibverbots wurden seine Bücher weiter

veröffentlicht, allerdings in der Schweiz beim Atrium Verlag.53

DfK kann der realistischen Kinder- und Jugendliteratur54 der Epoche der Neuen Sachlichkeit zugeordnet werden, eine Epoche der Übergangszeit, in der Werte wie die des absoluten Gehorsams und des Respekts vor patriarchalischer Autorität mit den neuen Ideen der Freiheit kollidierten. Haywood erklärt, dass diese Epoche als Reaktion auf die veränderten

Sozialstrukturen und veränderte Verhältnisse des öffentlichen Lebens entstand.55 Außerdem

bemühte sich die Literatur um eine wahrheitsnahe Wiedergabe der Wirklichkeit mit beliebten Themen wie beispielsweise Armut, gesellschaftliche Veränderungen und soziale Probleme der

Weimarer Republik.56 Typisch für diese Epoche war auch, dass Werke von Dialogen der

handelnden Personen geprägt sind, die aber kaum oder keine Gefühle zeigen.57 Ein Merkmal,

das auch im DfK wiederzufinden ist.58

3.1.2. Das Thema Kindheit

Diese Themen kommen somit auch in DfK vor, einem Kinderroman mit dem Thema Kindheit

als Grundstein. Was bereits als Appell im Vorwort erscheint,59 wiederholt sich bei der

Abschlussrede der Weihnachtsfeier:

50 Siehe 3.1.4. Thema Moralvorstellung und 3.1.5. Die Schlüsselszene.

51 Vgl. Wigand, Tomy: „Das fliegende Klassenzimmer: Arbeitsmaterialien für den Unterricht“, 2007,

https://www.goethe.de/resources/files/pdf72/Tomy_Wiegand_-_Das_fliegende_Klassenzimmer_D_2002.pdf [Stand 21.10.2020], S.60.

52 Hübener, S.10.

53 Söderhjelm, S.289; Enderle, S.68–69. 54 Hübener, S.28.

55 Haywood, Susanne: Kinderliteratur als Zeitdokument: Alltagsnormalität der Weimarer Republik in Erich Kästners Kinderromanen.

Lang, Frankfurt am Main, 1998, S.181.

56 Brenner, S.239. 57 Ebd., S.239. 58 Siehe 1.1.3.

59 DfK, 2. Vorwort S.15: „(Ich bitte euch bei dieser Gelegenheit von ganzem Herzen: Vergesst eure Kindheit nie! Versprecht ihr mir das?

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Um die Hauptsache nicht zu vergessen […] Vergesst eure Jugend nicht! Das klingt jetzt, wo ihr noch Kinder seid, recht überflüssig. Aber es ist nicht überflüssig. Glaubt es uns! Wir sind älter geworden und trotzdem jung geblieben. Wir wissen Bescheid […]!60

Auch in dem Klappentext des Kinderromans und in der Anrede zum Schulbeginn schreibt

Kästner: „Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch!“,61 und dass man nie den

Kontakt zu seiner Kindheit verlieren darf, da man sonst kein guter Mensch ist.62 An mehreren

Stellen im Kinderroman wird Kästners enger Bezug zum Thema Kindheit aufgegriffen, sowohl in Apellen als auch in Wünschen, wie beispielsweise in einem Gespräch zwischen den Erwachsenen Dr. Bökh und seinem Freund dem ‚Nichtraucher‘: „Ich wünschte, es gäbe mehr

Menschen, die Zeit hätten, sich an das zu erinnern, was wesentlich ist.“63 Für Kästner ist also

ein idealer Erwachsener ein Mensch, der seine Kindheit nicht vergessen hat. Und genau so jemand ist unter anderem der Hauslehrer Dr. Bökh, was dieser mit folgender Aussage belegt:

„Wir gehören zu euch. […] Wir sind älter geworden aber jung geblieben“.64 Es wird also

deutlich, dass das Ziel Kästners ist, den kindlichen Lesern klarzumachen, wie wichtig deren

Kindheit ist, und auch in Zukunft sein wird, wenn sie selber erwachsen sind.65

Kästners Kinderbücher sind für Kinder geschrieben, und um bei einem Kind Leselust zu

wecken, muss das Buch etwas beinhalten, das zum Lesen lockt und einlädt.66 Kästner hat laut

Beutler bereits vor 1933 nach diesem Prinzip geschrieben: Eine Geschichte, mit der der Leser

sich identifizieren kann, mit einem Helden und einem glücklichen Ende.67 In DfK geht er einen

Schritt weiter, indem er Wert- und Moralvorstellungen vermittelt, um dem Leser bei seiner Identitätssuche eine Orientierung zu geben. Das machte das Kinderbuch für die Zeit seiner Veröffentlichung kontrovers.

3.1.3. Die zeitliche Prägung

Eines der Probleme der Weimarer Republik war die Massenarbeitslosigkeit.68 Diese spiegelt

sich in der Familiengeschichte von Martin wider, dessen Vater arbeitslos ist. Die Familie lebt

in ärmlichen Verhältnissen und hat kein Geld für Martins Heimreise in den Weihnachtsferien.69

Die Kinder in der Erzählung, hier vor allem Martin, sind nicht zu jung, um über die Umstände

60 DfK, S.146.

61 Ebd., Klappentext; Kästner, Erich: „Zum Schulbeginn. Ansprache zum Schulbeginn, 1925“. In: Kästner, Erich: Was nicht in euren

Lesebüchern steht. Fischer Taschenbuch Verlag, 1974.

