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"Rabenmutter" oder liebevolle Unterstützerin?: Ausgewählte Mutterfiguren in Theodor Fontanes Effi Briest, Frau Jenny Treibel und Die Poggenpuhls im Vergleich

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Academic year: 2022

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“Rabenmutter” oder liebevolle Unterstützerin?

Ausgewählte Mutterfiguren in Theodor Fontanes Effi Briest, Frau Jenny Treibel und Die Poggenpuhls im Vergleich

2TYÄ2E

Studentin: Stella Einarsson Mentorin: Bärbel Westphal Examinatorin: Corina Löwe Term: HT19

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Abstract

This study analyzes the mother figures in Theodor Fontane novels Effi Briest, Die Poggenpuhls and Frau Jenny Treibel and the mothers` relation to their children. The mothers act differently from what modern society expects from mothers today. In one of the novels a mother forces her daughter to marry the mothers` former admirer whom she had been attached to. Another one forbids her son to marry a young woman because the young woman has a lower rank than the son. The setting of the novels is placed in Germanys higher societies in the late 19th century. Theodor Fontane is known for hidden criticism of society which makes it very interesting to study his work. He criticizes different ways of living and being by writing novels and placing the characters in special situations that makes the circumstances obvious. The objective of this study is to find out if the mothers are caring and want the best for their children or if they are the opposite, uncaring mothers who force their children to do things that certainly will make them unhappy. On the background of the 19th century society rules, the women rights and the expectations that every woman and mother had on themselves in the 1890s in Germany, the mothers from the novels will be studied and compared to each other.

Key words

Theodor Fontane, Mütter in der Literatur, Literatur 19. Jahrhundert, Frauen bei Fontane, Effi Briest, Frau Jenny Treibel, Die Poggenpuhls, Mütter bei Fontane, Mutterfiguren Theodor Fontane, Mütter 19. Jahrhundert

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Inhaltsverzeichnis

Innehåll

1 Einleitung ... 1

2 Historischer und gesellschaftspolitischer Hintergrund ... 2

3 Untersuchung der Mutterfiguren ... 6

3.1 Frau von Briest ... 6

3.2 Frau Jenny Treibel ... 11

3.3 Frau von Poggenpuhl ... 15

4 Vergleiche zwischen den Mutterfiguren ... 19

5 Zusammenfassung und Ausblick ... 21

6 Literaturverzeichnis ... 23

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1 Einleitung

Die Mütter in Theodor Fontanes Werken nehmen in mehreren Romanen einen bedeutenden, mitunter die Handlung beeinflussenden Platz ein. Allgemein schildert Fontane häufig Frauenschicksale, in einigen Romanen sind Frauen die Hauptpersonen, nach denen die Werke benannt sind, wie beispielsweise in Effi Briest, Frau Jenny Treibel, oder auch Mathilde Möhring. Die Poggenpuhls, einer der für diesen Aufsatz gewählten Romane, handelt zwar von einer Familie, in der auch zwei Söhne vorkommen. Die Söhne sind aber nur Nebenfiguren, die Handlung dreht sich hauptsächlich um die Mutter und die Töchter. In den Romanen Effi Briest und Frau Jenny Treibel bestimmen die Mütter mit ihren Taten teilweise die Handlung oder geben ihr eine entscheidende Wendung. Fontane beschreibt die Gedanken und Gefühle seiner weiblichen Figuren sehr präzise, mit einer besonders feinfühligen und psychologischen Genauigkeit. Er schildert durch seine Romanfiguren die Gesellschaft, in der sich diese Frauen bewegten, ihre Einengungen, aber teilweise auch Befreiungen aus diesen Einengungen mit eventuellen entstehenden Konsequenzen wie beispielsweise Scheidung.

Heute, viele Jahre nach dem Erscheinen der Romane, fesseln die Schicksale dieser Frauengestalten noch immer. Fontane übte in seinen Romanen häufig Kritik an seiner Gesellschaftsschicht und da er selbst Teil davon war, kannte er ihre Normen und Gebräuche und konnte sie treffend kritisieren. Fontanes Gesellschaftskritik ist nicht direkt und deutlich, sondern, in Einheit mit den Idealen der Epoche, ästhetisch verklärt und poetisiert.1 Die Mutterfiguren, die für diese Untersuchung gewählt wurden, zeichnen sich durch teilweise gegensätzliche Charaktereigenschaften aus, die verschiedene Aspekte der Lebensweise von adligen und bürgerlichen Müttern beleuchten. Dieser Aufsatz möchte feststellen, welche

1 Zitiert nach: Bark, Joachim, Steinbeck, Dietrich, Wittenberg, Hildegard (Hrsg): Geschichte der deutschen Literatur. Biedermeier-Vormärz-Bürgerlicher Realismus, Stuttgart 1984, S. 92.

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Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Müttern zu entdecken sind und folgende Fragen sollen beantwortet werden: Wie verhalten sich die Mütter ihren Töchtern und Söhnen gegenüber? Inwiefern beeinflussen die Mütter das Schicksal ihrer Kinder? Welche Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede können zwischen den Müttern festgestellt werden und wie lassen sich diese erklären? Es soll in dieser Arbeit nicht darum gehen, die gewählten Mütterfiguren als sogenannte „Rabenmütter“ zu kategorisieren, sondern ihr Verhalten auf einem soziokulturellen, historischen Hintergrund zu deuten.2

In diesem Aufsatz werden die Mütter aus den Romanen Effi Briest, Frau Jenny Treibel und Die Poggenpuhls untersucht. Zunächst wird der Schriftsteller Theodor Fontane vorgestellt und danach ein gesellschaftspolitischer und historischer Hintergrund über die Gesellschaftsschicht und die Zeit, in welche die gewählten Romanfiguren gestellt sind, gegeben. Anschließend werden die einzelnen Mutterfiguren und die Beziehungen zu ihren Kindern untersucht, miteinander verglichen und Schlussfolgerungen aus den Vergleichen gezogen. Während die Forschungsliteratur zu Effi Briest sehr umfangreich ist, lassen sich zu Frau Jenny Treibel und Die Poggenpuhls nur wenige Quellen finden. Das ist ein Grund gewesen, diesen Roman in den Aufsatz einzubringen, damit die bestehende Forschungslücke etwas mehr geschlossen wird.

2 Historischer und gesellschaftspolitischer Hintergrund

In diesem Abschnitt wird der Schriftsteller Theodor Fontane vorgestellt und der historische Hintergrund der gewählten Literatur erläutert, unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Frau in den gehobeneren Gesellschaftsschichten, dem Bürgertum und dem Adel des späten 19. Jahrhunderts. Ausgehend vom historischen Hintergrund sollen die gewählten Romanfiguren miteinander verglichen werden.

2 Der Begriff Rabenmutter wird heutzutage stark verurteilend benutzt, häufig in Konflikten zwischen

verschiedenen Müttergruppen, die unterschiedliche Ansichten über Kindeswohl und Kindererziehung haben und diesen Ausdruck gegenseitig verwenden. Duden Band 7, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1963.

Wie Herrad Schenk beschreibt, entstanden diese Konflikte nach dem Ende des 2. Weltkriegs zwischen

berufstätigen Müttern und solchen, die Hausfrauen und Mütter sind. Die Konflikte dauern bis heute an. Schenk, Herrad: Wieviel Mutter braucht der Mensch? Hamburg 2002, S. 68ff.

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Theodor Fontane wurde am 30.12.1819 in Neuruppin geboren, seine Eltern waren der Apotheker Louis Henri Fontane und dessen Frau Emilie Fontane. Fontanes Familien mütterlicher- sowie väterlicherseits stammten von französischen Hugenotten ab, die sich in Preußen niedergelassen hatten. Als junger Mann machte Fontane, wie sein Vater, eine Lehre zum Apotheker, sollte aber nur einige Jahre als Apotheker arbeiten. Ab dem Jahre 1849 lebte Fontane als freier Schriftsteller, mit zeitlich begrenzten Anstellungen als Journalist, Kriegsberichterstatter, Theaterkritiker und als Verfasser von Reiseberichten. Schon 56-jährig, entschied sich Fontane im Jahre 1876 dafür, sich ganz auf sein schriftstellerisches Schaffen zu konzentrieren und schrieb in den folgenden zwanzig Jahren die erfolgreichsten seiner Werke, 17 Romane und Erzählungen. Effi Briest (1894), Die Poggenpuhls (1896) und Frau Jenny Treibel (1892) sind alle in dieser späten Schaffensphase Fontanes entstanden.

Theodor Fontanes Werk wird in die literaturgeschichtliche Epoche des bürgerlichen Realismus eingeordnet, die er in seinem Aufsatz Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 folgendermaßen beschreibt:

Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus […]. Die Welt ist des Spekulierens müde und verlangt nach jener ‚frischen grünen Weide‘, die so nah lag und doch so fern [...] Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten [...] Der Realismus will nichts als die bloße Sinneswelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre.3

Die Epoche des Realismus umfasste die Jahre zwischen 1850-1890. Die Werke des Realismus sollten eine eventuelle Kritik des Schriftstellers nur verklärt offenbaren, nicht die realen Zustände in der Welt bewerten, sie sollten möglichst neutrale Schilderungen sein.4 Als Beobachter seiner Zeit betrachtete Fontane die Gesellschaft um sich herum und schrieb Werke, die in dieser Zeit spielten und die Normen und das Verhalten der Gesellschaft spiegelten. Fontanes Kritik zeigt sich indirekt, indem er seine Romanfiguren in Situationen setzt, in denen die Missstände innerhalb der Gesellschaft im Dialog oder in der Szene an sich deutlich werden. Auch in dem, was die Romanfiguren ungesagt lassen, oder nur andeuten, wird seine kritisierende Darstellung der Lebensverhältnisse im ausgehenden 19. Jahrhundert anschaulich. Für diese Arbeit ist die Frage nach den Lebensverhältnissen der Frauen und

3 Zitiert nach: Bark, Steinbeck, Wittenberg: Geschichte der deutschen Literatur, Stuttgart 1984, S. 91f.

4 Baumann, Barbara & Oberle, Birgitta: Deutsche Literatur in Epochen, Ismaning 1996, S. 157.

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Mütter zu der Zeit interessant und wie sich diese Lebensverhältnisse, gemeinsam mit den Konventionen der Gesellschaft, auf das Verhalten der Mütter ihren Kindern gegenüber auswirkt. Die Väter in den gewählten Romanen sind Nebenfiguren oder schon verstorben, ihr Einfluss auf das Schicksal der Kinder ist eher als gering zu betrachten. Die Mütter in den Romanen haben hingegen großen Einfluss auf das Leben ihrer Kinder, obwohl sie im öffentlichen Leben fast ohne Aufgaben und von den gesellschaftlichen Konventionen auf Mütter und Ehefrauen reduziert sind. Wie sahen also die Lebensverhältnisse für Ehefrauen und Mütter Ende des 19. Jahrhunderts aus?

Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR), das seit 1794 galt, definierte die Rolle der Ehepartner und besonders die überragende Rolle des Ehemanns, unter anderem als juristischer Vertreter seiner Frau und Verwalter ihres Vermögens.5 Das Gesetz formulierte

„die Ehe als einen privatrechtlichen Vertrag zwischen zwei Individuen, den sie aus freiem Willen schließen und im Prinzip auch wieder auflösen konnten“.6 Das galt für alle Einwohner Preußens, unabhängig der Gesellschaftsklasse. Dadurch, dass der Mann seine Frau juristisch vertrat und ihr persönliches Vermögen in seinen Besitz überging, war die Frau dem Mann nicht gleichgestellt. Die Emanzipationsbewegung der Revolution im Jahr 1848 hatte sich für die Rechte der Frauen auf Ausbildung, Arbeit und Gleichstellung eingesetzt. Ende des 19.

Jahrhunderts waren von diesen Zielen in den gehobeneren Gesellschaftsschichten aber wenige verwirklicht worden. Die Frauen waren immer noch von männlichen Verwandten abhängig und keineswegs gleichgestellt. Die Frauen des Bürgertums und des Adels erhielten keine höhere Ausbildung und gingen keiner geregelten, bezahlten Arbeit nach. Sie sollten ihr Glück in der Aufgabe als Mutter und Vorsteherin eines Haushaltes finden, wie Helen Chambers beschreibt, dass: „[…] die Rolle der bürgerlichen Frau darin bestehe, zu Hause zu sein, idealerweise als Ehefrau und Mutter“.7 Auch Gabriele Gross beschreibt die Rolle der bürgerlichen Frau mit folgendem Zitat aus dem Jahre 1885: „Immer das alte Lied: Sieh´ zu, dass ein Mann dich würdigt, dich zu heiraten, diene ihm, gebäre ihm Kinder – alles Übrige in der Welt geht dich nichts an!“.8 Die bürgerliche und die adlige Gesellschaftsschicht, die Fontane in den gewählten Romanen schildert, waren konservativ, patriarchalisch und

5 Schenk, Herrad: Freie Liebe, wilde Ehe, München 1995, S.94ff.

6 Schenk: Freie Liebe, 1995, S. 94.

7 Chambers, Helen: Fontane-Studien, Würzburg 2014, S. 234.

8 Gross, Gabriele: Der Neid der Mutter auf die Tochter, Bern 2002, S. 48-57.

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konventionell geprägt. Davon waren auch die Voraussetzungen für eine Ehe beeinflusst. Denn obwohl im 19. Jahrhundert ein neues Ideal entstanden war, das die gegenseitige Liebe des Paares als höchstes Ziel einer Ehe setzte, waren doch die arrangierten Ehen immer noch in der Mehrzahl. Dies stellt Hans J. Teuteberg folgendermaßen dar: „[…] Geld und ‚eine gute Partie‘ waren trotz Romantik und neuem Eheideal eindeutig vorrangige Ziele, wenn man sich im 19. Jahrhundert auf den Heiratsmarkt begab“.9 Diese Problematik wird besonders bei Frau Jenny Treibel deutlich, wie später gezeigt werden soll. Teuteberg beschreibt weiter, dass Ehen, die als Liebesehen geschlossen wurden, oftmals als konfliktträchtig und damit nicht funktionsfähig angesehen wurden. Deswegen wurde an arrangierten Ehen festgehalten, die nach materiellen Gesichtspunkten geschlossen wurden.10 Um Konflikte und auch eventuellen Ausschluss aus der gesellschaftlichen Umgebung zu vermeiden, war es sicherer, Ehen zwischen Menschen der gleichen Schicht zu arrangieren. Bärbel Westphal hat über die Ehe im historischen Kontext geschrieben, wie sie bis ans Ende des 19. Jahrhunderts in den meisten Fällen nach materiellen Gesichtspunkten geschlossen wurden:

Dies bedeutet, dass das Ehepaar in spe dabei nicht nach den Neigungen ihres Herzens gefragt wurde, sondern die Verbindung der Brautleute wurde von den Eltern arrangiert und folgte vor allem sachlichen und wirtschaftlichen Überlegungen zur Sicherung des Besitzes. Es sollte also eine ‚konveniente‘ Verbindung, d.h. eine passende Partie gefunden werden, die innerhalb desselben Standes gesucht wurde. In allen Gesellschaftsschichten gab es ähnliche Muster und normative Vorgaben. Die Eheleute kamen grundsätzlich aus derselben Sozialschicht – eine Hochzeit über die Standesgrenzen hinweg, ein ‚Schichtenwechsel‘ war weit bis ins 19. Jahrhundert in keiner Gesellschaftsklasse denkbar. 11

War nun eine gesellschaftlich passende Ehe geschlossen und es kamen Kinder auf die Welt, war es üblich, dass die Erziehung und Pflege der Kinder der Dienerschaft überlassen wurde. Je nach Vermögenslage der Familie gab es eine Vielzahl von Dienstboten in den adligen und bürgerlichen Häusern, die von der Hausherrin in ihren Pflichten und Aufgaben angeleitet wurden. So wurden die Kinder auch häufig von Kindermädchen betreut. Waren die Kinder im heiratsfähigen Alter, übernahmen die

9 Teuteberg, Hans J.: Zur Genese und Entwicklung historisch-sozialwissenschaftlicher Familienforschung in Deutschland, in: Ehe, Liebe, Tod, Münster 1983, S. 129.