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der Zeit zu reflektieren.70 Er hält diese Armut vor seinen Freunden geheim, öffnet sich aber

schließlich gegenüber dem Hauslehrer Dr. Bökh, der ihm daraufhin finanziell hilft und somit das Problem löst. In dieser Situation wird außerdem veranschaulicht, dass nicht nur Martin glücklich ist, dass er über die Weihnachtsferien nach Hause fahren kann, sondern auch Dr. Bökh glücklich darüber ist, dass er Martin helfen konnte. Dahinter steckt die Botschaft, dass es etwas Gutes ist, anderen zu helfen und auch, dass es in Ordnung ist, nach Hilfe zu fragen und diese anzunehmen. Das Privatisieren und das Verheimlichen von Problemen war typisch während der Weimarer Republik und Haywood merkt an, dass ebenso die Beherrschung keine oder kaum

Gefühle zu zeigen zeittypisch war.71 Weiter erläutert sie, dass Selbstbeherrschung und Angst

jedoch zu Taten führen können, in denen man sich beweisen muss, um nicht als schwach

aufgezeigt zu werden,72 in diesem Fall handelt es sich um einen undurchdachten

Fallschirmsprung. Der kleine Uli will seine Schwächen besiegen und anhand dieser Mutprobe beweisen, dass er doch stark ist. Allerdings endet die Mutprobe mit einem Beinbruch, aber das

Ziel, Respekt und soziale Anerkennung bei den Mitschülern zu gewinnen, wurde erreicht.73 Die

Reaktion von Dr. Bökh ist ein weiterer zeitlicher Bezug und Beleg dafür, dass Schwäche nicht wünschenswert war, sondern:

Vergeßt nicht, daß so ein Beinbruch weniger schlimm ist, als wenn der Kleine sein Leben lang Angst davor gehabt hätte, die anderen würden ihn nicht für voll nehmen. Ich glaube wirklich, dieser Fallschirmabsprung war gar nicht so blödsinnig, wie ich zunächst dachte.74

Mut und Stärke zeichnen also das Idealbild eines Menschen der Weimarer Republik aus75 und

Kästner stellt die literarischen Figuren der Jungs als solche dar: Sie sind mutig, selbstbewusst

und selbstständig.76 Aber nicht nur Mut, sondern auch Verzweiflung wird im Kinderroman

thematisiert mit Aussagen wie „Es wäre doch gelacht, […], wenn das Leben nicht schön wäre“77

oder „Sehr glücklich bin ich nicht. Das wäre gelogen. Aber ich bin auch nicht sehr

unglücklich.“78 Das zu der Zeit herrschende Machtverhältnis und die hierarchische Struktur

sind sicherlich einer der Gründe für Verzweiflung. Hierarchie und Unterordnung ist anhand des Siezens der Primaner durch die Tertianer veranschaulicht, also der jüngeren Schüler gegenüber

den Älteren.79 Ebenso Kästners Unmut über Machtverhältnisse wird in folgendem Zitat

70 DfK, S.123 (Martin, der kein Geld hat um über Weihnachten nach Hause zu fahren): „Es liegt an der Ungerechtigkeit, unter der so viele

leiden“.

71 Vgl. Brenner, S.239; Haywood, S.102; Siehe 1.1.1. 72 Haywood, S.102, S.152. 73 Beutler, S.223. 74 DfK, S.116–117. 75 Hübener, S.29; Beutler, S.211. 76 Haywood, S.22. 77 DfK, S.96. 78 DfK., S.158.

79 Anmerkung: Siezen: Vgl. Hübener, S. 28; Primaner: veraltet für Oberstufenschüler im Alter 16-19 Jahre. Primaner hatten die Aufgabe,

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deutlich: „An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern

auch die, die ihn nicht verhindern.“80 Hier werden sowohl Verursacher als auch diejenigen

Menschen angeklagt, die nicht das Verursachte verhindert haben. Überträgt man dies auf die 1930er Jahre, ahnt man, dass es sich um die bereits absehbare Machtübernahme und den Nationalsozialismus handelt und um die Diktatur Hitlers, das blinde Folgen und sich nicht zur Wehr setzen, oder vielmehr das nicht Verhindern seitens der Bevölkerung. Diese Aussage belegt ein weiteres Mal, dass Kästner als Moralist auftritt und die Erzählung mit den Umständen der Entstehungszeit markiert wird.

3.1.4. Die Moralvorstellungen

Kästners Intention ist, dem Leser anhand von Beispielen in der Erzählung gewisse Themen und

Werte näher zu bringen, sozusagen ein Bildungswerk zum Erwachsenwerden.81 Er behauptet

selber, dass Kinderbücher dann gut seien, wenn sie Werke der Erinnerungen seien, die darauf

beruhen, dass man ein Kind kennt. Und Kästner kennt ein Kind – nämlich „sich selber“.82 Der

Stoff des Buches ist also die Kindheit, was nicht nur in diesem Kinderbuch deutlich wird,

sondern in vielen anderen Werken Kästners83 wird das Leitmotiv,84 die Kindheit

wertzuschätzen, aufgegriffen.