10 Teuteberg: Zur Genese und Entwicklung, 1983, S. 130.

11 Westphal, Bärbel: „Affären und Karrieren – Familienbildung im Wirtschaftswunderjahrzent in der

Bundesrepublik: Martin Walsers Roman Ehen in Philippsburg“. In: Moderna språk, Vol. 109:1, 2015, S. 78-101.

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Mütter die Einführung in die Gesellschaft und die Wahl passender Heiratskandidaten für ihre Kinder. Idealerweise sollten Heiratskandidaten ausgewählt werden, die das Vermögen und Ansehen der Familie vergrößern konnten. Martha Kaarsberg Wallach kommt zu folgenden Schlüssen über die Rolle der Mütter bei einer Verheiratung ihrer Töchter:

Die Mütter verfügen über ihre Töchter ohne väterliche Intentionen und verheiraten sie finanziell und gesellschaftlich günstig, ohne Rücksicht auf eigene Partnerwahl oder Neigung dieser Töchter […] Die Frauen […] überleben im Patriarchat des neunzehnten Jahrhunderts durch eine Mischung aus Anpassung und indirektem Machtgebrauch. 12

An diesem Zitat wird deutlich, dass die Mütter einen entscheidenden Einfluss auf die Töchter hatten. Fontane hat mit seinen verschiedenen weiblichen Figuren Beispiele für die Welt der Frauen dargestellt, die durch Konventionen eingeengt war. Häufig hat Fontane die Frauen als starke Persönlichkeiten geschildert, die trotz der gesellschaftlichen Einengung viel Macht hatten. Vor diesem historischen Hintergrund sollen nun die gewählten Romane untersucht werden.

3 Untersuchung der Mutterfiguren

3.1 Frau von Briest

Der Roman Effi Briest erzählt die Geschichte der adligen Effi Briest, die, siebzehnjährig, unerwartet einen Heiratsantrag von Baron von Innstetten bekommt. Das Brisante an der Sache ist, dass Baron v. Innstetten nicht nur genauso alt wie Effis Mutter, Luise von Briest, sondern auch deren ehemaliger Verehrer ist. Luise hatte damals statt ihm den Ritterschaftsrat von Briest geheiratet, der älter war und schon vermögend. Die Ehe zwischen Effi und v. Innstetten wird nicht glücklich, und Effi hat eine kurze Affäre mit einem in ihrem Wohnort stationierten Major von Crampas, die aber mit dem Umzug Effis und v. Innstettens nach Berlin ein Ende findet. Sieben Jahre nach dieser Affäre entdeckt v. Innstetten durch einen Zufall die Briefe Crampas` an Effi, tötet Crampas in einem Duell und lässt sich von Effi scheiden. Effi lebt

12 Kaarsberg Wallach, Martha: „Die verkaufte Braut: Mütter geben ihre Töchter preis“. In: Kraft, Helga & Liebs, Elke (Hrsg): Mütter-Töchter-Frauen, Stuttgart 1993, S. 111.

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nach der Scheidung von der Gesellschaft abgeschnitten, kränkelnd und vereinsamt in einer kleinen Wohnung in Berlin. Sie bekommt ein tödliches Lungenleiden, woraufhin ihre Eltern sie auf Vermittlung ihres Arztes einladen, nach Hause zu kommen, wo sie schließlich innerhalb einiger Monate stirbt. Für den Roman Effi Briest hat Fontane eine wahre Begebenheit eines Ehebruchskandals in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Grundlage genommen, die Figuren und auch das Ende jedoch sind verändert.13

Luise von Briest ist die schöne, blonde und selbstsichere Mutter der siebzehnjährigen Effi, die im Gegensatz zu ihrer Mutter dunkelhaarig und kleiner, ausgelassen und verspielt ist: „Man nannte sie die ‚Kleine‘, was sie sich aber nur gefallen lassen musste, weil die schöne, schlanke Mama noch um eine Handbreit höher war.“ (EB 6)14 Frau von Briest ist aber stolz auf Effis körperliche Gelenkigkeit und ihr Aussehen und schaut ihr gerne beim Turnen zu (EB 6). Sie behandelt Effi gleichzeitig liebevoll, aber auch manipulativ, wie in der Szene, in der sie Effi von v. Innstettens Heiratsantrag erzählt: „[…] und wenn du nicht nein sagst, was ich mir von meiner klugen Effi kaum denken kann, so stehst du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen. Du wirst deine Mama weit überholen.“ (EB 17). Die Mutter versucht Effi mit gesellschaftlichem Ansehen, größer als das der Mutter, zu locken und möchte einer eventuellen Absage der Tochter zuvorkommen. Innstettens Besuch in Hohen-Cremmen, dem Wohnort der Familie von Briest, ist zwar angekündigt, doch ob die Mutter schon brieflich mit Innstetten die Verlobung ausgemacht hat, bleibt unerwähnt. Erwähnt wird nur, dass Effi ihn zwei Tage zuvor schon einmal gesehen hat: „Du hast ihn vorgestern gesehen, und ich glaube, er hat dir auch gut gefallen […]“ (EB 17). Effis Mutter sagt: „auch gut gefallen“, weil Innstetten ihr selbst gut gefällt, geht sie davon aus, dass er auch Effi gefallen muss. Kurz vor dieser Szene beschreibt Effi ihren Freundinnen Innstetten als ältlich, dass er beinahe ihr Vater sein könnte und erzählt ihnen von der alten Liebesgeschichte zwischen ihrer Mutter und Innstetten (EB 15). Die Mutter geht jetzt davon aus, dass Effi heiraten will, obwohl sie noch nicht in die Gesellschaft eingeführt wurde (ihr erster Ball ist ihr Hochzeitsball EB 25). Sie hat auch noch nicht die dafür erforderlichen Staatskleider bekommen, die junge Mädchen bei dem ersten öffentlichen Ball, den sie besuchen, tragen. Bisher wurde Effi von ihrer Mutter in

13 Schoene, Monika: Frauengestalten im Werk Theodor Fontanes, Bad Rappenau 2014, S.102.

14 Im Folgenden stehen die Seitenzahlen aus der Primärliteratur direkt nach dem Zitat in Klammern. Siglen: EB=

Effi Briest, DP= Die Poggenpuhls, FJT= Frau Jenny Treibel.

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diesen ersten Szenen des Romans tatsächlich nicht als junge Frau kurz vor einer eventuellen Ehe behandelt, sondern vielmehr wie ein Kind, dass turnt, schaukelt und mit den Freundinnen spielen darf. Sie trägt androgyn anmutende „Jungenskittel“ mit Matrosenkragen, was ein Anlass zu anscheinend nicht ernst gemeinten Vorwürfen Effis ihrer Mutter gegenüber führt:

„Und dann, warum steckst du mich in diesen Hänger, in diesen Jungenskittel? [....] Warum krieg ich keine Staatskleider? Warum machst du keine Dame aus mir?“ „Möchtest Du´s?“

„Nein.“ (EB 7). Effi möchte also nicht in die Gesellschaft eingeführt werden, was der offizielle Beginn der Suche nach einem geeigneten Ehemann für sie wäre. Hier wird deutlich, dass Effi noch nicht reif genug ist für das Leben als Erwachsene und für eine Heirat, sie verschwendet wenige Gedanken an die Zukunft (EB 9). Gleichzeitig weiß sie, dass die Erwachsenenwelt mit Heirat auf sie wartet. Es war historisch gesehen die Aufgabe der Mütter, ihre Töchter auf eine Heirat vorzubereiten, und dies hat Luise von Briest der Notwendigkeit halber getan. Es ist zu vermuten, dass sie es aufgrund Effis noch kindlichen Charakters eher im Widerstreit der Gefühle tat. Luise agiert zweideutig gegenüber Effi, indem sie sie einerseits wie ein Kind behandelt, andererseits aber eine Heirat einfädelt, ohne Effi darauf vorzubereiten. Chambers beschreibt Effi als Kindsbraut folgendermaßen:

Effis kindliche Züge werden von Beginn an indirekt greifbar […] Ihr kindlicher, präsexueller Status wird noch an ihrem Verlobungstag von den Niemeyer-Zwillingen unterstrichen, die versuchen, sie durch das mit Jungfernreben umrankte Fenster in den Garten zurückzurufen.15

Dass Luise Effi nicht genug auf das Leben als Erwachsene vorbereitet und sie nicht in die Gesellschaft eingeführt hat, könnte wiederum bedeuten, dass sie sich vor dem Moment schützen möchte, in dem Effi ihr Elternhaus verlässt. Effi wird von ihren Eltern in eine Heirat gedrängt, für die sie innerlich noch nicht bereit ist. Dadurch, dass sie sie wie ein Kind behandelt und dann abrupt mit der Wirklichkeit einer Heirat konfrontiert, zeigt die Mutter auch, dass sie Effis mentalen Status nicht berücksichtigt. In ihrer Analyse sagt Chambers dazu: „Wie sehr Effi die Werte der Erwachsenenwelt verinnerlicht hat, ohne sie jedoch zu verstehen, wird deutlich in einer der schockierendsten Äußerungen der deutschen Literatur“.16 Als diese „schockierendste Äußerung der Literatur“ gibt Chambers die Stelle an, in der Effi von ihrer Freundin gefragt wird, ob Innstetten „der Richtige“ sei. Effis völlig gleichgültige

15 Chambers: Fontane, 2014, S. 308.

16 Chambers: Fontane, 2014, S.308.

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Antwort lautet: „Gewiss ist er der Richtige. […] Natürlich muss er von Adel sein und eine gute Stellung haben und gut aussehen“ (EB 20). Schockierend an diesem Zitat ist Effis Gleichgültigkeit, mit der sie hier von dem Menschen spricht, mit dem sie den Großteil ihres Lebens verbringen soll. Im Text wird auch deutlich, dass Luise von Briest ihre Jugendliebe zu Baron von Innstetten nicht vergessen hat und sich auf eine neue Vertraulichkeit mit ihm freut.

Sie drängt Effi, ihr die Briefe vorzulesen, die Innstetten ihr schreibt: „Aber nun lies mir den Brief vor, […] Lies, lies […] Lies, lies, du sollst ja lesen“ (EB 34). Im Gegensatz zu der Zeit vor 18 Jahren, als er sich um Luises Hand bewarb, hat Innstetten jetzt ein Vermögen und eine erfolgreiche Karriere vorzuweisen. Effi soll nun an Stelle der Mutter von Innstettens Karriere und Vermögen profitieren. Eine Heirat mit Innstetten ist für Effi, gesellschaftlich gesehen, ein großer Erfolg. Renate Böschenstein schreibt folgendermaßen dazu:

Allgemein bekannt ist die Bedeutung des Faktums, daß Effi von ihrer Mutter in die Ehe mit einem Mann hineinmanipuliert wird, dem die Mutter einst wegen seiner noch fehlenden gesellschaftlichen Stellung den bereits etablierten Gutsherrn vorgezogen hat und daß die inzwischen erreichte Position des nunmehrigen Schwiegersohns ihren sozialen Ehrgeiz befriedigt.17

Luise geht auch davon aus, dass Effi Innstetten liebt, obwohl sie ihn erst zweimal gesehen hat (EB 35). Da trotz der üblichen Konvenienzehen in den bürgerlichen und adligen Schichten schon ein Idealbild von der Liebe zwischen Eheleuten gepflegt wurde, ist die Frage nicht verwunderlich. Die Frage nach der Liebe war jedoch nur rhetorisch, was auch deutlich wird, als Effi der Mutter nach mehrmaligem Fragen gesteht, dass sie sich vor Innstetten fürchtet (EB 37). Luise geht nicht auf dieses Eingeständnis ein. Ginge sie auf Effis Furcht vor Innstetten ein, müsste sie eine Verschiebung oder Absage der Hochzeit in Kauf nehmen und das möchte sie nicht. Laut dem Allgemeinen Landrecht sollten beide Ehegatten aus freien Stücken in die Ehe gehen und von niemandem gezwungen werden. Die Mutter schweigt also, anstatt sich mit der Angst Effis vor Innstetten auseinanderzusetzen. Es ist möglich, dass sie nicht verstehen kann, dass Effi anders zu Innstetten steht, als sie selbst. Immerhin hat sie Innstetten in ihrer Jugend geliebt und preist seinen Charakter nicht nur Effi, sondern auch Herrn von Briest an. Sie verteidigt Innstetten auch ihrem Mann gegenüber, wenn dieser ihn kritisiert. Die Darstellung des Schweigens der Mutter könnte auch darauf hindeuten, dass es

17 Böschenstein, Renate: „Und die Mutter kaum in Salz“ In: Roebling, Irmgard & Mauser, Wolfram: Mütter und Mütterlichkeit, Würzburg 1996, S. 263.

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Luise sehr wohl bewusst ist, dass die von ihr geplante Hochzeit ihre Tochter unglücklich machen wird. Innstetten und Effi haben außerdem grundverschiedene Charaktere, der Altersunterschied ist sehr groß und Effi soll das erreichen, was die Mutter nicht erreicht hat.

Sie will Effi in der Gesellschaft aufsteigen sehen und dabei gleichzeitig von Effis Aufstieg profitieren.

Nach der Aufdeckung von Effis Verhältnis mit Crampas ist es die Mutter, die Effi einen Brief schriebt, in welchem sie ihr zwar finanzielle Unterstützung zusagt, aber den Kontakt abbricht (EB 287). Die Triebkraft der Mutter ist nicht nur der gesellschaftliche Ehrgeiz, dem sie ihre Tochter opfert, sondern auch die gesellschaftlichen Konventionen, sie möchte um jeden Preis nach außen hin ihren Ruf bewahren. Daran erkennt man, dass, wie sehr Luise ihre Tochter auch liebt, sie sie dennoch selbstsüchtig für ihre eigenen Interessen ausnutzt. Als Effis Arzt den Eltern drei Jahre später einen Brief schreibt und sie bittet, Effi wieder nach Hause kommen zu lassen, verurteilt Frau von Briest die Tochter immer noch und zögert. Der Vater muss ihr erklären, dass die Liebe der Eltern zu ihren Kindern wichtiger ist alle gesellschaftlichen Konventionen (EB 312). Denn obwohl die Mutter der weitaus gegenwärtigere Teil der Eltern ist, ist es der Vater, der aus Liebe zu seiner Tochter bereit ist, sich über die Konventionen hinwegzusetzen. Die Mutter erwartet von Effi, dass sie sich an die Rolle anpasst, die die Gesellschaft den Frauen vorschrieb und weil Effi dies nicht tut, wird sie von ihrer Mutter nach ihrem Ehebruch verurteilt. Als Effi nach Hause gekommen ist und im Sterben liegt, gibt die Mutter der Tochter immer noch die Schuld am Zerfall der Ehe mit Innstetten (EB 330). Erst nach Effis Tod, in den letzten Zeilen des Romans, gesteht Frau von Briest sich die eigene Schuld ein. Sie stellt die Frage, ob nicht beide Eltern doch vielleicht schuld sind, ob Effi nicht doch zu jung für diese Ehe war (EB 333).