Relativ zu Anfang der Binnengeschichte werden unter anderem Freundschaft, Loyalität und Mut thematisiert. Die fünf Freunde verstoßen gegen die Hausordnung des Internats, um ihrem Freund zu helfen. Sie sind selbstständig, einander loyal und tun das, was sie für moralisch richtig halten, auch wenn dies ein Verstoß gegen die Regeln ist und Konsequenzen wie Bestrafung mit sich bringen kann. Diese Zivilcourage ist mutig und ein starker Beweis für deren Freundschaft mit Bereitschaft, für sein Handeln Verantwortung zu übernehmen. Der Verstoß gegen die Hausordnung thematisiert die Gültigkeit von Regeln, und dass das Einhalten notwendig ist, um nicht bestraft zu werden. In derselben Ausgangssituation wird aber auch das Infragestellen von Regeln dargestellt, wenn Regeln als nicht einhaltbar gewertet werden oder der Grund für einen Verstoß einem moralischen Wert zugrunde liegt.

Das Buch behandelt aber nicht nur die Themen Freundschaft, Loyalität und Mut, sondern Vertrauen ist auch ein wiederkehrendes Thema, das das Buch mit einem roten Faden durchläuft. Weitere zeitlose Themen sind beispielsweise Verantwortung, Ehrlichkeit, Familie und das

80 DfK, S.103.

81 Kaute & Schirrmacher, S.15: Das Thema als Handlungsgerüst und der abstrakte Grundgedanke/ das Thema, der/das das Werk oft

mit Schlüsselwörtern beschreiben lässt: Moral, Erwachsenwerden = Bildungswerk.

82 Karrenbrock, S.30.

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alltägliche Leben in der Schule, ebenso Eigenschaften wie Empathie, Hilfsbereitschaft und Respekt. Mit all diesen Themen kann sich der Leser identifizieren und diese auch auf das eigene Leben übertragen.

Speziell in diesem Buch ist das Thema Freundschaft. Es geht um die Freundschaft der Schüler untereinander, zwischen Erwachsenen aber auch zwischen den Schülern und Erwachsenen. Die fünf Freunde sind – wie bereits erwähnt – grundverschieden, und dennoch beeinflusst dies nicht deren Beziehung. Die Tatsache, dass sie zusammen in einem Internat leben, lässt diese Freundschaft sogar mit etwas familienähnlichem vergleichen. Sie halten zusammen und stehen

füreinander ein. Diese Art von Hilfsgemeinschaft stellt Kästners Idealbild einer Schule dar.85

Die richtigen Familien der Jungs werden im Buch teilweise erwähnt, aber spielen eine

nebensächliche Rolle, denn die Schüler treffen ihre Eltern nur selten, meist in den Schulferien.86

Familiäre Probleme, Ängste und Kummer werden nicht mit den Eltern, sondern – wenn überhaupt – mit den Freunden besprochen. Johnny wurde beispielsweise von seiner Mutter verlassen und von seinem Vater übergeben, und später von einem anderen Mann angenommen. Das Verlassenwerden vom Vater kann abermals auf das Leben von Kästner zurückgeführt

werden, der ohne seinen leiblichen Vater aufwuchs und so wie Johnny einen Ersatzvater hatte.87

Die Freundschaft zwischen den Schülern und dem Erwachsenen Hauslehrer Dr. Bökh ist ein besonderes Lehrer-Schüler-Verhältnis. Da es sich in dieser Erzählung um eine Internatsschule handelt, in der die Schüler wohnen und all ihre Zeit verbringen, ist dieses Verhältnis enger, als es in einer normalen Schulsituation wäre:

‚Nicht doch, lieber Justus! rief Matthias […], verbesserte sich rasch und meinte verlegen: ‚Nicht doch, lieber Herr Doktor. Sie wissen doch hoffentlich, wie sehr wir Sie…‘ Er brachte es nicht heraus. Er schämte sich zu bekennen, wie sehr sie den Mann am Fenster liebten.88

Der Hauslehrer Dr. Bökh ist demnach nicht nur der Lehrer der Jungs, sondern übernimmt hier auch die Rolle einer Vaterfigur. Er übernimmt somit eine wichtige Aufgabe in dem Kinderroman, nicht zuletzt, weil diese literarische Figur als Kästners Sprachrohr agiert, um seine Moralvorstellungen und das Idealbild eines Erwachsenen und das eines Wunschlehrers zu vermitteln. Dr. Johann Bökh wird von den Schülern ‚Justus‘ genannt, Justus der Gerechte. Er ist verständnisvoll und stellt für die Jungs eine Art Vaterfigur dar. Und er ist gerecht. Kästner gelang es, mit dem Hauslehrer eine Vertrauensperson und ein Vorbild für die Schüler zu

85 Doderer, S.169. 86 DfK, S.20.

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schaffen, dem Moral wichtiger ist als absoluter Gehorsam.89 Der Gehorsam kann hier auf die

Schulbücher zurückgeführt werden, denen man laut Kästner gelegentlich misstrauen soll. Denn Schulbücher sind aus alten Büchern entstanden, die wiederum auf alte Bücher aufbauen, was

Kästner Tradition nennt- und kritisiert.90 Das eigene und kritische Denken rückt hier erneut in

den Vordergrund.

3.1.5. Die Schlüsselszene

Eine Schlüsselszene, die ich näher beschreiben möchte, handelt von Dr. Bökh und einem aufklärenden Gespräch, das er mit den Jungs führt. Auch seine Gerechtigkeit wird in dieser

Szene laut Beutler deutlich.91 Dieses Gespräch findet im fünften Kapitel des Buches statt. Die

Jungs wollen ihrem Klassenkameraden aus der Klemme helfen und anhand der Reaktion des Hauslehrers zeigt diese Szene repräsentativ, welche moralischen Werte ihn treiben, wie er diese vermittelt und auch was seine erzieherischen Absichten sind.