Wie im 18. und 19. Jahrhundert üblich, war die einzige Chance für junge Mädchen auf ein gutes Leben eine möglichst vorteilhafte Heirat. Frau von Briest als Mutter ist von gesellschaftlichem Ehrgeiz für ihre Tochter getrieben, was historisch gesehen erklärbar ist.

Sie möchte den materiellen Wohlstand, gleichbedeutend mit Lebensglück, ihrer Tochter sichern, dabei ist sie jedoch dominant und geht auf die Angst ihrer Tochter vor dem Bräutigam nicht ein. Sie behandelt ihre Tochter einerseits liebevoll und zärtlich, kann aber eine unerwartete Gefühlskälte zeigen, wenn die Tochter sich nicht so benimmt, wie es von einer Dame erwartet wird. Die Konventionen bedeuten Luise von Briest viel, erst in

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Anbetracht des sicheren Todes ihrer jungen Tochter ist sie bereit, sich über die Konventionen hinwegzuheben.

3.2 Frau Jenny Treibel

Der Roman Frau Jenny Treibel erschien erstmals 1892 und spielt in der bürgerlichen Gesellschaft Berlins Ende des 19. Jahrhunderts. Der Roman schildert zwei Familien, die Treibels und die Schmidts, die zwar lange und eng miteinander befreundet sind, aber dennoch durch eine unsichtbare Grenze getrennt sind. Diese trennende Grenze ist der Klassenunterschied; die Familie Treibel gehört zum durch die Industrialisierung reich gewordenen Bürgertum und die Familie Schmidt zur Bildungsschicht. Frau Jenny Treibel, die Hauptperson des Romans, ist mit Kommerzienrat Treibel verheiratet. Sie haben zwei erwachsene Söhne, Otto und Leopold. Otto leitet einen Holzhof und ist seit einigen Jahren mit Helene Munk aus Hamburg verheiratet, sie haben eine Tochter. Leopold, der jüngere Sohn, ist unverheiratet und lebt noch zu Hause, arbeitet aber im Geschäft seines Bruders. Die Familie Schmidt besteht aus Vater Willibald Schmidt, einem Professor und seiner Tochter Corinna.

Corinna möchte sich gerne reich verheiraten, weshalb sie den ihr gleichaltrigen Leopold Treibel umgarnt. Dazu hat sie bei den gesellschaftlichen Anlässen der Treibels, zu denen sie häufig eingeladen wird, Gelegenheit. Leopold fühlt sich von Corinna angezogen und während eines Ausflugs, bei dem Corinna und Leopold eine Weile allein spazieren gehen, verloben sie sich dann tatsächlich. Als Leopold seiner Mutter am Abend von der Verlobung berichtet, ist sie außer sich vor Entrüstung. Als Ausweg aus dieser Situation lädt Jenny Treibel die Schwester von Ottos Frau zu sich ein. Ottos Frau Helene hatte schon länger ihrer Schwiegermutter angedeutet, dass sie ihre jüngere Schwester Hildegard, die unverheiratet und sehr schön ist, einladen sollte, damit Leopold sie heiratet. Jenny hat sich bis jetzt dagegen gewehrt, weil sie keine zweite Schwiegertochter aus der gleichen Familie haben möchte, obwohl diese Familie sehr reich ist und die Mitgift Hildegards beachtlich. In Anbetracht der Verlobung Leopolds mit Corinna, die Jenny auf keinen Fall dulden möchte, schreibt sie Hildegard Munk einen freundlichen Brief und bittet sie, nach Berlin zu kommen. Corinna hofft vergeblich, dass Leopold Willensstärke zeigt und seiner Mutter Widerstand bietet, aber er tut nichts davon, schreibt ihr nur jeden Morgen ein kleines Briefchen und besucht sie nicht einmal während ihrer kurzen Verlobungszeit. Nach anderthalb Wochen löst Corinna die Verlobung, weil sie eingesehen hat, dass Leopold nicht für eine Ehe kämpfen wird und dass der materielle Wohlstand sie doch nicht glücklich machen wird, zumal Jenny Treibel ihr

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angedroht hat, im Falle einer Heirat Leopold keine finanzielle Unterstützung zu gewähren.

Corinna verlobt sich nun mit Marcell, ihrem Vetter, der sie schon lange liebt und Archäologe mit Aussicht auf eine Professorenstelle ist. Leopold verlobt sich mit Hildegard Munk und der Roman endet mit der Hochzeit Corinnas und Marcells.

Corinnas Vater, Professor Willibald Schmidt verehrte Jenny in ihrer Jugend. Sie wohnten in der gleichen Straße, in gegenüberliegenden Häusern und Jennys Eltern führten dort einen Materialwarenladen. Professor Schmidt hatte damals ein Gedicht für Jenny Treibel geschrieben, welches sie besonders bei gesellschaftlichen Anlässen immer noch gerne und oft rezitiert: Wo sich Herz zum Herzen find`t.18 Das Gedicht des Professors handelt davon, dass die Liebe und das Geben und Nehmen das höchste Glück, das wahre Leben sind. Jenny Treibel beweist aber durch ihr Handeln, dass sie genau entgegengesetzt zu dem Gedichtinhalt lebt. Treffend charakterisiert Professor Schmidt Jenny Treibel:

Es ist eine gefährliche Person […] und sich aufrichtig einbildet, ein gefühlvolles Herz und vor allem ein Herz für das Höhere zu haben. Aber sie hat nur ein Herz für das Ponderable, […] und für viel weniger als eine Million gibt sie den Leopold nicht fort, die halbe Million mag herkommen, wo sie will. […] wenn es gilt, Farbe zu bekennen, dann heißt es ‚Gold ist Trumpf‘, und weiter nichts. (FJT 86)

Jenny Treibel steht für das reich gewordene Bürgertum und Corinna, als Tochter eines Professors, für klassische Bildung. Der Konflikt zwischen ihnen schildert auch den Konflikt der durch die Industrialisierung reich gewordenen Sozialschicht Bürgertum (auch Bourgeoisie genannt), und der gebildeten, akademischen Schicht. Für Jenny Treibel zählt nur sozialer Aufstieg und materieller Wohlstand, nicht das eventuelle Liebesglück ihres Sohnes. Herr Treibel überlässt diese familiären Angelegenheiten anscheinend seiner Frau, was sie dazu ermächtigt, über ihren Sohn zu bestimmen. Jenny hat durch ihre Heirat einen gesellschaftlichen Aufstieg gemacht und möchte verhindern, dass ihr Sohn aus der von ihr erkämpften gesellschaftlichen Stellung wieder absteigt. Corinna ist in der gleichen Situation, in der Jenny als junges Mädchen war, wird aber von Jenny daran gehindert, den gleichen Weg

18 Der Titel ist eine Strophe des Gedichts von Schiller „Lied von der Glocke“, 1799 entstanden. In dem Gedicht wird das Idealbild der bürgerlichen Ehe und der Liebe zwischen Eheleuten geschildert. Die Strophe kann als Ironie auf die Romanhandlung in Frau Jenny Treibel angesehen werden, da es in der Strophe um Liebe geht:

Drum prüfe, wer sich ewig bindet, Ob sich das Herz zum Herzen findet! Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang.

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zu gehen, den sie selbst gegangen ist. Karen Bauer, die die Frauenfiguren in Fontanes Werken untersucht hat, schreibt dazu:

Jenny Treibel ist intrigant und heuchlerisch und kann als Paradebeispiel für weibliches Erfolgsstreben gelten, das aus rein finanziellen Erwägungen und vor allem aus Gründen des gesellschaftlichen Prestiges motiviert ist. 19

Jenny Treibels Mutter hatte Jenny als junges Mädchen immer sorgfältig herausgeputzt und sie darauf vorbereitet, eventuell einen Mann aus einer höheren Schicht zu heiraten (FJT 17).

Jenny ist ihrer Mutter dafür sehr dankbar, ist aber nicht bereit, das Gleiche für Corinna zu tun.

Meine Mutter, wofür ich ihr noch im Grabe danke, war immer für die besseren Klassen.

Und das sollte jede Mutter, denn es ist bestimmend für unseren Lebensweg. Das Niedere kann dann nicht heran und bleibt hinter uns zurück. (FJT 32)

Jenny spricht in diesem Zitat von „unserem Lebensweg“, dem Lebensweg der Frauen, dass Frauen aus ihrer Gesellschaftsschicht aufsteigen müssen. Steigen sie nicht auf, bleiben sie im

„Niederen“ stecken, eventuell in Armut oder, wenn das Zitat auf die ärmste gesellschaftliche Schicht ausgeweitet wird, sogar Elend. Die Frauen verblieben ganz einfach in ihrer Gesellschaftsschicht, ohne ihre äußeren Lebensumstände zu verbessern. Jenny möchte für ihre Söhne das Gleiche tun, was ihre Mutter für sie getan hatte und sie vorteilhaft verheiraten. In diese Pläne passt Corinna nicht hinein.

Jenny Treibel ist eine dominante Mutter, die Leopold mit großer Autorität behandelt. Da er keine starke Persönlichkeit ist, akzeptiert er ihre Entscheidungen und lebt in großem Gehorsam vor ihr. Es sei hier die Szene erwähnt, in der Leopold sich in seinem Stammcafé eine zweite Tasse Kaffee bestellen möchte und der Kellner ihm gesteht, von Jenny die Anweisung erhalten zu haben, Leopold nicht mehr als eine zu servieren. Leopold protestiert nicht dagegen, sondern beschwert sich nur in einem Selbstgespräch darüber (FJT 105). Es stört ihn also, dass seine Mutter ihm gegenüber so dominant ist, aber er setzt sich nicht darüber hinweg. Anstatt dem Kellner zu sagen, dass er selbst entscheidet, wieviel Kaffee er trinkt, nimmt er Jennys Anordnung in Kauf. Jenny Treibel sieht es auch als ihre alleinige Aufgabe an, Leopold zu verheiraten. Mit Professor Schmidt spricht sie darüber und betont,

19 Bauer, Karen: Fontanes Frauenfiguren, Frankfurt am Main 2002, S. 228.

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dass Leopold ein Kind sei und sich auf keinen Fall seine Braut selbst aussuchen darf. Das ist Jennys letzte große Aufgabe für ihren Sohn und die möchte sie sich nicht nehmen lassen:

„Leopold ist ein Kind und darf sich überhaupt nicht nach eigenem Willen verheiraten […]

Das fehlte noch, das hieße denn doch abdanken und mich ins Altenteil setzen“ (FJT 131f).

Leopolds erstes erwähntes Aufbegehren der Mutter gegenüber ist seine Verlobung mit Corinna. Dieses Aufbegehren wird von Jenny gleich im Keim erstickt: „Aber ich freue mich nicht und verbiete dir diese Verlobung. Du hast wieder gezeigt, wie ganz unreif du bist, […]

wie knabenhaft“ (FJT 152). Jenny stellt Leopold als kindisch und unmännlich dar, weil sie um seinen Wunsch, männlicher und stärker zu sein, weiß und ihm so den Mut zum Widerstand nehmen kann (FJT 93, 100). Sie droht ihm auch damit, die finanzielle Unterstützung zu unterlassen: „Leopold, vergiss nicht, daß der Segen der Eltern den Kindern Häuser baut.

Wenn ich dir raten kann, sei klug und bring dich nicht […] um die Fundamente, die das Leben tragen und ohne die es kein rechtes Glück gibt.“ (FJT 153) Die Idee der romantischen Liebesheirat, wie sie im 18. Jahrhundert entstanden war, ist hier nicht erwünscht, sondern es wird ausdrücklich davon abgeraten. Wie bei Teuteberg beschrieben, wurden die arrangierten Ehen den Liebesheiraten ja meistens vorgezogen. Die Fundamente, von denen Jenny spricht, sind die materiellen Güter, die durch den Segen der Eltern in die Ehe mit einfließen und die sie Leopold verwehren würde. Jenny weiß, dass Corinna Leopold nicht liebt und die Verlobung raffiniert eingefädelt hat, weil sie sich reich verheiraten möchte. Obwohl sie als junges Mädchen das Gleiche getan hat, ist sie gegen diese Heirat. Sie gab dem reichen Treibel den Vorzug und dem armen Schmidt den Laufpass, Besitz geht für sie vor Bildung. Gemäß den herrschenden Konventionen würde Leopold mit Corinna als Ehefrau aus seiner Gesellschaftsschicht absteigen, weshalb Jenny Treibel auch damit drohen kann, ihm keine finanzielle Unterstützung zu gewähren. Eine Heirat mit Corinna würde den Besitz der Familie Treibel nicht vermehren, sondern ihn im Gegenteil belasten, da Corinna kein eigenes Vermögen hat. Auch in diesem Roman wird beschrieben, dass Ehen innerhalb der Standesgrenzen erwünscht und realisierbar sind, im Gegensatz zu solchen, die sich über die Standesgrenzen hinwegheben. So kommt es, dass Corinna ihren Vetter Marcell heiratet, der aus der gleichen Sozialschicht stammt wie sie. Und Jenny drängt Leopold in eine Ehe, gegen die sie sich am Anfang der Handlung noch entschieden zur Wehr gesetzt hat und das nur, damit die gesellschaftlich schlechtere Ehe, die Mesalliance zwischen Corinna und Leopold nicht zustande kommt. Jenny als Mutter ist zwar dominant und ehrgeizig, verrät aber ihre

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große Angst vor dem sozialen Abstieg. Sie möchte mit allen Kräften verhindern, dass ihr eigener gesellschaftlicher Aufstieg durch ihren Sohn wieder zunichte gemacht wird.

3.3 Frau von Poggenpuhl

Die Majorswitwe Frau v. Poggenpuhl lebt mit ihren drei unverheirateten, erwachsenen Töchtern Therese, Sophie und Manon in Berlin. Der Vater ist schon vor der Geburt der jüngsten Tochter im Krieg gefallen und die beiden Söhne, Wendelin und Leo, sind im gleichen Regiment wie einst der Vater beim Militär. Die Familie gehört zum verarmten preußischen Militäradel. Der Roman beginnt am dritten Januar mit den Vorbereitungen zum Geburtstag der Mutter am folgenden Tag, zu dem der jüngste Sohn Leo und auch der Schwager der Majorin kommen. Der Schwager, Onkel Eberhard, nimmt am Tag nach dem Geburtstag Sophie mit zu sich nach Hause, damit sie ihm und seiner Frau Gesellschaft leiste.

Sophie bleibt das ganze Frühjahr und den ganzen Sommer über bei Onkel und Tante, bis der Onkel Anfang September unerwartet stirbt. Nach der Beerdigung des Onkels, zu der die Majorin mit Therese und Manon angereist kommt, erzählt die Tante der Majorin von ihren Zukunftsplänen, in denen sie eine finanzielle Unterstützung der Majorin und ihrer Töchter eingeplant hat.