Die fünf Freunde verstoßen bewusst gegen die Hausordnung, um ihrem entführten Klassenkameraden und Freund Rudi zu helfen. Er wurde von den gegnerischen Realschülern in einen Keller eingesperrt und mit Ohrfeigen misshandelt. Die Jungs wollen deshalb in einem Zweikampf gegen die Realschüler kämpfen, um ihn zu befreien, und zwar mit jeweils einem Vertreter der Realschüler und einem der Gymnasiasten. Trotz dem Matz den Kampf gewinnt, brechen die Realschüler ihr Versprechen und lassen Rudi nicht frei, woraufhin eine wilde Schneeballschlacht zwischen den beiden Gruppen beginnt, während der sich Matz, Johnny und Matthias fortschleichen, um Rudi eigenhändig zu befreien. Auf dem Rückweg ins Internat werden die Jungs von dem Primaner Theo abgefangen, der die Jungs an Dr. Bökh verrät und sie direkt zu ihm führt. Dr. Bökh empfängt die Jungs zu einem Verhör. Er zieht keine voreiligen Schlüsse, nur um blind den Regeln der Hausordnung zu folgen und den Verstoß gegen diese zu bestrafen, sondern er lässt die Jungs zuerst erklären, was der Beweggrund für deren Handlung war.

‘Wie heißt der einschlägige Artikel der Hausordnung, Uli?‘ ‚Den Schülern des Internats ist es verboten, das Schulgelände außer während der Ausgehzeiten zu verlassen‘, antwortete der Kleine ängstlich. ‚Gibt es irgendwelche Ausnahmefälle?‘, fragte Bökh. ‚Matthias!‘ ‚Jawohl, Herr Doktor‘, berichtete Matz. ‚Wenn ein Mitglied des Lehrkörpers das Verlassen der Schule anordnet oder gestatte.‘ ‚Welcher der Herren hat euch denn in die Stadt beurlaubt?‘ fraget der Hauslehrer. […] ‚Warum musstet ihr in die Stadt hinunter?‘ fragte der Lehrer. ‚[…] um den Gefangenen zu befreien.‘ ‚Habt ihr ihn befreit?‘ fragte der Lehrer. […] ‚Wurde jemand verletzt?‘ fragt er dann.92

89 Vgl. Müller S.24, S.28.

90 Ansprache zum Schulbeginn.; Doderer, S.161. 91 Beutler, S.228.

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Ein weiteres Thema, das auch in dieser Szene bearbeitet wird, ist Vertrauen. Dr. Bökh will für die Jungs eine Vertrauensperson und ein Vorbild sein, indem er Verständnis für deren Handeln aufbringt und auch dafür, dass man manchmal gegen Regeln verstoßen muss, um das wirklich

Richtige zu tun. Es wird zudem deutlich, dass er um das Wohl der Jungs besorgt ist.93 Es wäre

allerdings zu utopisch, wenn Kästner es hierbei belassen würde, deshalb lässt er den Dr. Bökh doch eine Konsequenz, und zwar eine Bestrafung durchführen. Aber auch diese entspricht nicht den Regeln der Hausordnung von 14 Tagen Ausgangsverbot, sondern es handelt sich lediglich um einem Tag Ausgehverbot am ersten Tag nach den Ferien, folglich eine milde und

salomonische Bestrafung.94 Dr. Bökh trifft also eigenmächtig eine Entscheidung, die sich zwar

an die Regeln anlehnt, ihnen aber nicht entspricht. Damit rückt auch das Thema Vernunft und Verantwortung für das selbstständige Denken, um Entscheidungen treffen zu können, ins Bild. Dr. Bökh vermittelt trotzdem deutlich, dass er darüber enttäuscht ist, dass die Jungs ihm nicht

vorher erzählten, in welcher Situation sie sich befanden.95 Sowohl Dr. Bökh als auch Erich

Kästner konnten sich ihren Lehrern nicht anvertrauen und beide hätten sich folglich eine Vertrauensperson in ihrem Leben gewünscht, mit der sie ehrlich hätten reden können. Erich Kästner erfüllte sich den Wunsch, indem er den Hauslehrer Dr. Bökh gestaltete, um den Jungs bessere Voraussetzungen zu geben, als er selber gehabt hatte. Dies belegt folgende Passage:

Der Junge aber […] nahm sich damals vor, dass er in diese Schule, in der er als Kind gelitten hatte, weil er keinem Vertrauen konnte, später einmal selber Hauslehrer werden wollte. Damit die Jungen einen Menschen hatten, dem sie alles sagen können, was ihr Herz bedrückt.96

Abschließend erzählt Dr. Bökh eine Geschichte von einem Jungen, der genau wie die fünf Jungs in ein Internat ging und ausgerissen war. Die Mutter des Jungen war erkrankt und er wollte sie besuchen – genau wie Erich Kästner einst, als er aus dem Internat ausriss, um seine erkrankte

Mutter zu besuchen.97 Ebenso wie die fünf Freunde wurde der Junge damals von einem

Primaner am Schultor abgefangen und an den Hauslehrer ausgeliefert. Dr. Bökh beschreibt diesen Primaner als „einer von denen, die noch nicht reif genug sind, die Macht, die ihnen

übertragen wurde, vernünftig und großmütig auszuüben.“98 und Dr. Bökh erzählte weiter, dass

der Junge auf die Frage hin, wo er gewesen sei, sich lieber die Zunge abgebissen hätte als ehrlich zu antworten, dass seine kranke Mutter der Anlass für den Ausriss war. Auch dem Hauslehrer hatte der Junge nicht den wahren Grund genannt, denn „auch er war keiner von denen, denen

93 Doderer, S.163.

94 Hübener, S.29: salomonisches Urteil: mildes, gerechtes, lebenskluges Urteil.

95 DfK, S.78: „Warum habt ihr mich denn nicht gefragt? Habt ihr denn so wenig Vertrauen zu mir? […] Dann verdiene ich ja selber

die Strafe! Denn dann wäre ich an eurem Fehler schuld.“

96 Ebd., S.83.

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sich der Junge hätte anvertrauen können“.99 Der Junge bekam daraufhin vier Wochen

Hausarrest, welchen er jedoch missachtete, was zur Einsperrung in den Karzer führte. Damit der er weiterhin seine kranke Mutter besuchen konnte, hatte sein bester Freund die Strafe für ihn im Karzer abgesessen. Am Ende der Geschichte gesteht Dr. Bökh, dass der Junge in der Geschichte er selber war.

Diese Ehrlichkeit und Offenheit lassen Dr. Bökh zu einem vertrauenswürdigen Vorbild für die Jungs werden und viele andere, beispielsweise die Mutter von Martin, sind ihm dankbar, dass er so ist wie er ist.100

3.1.6. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis

Zu dem Zeitpunkt, an dem Kästner das Buch schrieb, stand der Lehrer in der Hierarchie höher

als der Schüler.101 Diese Rangordnung zerschlägt er aber, indem Dr. Bökh die Jungs nicht nach

den Regeln der Hausordnung bestraft, als sie aus der Schule ausbrechen. Er setzt sich über die Machtverhältnisse hinweg, duldet und heißt es sogar in einer Art gut, dass die Jungs das Wohlbefinden von Rudi und die Gerechtigkeit über die Gültigkeit von Regeln setzen. Sie beurteilten ihre Moral als wichtiger, und das zeugt von selbstständigem und kritischem Denken. Auch Kästner fordert auf, sich nicht immer an Regeln zu halten und nicht immer an Schulbücher

zu glauben.102 Durch dieses Verhalten werden die Jungs zu einem Vorbild für den Leser.

Trotzdem haben sie großen Respekt vor Dr. Bökh und dem geltenden Lehrer-Schüler-Verhältnis und halten angemessenem Abstand: „Martin machte eine Bewegung. Er sah fast so aus, als wolle er seinem Lehrer um den Hals fallen. Er tat es natürlich nicht, sondern trat

respektvoll zurück und blickte den Justus lange und treuherzig an.“103 Hier hätten wir also einen

Beleg dafür, dass Erich Kästner die literarische Figur des Dr. Bökh als Idealbild darstellt und als Sprachrohr seiner eigenen Wünsche, Vorstellungen und Moralansprüche benutzt. Dr. Bökh steht den Schülern zur Seite, er ist ihnen eine Orientierungshilfe und ein Vorbild, „ein Modell

für soziale Beziehungen“.104 Er nimmt die Kinder ernst, genauso wie Kästner es tut. Sämtliche

Hauptthemen des Buches werden außerdem in der beschriebenen Schlüsselszene gesammelt: Freundschaft, Mut, Vertrauen, Verständnis, Ehrlichkeit und Verantwortung.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass alle Themen des Buches alltägliche Eigenschaften im Leben des Lesers besitzen. Diese Grundlage gepaart mit dem Präsentieren

99 DfK, S.82.

100 Ebd., S.167: „Sie sind ein guter Mensch. Sie verdienen, daß alle Ihre Schüler gute Menschen werden!“ 101 Hübener, S.29.

102 Anrede zum Schulbeginn; Doderer, S.161. 103 DfK, S.156.

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von positiven und vorbildlichen Charakteren, mit denen sich der Leser identifizieren kann, sowie der Intention und Hoffnung Kästners, „dass die Menschen vielleicht doch ein wenig […]

besser werden konnten“,105 wurde DfK verfasst. Kästners Leitmotiv106 war sozusagen einen

„Humanisierungsprozess der Gesellschaft in Gang setzen“,107 denn Kästner setzt nicht nur

Hoffnung in die Kinder, sondern er glaubt an sie.108 Beutler erklärt, dass die Erziehungsmethode

von Kästners Buch sich als „sozialintegrative Methode der Zusammenarbeit“ bezeichnen lässt,

also einem demokratischen Erziehungsstil.109 Hübener ergänzt, dass Kästner den Lesern mit

dem Kinderbuch außerdem einen fiktionalen Fluchtort gab, an dem sie ihre realistischen

Probleme unter Orientierung an Kästners Moral bewältigten konnten.110

Da das Buch DfK für diese Arbeit der Ausgangspunkt ist, ist diese Analyse die Grundlage für weitere Vergleiche und nähert sich einer Beantwortung der Forschungsfrage an, inwiefern die Lehrerfigur als Übermittler der dargestellten Werte und Tugenden dargestellt wird und in welchem Verhältnis die erzieherische Absicht zu den Erwartungen an den Lehrer von heute steht.