Die Majorin lebt in stark beengten Verhältnissen mit ihren Töchtern und dem alten Dienstmädchen Friederike in einer kleinen Wohnung. Die Wohnung hat Ausblick auf einen Friedhof und ist mit ihrer ärmlichen Einrichtung: „[...] ein Ausdruck der Verhältnisse, darin die Familie nun mal lebte“ (DP 9). Die Majorin ist von Geburt her nicht von Adel, sondern ist die Tochter eines armen Pfarrers (DP 6). Sie unterscheidet sich dadurch herkunftsmäßig von ihren Kindern, die schon adlig geboren sind. Der ältesten Tochter Therese ist der Name der Familie Poggenpuhl und die damit verbundene gesellschaftliche Stellung äußerst wichtig und sie ist auch die einzige der Schwestern, die sich in höher stehenden adligen Kreisen bewegt (DP 13). Die Kinder behandeln ihre Mutter liebevoll, aber nicht immer mit Respekt, wie Sophie oder Leo, der seine Mutter mit: „Tag, meine gute Alte“ (DP 34) begrüßt. Sie sprechen in einem ungezwungenen Ton mit der Mutter und eine Reaktion der Majorin auf diesen saloppen Ton wird nicht erwähnt. Die Heirat der Mutter mit dem adligen Major von Poggenpuhl hat den Standesunterschied nicht auslöschen können. Es könnte eine sogenannte

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Mesalliance gewesen sein, weshalb der Mutter eventuell in den Augen der Gesellschaft ein Makel anhaftet.20 Der Standesunterschied wird auch daran deutlich, dass die Mutter die poggenpuhlschen Familienmerkmale an ihren Kindern kritisiert und sich dabei nicht zur Familie mitzählt (DP 43). Die Kritik nehmen die Kinder ihr nicht übel (DP 43). Die Mutter Poggenpuhl vergleicht Leos Zensuren aus der Schulzeit mit denen Wendelins, der, weil er ihrer eigenen, nichtadligen Familie ähnelt, fleißig in der Schule war und sich um Kompetenz bemühte. Wahrscheinlich ist die Majorin gerade durch diesen Standesunterschied auch eher ein den Kindern gleichberechtigtes Familienmitglied, als das Entscheidungen fällende Oberhaupt der Familie. Auch Therese zeigt auf den Unterschied zwischen der nicht adligen, sich ängstigenden Mutter und den Töchtern auf. Ihre Interpretation ist aber, dass die Töchter keine Angst vor Schwierigkeiten haben, weil sie vom Militäradel abstammen:

„Ach, Mutter, du ängstigst dich immer gleich so. Man sieht doch, dass du keine Soldatentochter bist.“ „Nein, bin ich nicht. Und ist auch recht gut so. Wer sollte sonst das bißchen zusammenhalten?“ „Wir.“ „Ach, ihr!... Aber nun lies, Therese. Mir schlägt ordentlich das Herz“ (DP 26).

Therese benutzt den Ausdruck „Soldatentochter“, sie sagt nicht „adlig“. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass sie ihrer Mutter zwar wieder einmal den Standesunterschied vor Augen führen möchte, sie aber nicht deutlich verletzen will. Wenn man bedenkt, dass Fontane diesen Roman zwei Jahre vor seinem Tod und während der Jahrhundertwende schrieb, kann der Roman so gedeutet werden, dass er die sich verändernde Gesellschaft beschreibt. Therese steht für das ausgehende Jahrhundert mit strengeren Klassenunterschieden in der Gesellschaft und Sophie und Manon für das beginnende neue Jahrhundert, das eine zunehmende Gleichstellung der gesellschaftlichen Schichten mit sich bringen würde. Die Gleichstellung deutet sich schon in der gemeinsamen Verantwortung von Mutter und Töchtern für die Finanzen und den Haushalt an. Fritz Martini schreibt in diesem Zusammenhang folgendermaßen über die Familie von Poggenpuhl:

Aber diese Familie repräsentiert preußische Geschichte und moderne Berliner Gegenwart […] Sie leben von Erinnerungen, Illusionen und Kompromissen. Das Heroisch- Preußische ist längst verblaßt, der Adel hat seinen Lebenswert verloren […] Aber die

20 Mesalliance: eine Ehe zwischen zwei gesellschaftlich nicht ebenbürtigen Partnern. Siehe dazu: Westphal:

Affären und Karrieren, 2015, S. 81.

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Zersetzung des Alten gibt doch auch der persönlichen Bewährung einen neuen Raum frei.

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Martini betont in diesem Zusammenhang auch, dass es auf das Individuum ankommt, was dieses aus einer Situation macht. Die Situation der Poggenpuhls ist die finanzielle Not und der Wertverlust ihrer adligen Herkunft. Sie müssen sich nun auf andere Weise im Leben bewähren und selbständig werden, da der traditionelle Weg einer passenden Heirat für sie nicht aktuell ist. Die Situation alleinstehender Frauen und Witwen um 1900 in Städten war nicht leicht. Sie mussten um ihren Erwerb kämpfen und konnten sich nicht mehr auf die traditionelle Versorgung durch männliche Familienmitglieder verlassen. Teuteberg beschreibt die Forderungen der Frauenrechtlerinnen auf Ausbildung von Frauen, mit welchen sie auch auf diese Lebensverhältnisse alleinstehender Frauen aufmerksam machten. Die „weibliche Dressur auf Müßiggang“ der Frauen aus der bürgerlichen und adligen Schicht wurde von den Frauenrechtlerinnen stark angeprangert.22 Dieses Frauenbild innerhalb der Gesellschaft und die geringen Möglichkeiten auf Ausbildung standen einer Berufstätigkeit der Frauen im Wege. Aus diesem Zusammenhang heraus ist es verständlich, dass die Majorin keinen Grund für eine Suche nach geeigneten Heiratskandidaten für ihre Töchter hat. Eine eventuelle Verheiratung ihrer Töchter wird nicht ausführlich diskutiert und es werden auch keine Anstalten gemacht, passende Heiratskandidaten zu finden. Die Mutter hat auch nichts dagegen, dass ihre Töchter als Quasi-Gesellschafterinnen zur Versorgung der Familie beitragen. Diese tolerante Haltung der Mutter könnte wiederum ihren Grund in ihrer nichtadligen Herkunft haben. Das Verhalten der Mutter verweist auch auf die kommende Entwicklung der Gesellschaft, in der die Frauen sich mehr und mehr selbst versorgten.

Die Finanzlage der Familie ist angespannt, da sie von der Witwenrente der Majorin und dem, was die Töchter dazuverdienen, oder als Geschenke erhalten, leben müssen. Diese ständige Geldnot macht der Mutter große Sorgen. Die drei Töchter tragen auf verschiedene Weise zum Lebensunterhalt bei, Therese, indem sie als gern gesehener Gast bei den Generals- und Ministerfamilien Berlins ein- und ausgeht und dort manchmal wertvolle Geschenke bekommt (DP 14). Sie wird als adliges Fräulein charakterisiert, das aufgrund ihrer Herkunft Hochmut ihren Mitmenschen gegenüber fühlt. Sophie trägt am meisten zum Lebensunterhalt der

21 Martini, Fritz: Epochen der deutschen Literatur Bürgerlicher Realismus, Stuttgart 1964, S.788f.

22 Teuteberg: Zur Genese und Entwicklung, 1983, S. 55.

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Familie bei. Sie ist diejenige, die ihre Begabungen genutzt hat und jetzt mit Nachhilfestunden und Malerei die Haushaltskasse aufbessern kann. Sie malt Bilder, die sie verkauft, gibt in vielen Fächern Nachhilfeunterricht, lässt ihre Gedichte veröffentlichen und musiziert. Manon, das Nesthäkchen der Familie, hat zwar keine Talente, hat sich aber mit Töchtern reicher Häuser angefreundet, in denen sie aufgrund der Freundschaften ein- und ausgeht (DP 15).