3.2. Die 2000er Jahre und Wigands Adaption von

Das fliegende Klassenzimmer in 2003

3.2.1. Exkurs: Zeitraffer der Geschichte zwischen Buch und Film

Durch den Zweiten Weltkrieg, der nur wenige Jahre nach Hitlers Machtübernahme ausbrach, kam es zu materiellen Notständen und Unterrichtsmaterial war Mangelware. Erst nach Kriegsende und der Währungsreform in 1948 konnte solches wiederbeschafft werden. Auch an Lehrkräften mangelte es, und die noch vorhandenen Lehrer waren überaltert und durch

Entnazifizierung überfordert und somit nur bedingt einsetzbar.111 Klaus-Peter Horn, Professor

für allgemeine und historische Erziehungswissenschaften, erklärt, dass sich das pädagogische Arbeiten in der Schule nach dem Krieg ebenfalls änderte, denn die geisteswissenschaftliche

Pädagogik112 setzte sich durch. Mit ihr fiel die Orientierung am Individuum, der Persönlichkeit

105 Mounier, S.17.

106 Kaute & Schirrmacher, S.16.

107 Mounier, Barbara: „Das fliegende Klassenzimmer. Film-Heft“, 2002,

http://www.film-kultur.de/publikationen/das_fliegende_klassenzimmer.pdf [Stand: 21.10.2020], S.17.; Vgl. Beutler, S.268: „Kästners Erziehungskonzeption [zielt] auf die Realisierung einer humaneren Welt“.; Vgl. Doderer, S.113.

108 Hanesch, S.54; Vgl. Doderer, S.144 „Optimismus“. 109 Beutler, S. 270.

110 Vgl. Hübener, S. 9.; List, S.273.

111 Enzelsberger, Sabina: Sozialgeschichte des Lehrerberufs: Gesellschaftliche Stellung und Professionalisierung von Lehrerinnen und

Lehrern von den Anfängen bis zur Gegenwart. Beltz Juventa, 2001, S.189.

112 Anmerkung: Pädagogik und Erziehung als Ergebnis geschichtlicher Entwicklungen, diese wird als geistig-kulturelles und

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oder der Gemeinschaft weg.113 Stabil wurde die Schule erst wieder in den 1960er Jahren und

neue Bildungsziele, mit denen soziale, konfessionelle und geschlechtsspezifische

Ungleichheiten abgebaut werden sollten, wurden später in den 1970ern festgelegt.114 Modern

war die antiautoritäre Erziehung, die als zwangsfreie Form der Erziehung galt, genauer gesagt, die keine unnötige Unterdrückung der Selbstentfaltung des Kindes durch Autoritäten

propagierte.115 In den 1980er Jahren veränderten sich die Anforderungen an die Rolle des

Lehrers dann insofern, dass diese nun nicht mehr als bedeutungsvoller Teil der Erziehung des Schülers galt. Das bedeutete, dass zwischenmenschliche Werte weniger wichtig waren und

Lehrer mehr oder weniger lediglich die Funktion eines Wissensübermittlers hatten.116 Somit

verschwand also die Funktion des Lehrers als Vorbild und Mentor.

3.2.2. Die aktuellste Verfilmung und das Buch im Vergleich

70 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Kinderromans wurde 2003 die dritte Verfilmung von Tomy Wigand veröffentlicht. Die Wahl ist aus verschiedenen Gründen auf die Adaption von 2003 gefallen. Es ist die aktuellste Adaption und der intermediale Vergleich somit am nächsten an den Zeitpunkten ‚damals‘ und ‚heute‘. Neue Themen und Figuren treten in dieser Verfilmung auf und auch einige Handlungen unterscheiden sich vom Buch. Kästner selber kommt beispielsweise in dem Film nicht mehr vor und wird durch einen Rahmen mit Johnny ersetzt. Somit entfällt die appellierende Stimme von Kästner, wie wir sie im Vor- und Nachwort des Buches finden konnten.

Eine der Anpassungen im Film, die auf eine zeitgeschichtliche Veränderung schließen lässt, ist die veränderte Darstellung des Internats. Zu der Zeit der Buchentstehung waren Internate Eliteschulen für Jungs aus wohlhabenden Familien, deren Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht die Möglichkeit hatten, sich um ihre Kinder zu kümmern. Internate der Gegenwart gelten als Schulen für Schüler mit einer besonderen Begabung und sind heutzutage in der Regel für sowohl Jungs als auch Mädchen zugänglich. Der Klassenunterschied zwischen in der Regel wohlhabenden Schülern des Internats im Buch im Vergleich zu den aus ärmeren Verhältnissen kommenden Realschülern wird im Film nicht mehr dargestellt, sondern es sind jetzt besonders

begabte Schüler aus unterschiedlichen sozialen Schichten.117 Eine weitere Markierung für die

113 Horn, Klaus-Peter: „Pädagogik/Erziehungswissenschaft der Gegenwart. Zur Entwicklung der deutschen Erziehungswissenschaft im

Spiegel ihrer disziplinären Selbstreflexion (1910-2010)“ - In: Fatke, Reinhard [Hrsg.]; Oelkers, Jürgen [Hrsg.]: Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft: Geschichte und Gegenwart. Weinheim; u.a.: Beltz Juventa 2014, S. 14-32. - (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft; 60) - URN: urn:nbn:de:0111-opus-90846, S.18.

114 Enzelsberger, S.205.

115 Familienberatung: „Lexikon: Antiautoritäre Erziehung“, https://www.familienberatung.at/lexikon/antiautoritaere-erziehung, [Stand:

15.10.2020].

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veränderte Internatsschule geschieht durch einen Ortswechsel für die Geschichte von einem Internat irgendwo in Oberbayern in das Thomaner-Internat in Leipzig. Anders als im Buch ist das Thomaner-Internat eine Schule für Jungs mit besonderer musikalischer Begabung und existiert in der Wirklichkeit. Diese Tatsache erhöht den Glaubwürdigkeitsfaktor des Films und

macht sowohl die Geschichte als auch die Charaktere realistischer.118 Die gegnerischen

Realschüler, die im Buch den Freund Rudi entführten, werden nun durch die Externen repräsentiert. Externe sind Schüler der gleichen Schule, aber sie wohnen im Gegensatz zu den Internen zu Hause und nicht im Internat. Die geplante Weihnachtsfeier soll gemeinsam mit den Internen und Externen stattfinden, was ein Zeichen für die Stärkung der Gemeinschaft setzt. Ein weiterer Unterschied im Vergleich zu dem Buch ist, dass das reine Jungenbild im Film erweitert wird und weibliche Figuren dazukommen. Dies ermöglicht auch das neue Thema Liebe und Zuneigung, denn Dr. Bökh ist hier mit der Tanzlehrerin Katrin liiert, der Primaner Theo geht mit der Tochter des Schuldirektors Kreuzkamm aus, und Johnny freundet sich mit Mona an. Mona ist ein führungsstarkes Mädchen, das die Anführerin der gegnerischen Externen darstellt. Somit wird auch die Rolle ihres männlichen Vorgängers, dem Anführer der Realschüler, ersetzt und die Zielgruppe des Films erweitert, da dieser nun auch Mädchen und Frauen anspricht, indem sie Identifikationsfiguren präsentiert bekommen. Außerdem wird durch die starke Mona das moderne Thema Emanzipierung aktuell.

Ähnlich ist die Rolle des Dr. Bökh, der auch im Film Justus der Gerechte ist. Er stellt weiterhin den vertrauenswürdigen Hauslehrer dar, den er und auch Kästner sich selber als Lehrer und Vorbild gewünscht hätte. Ein Unterschied zum Buch ist die Explizitheit seiner erzieherischen Absichten und auch Wertevermittlung, die mit Aussagen wie „Man darf seine Freunde nicht im

Stich lassen, auch wenn das gegen die Hausregeln verstößt“119 deutlich wird.

Eine Veränderung der Rolle des Dr. Bökh ist, dass er im Film nicht so utopisch perfekt ist, wie er im Buch dargestellt wird. Er ist etwas strenger und bestraft die Jungs mit einer Ausgangssperre am kommenden Wochenende mit der Auflage, sich um die Theateraufführung

zu kümmern, als er die Jungs nach deren Ausriss ins Verhör nimmt.120 Dr. Bökh zeigt im Film

auch erstmals Schwächen auf. Der Affekt, der gezeigt wird, als Dr. Bökh das Theaterstück verbieten will, kann als eine solche interpretiert werden und als eine Nichtbeherrschung der Gefühle, was dem gewünschten Ideal der 1930er Jahre widerspricht und somit eine weitere

118 Mounier, S.9. 119 Ebd., S.7.

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zeitliche Prägung ist.121 Dr. Bökh handelt impulsiv, als er die Probe unterbricht und das

Theaterstück verbietet, ohne dies zu erklären, was folglich zu einem Missverständnis und einem Konflikt zwischen ihm und den Jungs, besonders Johnny, führt. Das für Dr. Bökh untypische

Verhalten, das im Grunde auf einer Enttäuschung und einer schlechten Erinnerung beruht,122

wird letztlich korrigiert und mit einem Gespräch aufgeklärt.123 Dieses Verhalten macht Dr.

Bökh weniger utopisch, menschlicher und realistischer. Als Vorbild zu agieren ist hier der Schlüssel, denn nur mit guter Kommunikation, Vertrauen und Offenheit kann Harmonie und eine gute Grundlage geschaffen werden. Das führt wiederum auf die guten Tugenden in Kästners Originaltext zurück, denn Kästner hatte Hoffnung auf die Kinder und die Erwachsenen: Kinder sollen die Kindheit nicht vergessen und die Erwachsenen sollen sich an diese erinnern, um Kinder zu unterstützen. Kinder und Erwachsene sollen also

zusammenarbeiten und einander helfen, sich zu verstehen.124 Genau dies geschieht in dem

aufklärenden Gespräch über den tatsächlichen Grund für das Verbot des Theaterstücks, was Doderers These bestärkt, dass Kästner für mehr Gebrauch der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes plädierte, um das aufgeklärte Individuum zu stärken, ganz im Sinne

Kästners Ziels für ein aufgeklärtes und demokratisches Bürgerbewusstsein.125

3.2.3. Erzieherische Maßnahmen und Ziele im Film

Aufklärung in Dr. Bökhs Gesprächen ist das Stichwort: Gespräche darüber, warum jemand wie gehandelt hat und um dafür die Tragweite dessen zu erfassen, um somit selber reflektieren und entscheiden zu können, was richtig oder falsch ist, entspricht der pädagogischen Methode der

Hermeneutik.126 Aufklärung über Konsequenzen,127 Kritik am Handeln128 und Beispiele

eigener Erfahrungen und Erinnerungen129 helfen Dr. Bökh dabei, den Charakter der Jungs zu

formen und sie geistig herauszufordern. Aufklärende Gespräche prägen seinen Erziehungsstil – nicht Bestrafungen oder andere negative Konsequenzen. Im Gegenteil priorisiert er zuerst das Wohlbefinden aller Beteiligten und den Beweggrund für das Handeln, bevor er sich zum

Schluss den Konsequenzen zuwendet.130 Ich würde Dr. Bökh als einen

121 Siehe 3.1.3.

122 DfK 2003, Sequenz 21: 1:13:43-1:14:19. 123 Ebd., Sequenz 24: 1:17:18-1:22:59. 124 Anrede zum Schulbeginn; Vgl. Müller, S. 28. 125 Doderer, S.28, Klappentext.

126 Dienst, Karl: Pädagogische Strömungen der Gegenwart. Weltanschauungspositionen und Menschenbilder. EZW-Information Nr. 70,

EZW, Stuttgart X/1977, S.17.

127 Anmerkung: Ausgansverbot, das Ersetzen der Musiknoten.

128 DfK 2003, Sequenz 10: 0:43:37-0:43:41: Die Jungs haben den Chor miserabel vertreten und gegen elementare Regeln verstoßen. 129 Ebd., Vgl. Die Erzählung über den Jungen mit der kranken Mutter: Sequenz 10: 0:43:56-0:47:04; Die Enttäuschung über Roberts Flucht

und die Wichtigkeit von Freundschaft: Sequenz 24: 1:18:36-1:20:49.

130 DfK 2003, Vgl. Gespräch in Dr. Bökhs Arbeitszimmer nach dem Ausriss: Sequenz 10: 0:42:50-0:43:06 („Ist jemand verletzt?“),

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geisteswissenschaftlichen Pädagogen analysieren. Er ist offen und lässt den Jungs Freiraum um selber denken zu können. Er weist sie zwar in ihre Schranken, indem er Hausregeln aufzeigt, duldet aber gleichzeitig den Verstoß, den die Jungs für berechtigt halten. Dr. Bökh reagiert im

Film auf eine Weise, die für einen Lehrer weniger adäquat ist, nämlich als ein Freund.131 Dr.

Bökh kann sich besonders in die Situation der Jungs hineinversetzen und schenkt ihnen Vertrauen, weil er selber einmal Schüler des Internats war und er niemanden hatte, dem er vertrauen konnte. Deshalb kam er als Lehrer zurück in das Internat, um den Schülern genauso ein Vorbild zu sein, das er niemals hatte. Außerdem begibt er sich in der Schlüsselszene auf die Ebene der Schüler und tritt nicht als überlegener Erwachsener auf, was wiederum dazu führt, dass die hierarchische Struktur ausgelöscht wird.

Dr. Bökh sieht sowohl das Ganzheitsbild als auch den Schüler als Individuum. Er kennt sowohl die Stärken als auch die Schwächen der Schüler, aber er ist ihnen gegenüber neutral und

einfühlsam und drängt sie nicht, sich zu öffnen.132 Er ermuntert sie zum freien und kritischen

Denken, so wie Kästner es einst selbst tat mit dem Appell „Misstraut gelegentlich euren

Schulbüchern“.133 Folgende Aussage der Jungs über Dr. Bökh bestärkt meinen Schlusssatz:

„Das ist seine Pädagogik: Erziehung zum selbstständigen Denken und Handeln, oder so“.134

In seiner Rolle, die weitaus über die Rolle des Wissensvermittlers hinausgeht, unterstützt er die Jungs, um sie zu guten Menschen zu erziehen. Gegenseitiges Vertrauen ist hier die Grundlage für ein funktionierendes Verhältnis. Dr. Bökh bringt den Kindern Vertrauen auf mehreren Niveaus gleichzeitig entgegen. Er zeigt Vertrauen für die Entscheidung der Jungs, in der sie

sich selbstständig für das – für sie – Richtige entschieden haben,135 aber er zeigt auch Vertrauen,

indem er sich ihnen gegenüber öffnet und seine eigene Geschichte erzählt. In dieser Geschichte

wird ebenfalls die Wichtigkeit von Freundschaft aufgegriffen.136 Nachdem die Tanzlehrerin

Kathrin Dr. Bökh mit der Aussage „Wenn sie (die Schüler) dir vertrauen sollen, dann müssen

sie dich auch verstehen“137 aufforderte zu erklären, warum er so stark auf das Theaterstück

reagierte und es verbot, wird deutlich, dass ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis herrschen muss. Um das Missverständnis und den dadurch entstandenen Abstand zwischen ihm und den Jungs aufzuklären, das wegen seiner impulsiven Reaktion entstand, öffnet und anvertraut er

131 Hübener, S. 29.

132 Forudastan, Ferdos: Der Gerechte: Johannes Bökh“, 4.8.2019,

https://www.sueddeutsche.de/bildung/schule-lehrer-lehrerin-paedagogik-1.4551450-8, [Stand: 22.10.2020].

133 Anrede zum Schulbeginn.

134 DfK 2003, Sequenz 11: 0.48:48-0:48:52.

135 Ebd., Vgl. Sequenz 10: 0:43:43-0:43:48 („Dennoch kann ich nicht verschweigen, dass ich euer Verhalten in Ordnung finde. Nicht

unproblematisch, aber in Ordnung.“).

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