Somit sorgen Manon und auch Therese für soziale Kontakte und Bekanntschaften, was ihre Mutter nicht tut. Unter diesen Bekanntschaften könnten sich zukünftige Ehepartner finden lassen. Manon vermittelt Sophie Nachhilfeschülerinnen und andere Aufträge und bekommt, auch wieder wie Therese, wertvolle Geschenke. Ein passendes Zitat beschreibt die beiden jüngeren Töchter: „[…] die, den Verhältnissen und der modernen Welt sich anbequemend, bei ihrem Tun sozusagen in Kompanie gingen.“ (DP 14). Adlige, unverheiratete Töchter ohne Vermögen hatten wenig Möglichkeiten, Geld zu verdienen, wie Schenk beschreibt, sie arbeiteten meistens als Gesellschafterinnen oder Erzieherinnen.23 Sie konnten nur das Wissen weitergeben, das sie selbst erhalten hatten, was laut Gross meistens sogenannte Salonfertigkeiten waren: Französisch, Englisch, Literatur, Geschichte, „Guter Ton“, Musik, auch Haushaltsführung. Gross führt die Bildungssituation für adlige Töchter weiter aus, dass, wenn die adligen Töchter eine höhere Schule besucht hatten, das dort erworbene Wissen meist oberflächlich blieb. Auch unterlagen die Höheren Mädchenschulen bis zur Jahrhundertwende häufig den Behörden für die niederen Schulen, was den mangelnden Fokus auf Bildung erklärt.24 Sophie ist auf vielen Gebieten kompetent, die nicht unbedingt für adlige oder bürgerliche Töchter üblich waren, sie unterrichtet sogar in Physik und Spektralanalyse (DP 16). Woher Sophie diese Kompetenz hat, ist aus dem Text nicht ersichtlich, es ist aber möglich, dass sie diesen Stoff in der allgemeinen Volksschule gelernt hat. Dass alle fünf Kinder die Volksschule besucht haben, wie zu dieser Zeit üblich, kann angenommen werden (DP 43).25

Als Mutter ist die Majorin zwar liebevoll, aber passiv und verlässt sich auf Hilfe von außen.

Diese Hilfe bekommt sie von ihren Töchtern und ihrem Schwager. Als der Schwager

23 Schenk: Wieviel Mutter, 2002, S. 66.

24 Gross: Der Neid der Mutter, 2002, S. 51.

25 Im 19. Jahrhundert wurde die Volksschule als Einheitsschule für alle Kinder eingeführt. Es bestand eine allgemeine Schulpflicht. Artikel über die Volksschule in Deutschland. https://de.wikipedia.org/wiki/Volksschule.

[Quelle abgerufen am 31.1.2020].

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ankündigt, Sophie noch am gleichen Tag zu sich nach Hause mitzunehmen, protestiert sie nicht, sondern akzeptiert seine Entscheidung. Da er die Familie zeitweise finanziell unterstützt, hat sie auch nicht die Wahl, ihm das zu verbieten. Frau von Poggenpuhl ist ihren Kindern gegenüber weder dominant noch autoritär, sondern lässt sie die meisten, auch wichtigen Entscheidungen selbst treffen. Sie ist eine ängstliche und melancholische Mutter, was an ihren ständigen Sorgen um die Kinder und die Finanzen zu sehen ist. Sie ist nur zu bereit, sich einem stärkeren Willen zu beugen, ihren Kindern, dem Schwager oder dessen Frau. Diese beschriebene Gleichberechtigung innerhalb der Familie von Poggenpuhl lässt den Beginn einer neuen Zeit ahnen, in der nicht mehr wer man ist, wichtig ist, sondern was man kann.

4 Vergleiche zwischen den Mutterfiguren

Fontane sah als Kritiker seiner Zeit, dass sich die Frauen in einer Zwangslage befanden, eingeengt durch Konventionen, die sie selbst mittrugen und gegebenenfalls auch verstärkten, wie die drei für diesen Aufsatz gewählten Mütterfiguren. Die drei untersuchten Mütter kommen zwar aus verschiedenen Gesellschaftsklassen, möchten aber alle das Beste für ihre Kinder. Luise von Briest gehört zum wohlhabenden Landadel, Jenny Treibel dem reichgewordenen Bürgertum und die Majorin von Poggenpuhl dem verarmten Militäradel an.

Die ihnen gemeinsame Vorstellung von Glück ist, dass ihre Kinder materiell gut versorgt sind. Alle drei Mütter geben Beispiele für die Konventionen der damaligen Gesellschaft.

Sowohl Luise von Briest, als auch Jenny Treibel werden bei der Partnerwahl ihrer Kinder von starkem gesellschaftlichem Ehrgeiz getrieben und dem Wunsch, das Ansehen und Vermögen der Familie zu vermehren. Luise von Briest drängt ihre einzige, noch sehr kindliche Tochter in die Ehe mit einem mehr als doppelt so alten Mann, der noch dazu die Jugendliebe der Mutter war. Jenny Treibel möchte ihren jüngeren Sohn vor einer Heirat schützen, durch die er in eine niedrigere Gesellschaftsschicht absteigen würde. Frau v. Poggenpuhl dagegen macht keine Anstalten, ihre Töchter und Söhne zu verheiraten, die aufgrund ihres nicht vorhandenen Vermögens wenig Chancen auf eine gute Partie haben. Sie unterstützt sie darin, in verschiedenen reichen Häusern als Quasi-Gesellschafterinnen und Nachhilfelehrerinnen ein- und auszugehen und dafür bezahlt zu werden oder wertvolle Geschenke zu erhalten.

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Den drei Müttern ist weiterhin das Bewusstsein für ihre jeweilige Gesellschaftsschicht gemeinsam, mit dem sie entweder aufgewachsen sind, wie Frau von Briest, oder es sich angewöhnt haben, wie Jenny Treibel oder es durch Heirat zunächst aufgezwungen bekommen, wie Frau von Poggenpuhl, um es nach dem Tod des Ehemanns wieder abzulegen.

Die Unterschiede zwischen den Müttern zeigen sich in der Frage nach der Gestaltung der Zukunft ihrer Kinder. Sowohl Frau von Briest und Jenny Treibel setzen den gesellschaftlichen Aufstieg höher als persönliches Glück, was als typisch für diese Zeit, unabhängig von der Gesellschaftsklasse angesehen werden kann. Beide werden bei der Partnerwahl ihrer Kinder von starkem gesellschaftlichem Ehrgeiz getrieben und haben den großen Wunsch, ihre Kinder das erreichen zu sehen, was sie selbst nicht erreicht haben. Bei den Poggenpuhls ist die Situation anders. Durch ihre Armut haben sie geringere Aussichten auf eine Heirat und müssen sich deshalb selbst versorgen, finanzielle Unabhängigkeit ist ihr Ziel. Ihrem Auftreten nach lassen sich die drei Mütter insofern miteinander vergleichen, indem sowohl Jenny Treibel, als auch Luise von Briest dominante und ehrgeizige Mütter sind, Frau von Poggenpuhl dagegen verunsichert, ängstlich und jederzeit bereit ist, sich einem stärkeren Willen zu beugen. Luise von Briest ist stark manipulativ und Jenny Treibel von einer großen Angst getrieben, dass ihre Söhne ihren gesellschaftlichen Aufstieg nicht nachahmen, sondern, im Gegenteil, auf der sozialen Leiter absteigen.26 Damit kann auch die im Titel gestellte Frage beantwortet werden; Die Mütter sind also keine „Rabenmütter“ in dem Sinne, dass sie sich nicht um ihre Kinder kümmern, sondern sie orientieren sich an den äußeren Gegebenheiten, den Gesellschaftskonventionen, und handeln auch danach. Die einzige Möglichkeit zu einer Lebensveränderung bestand für eine Frau zu dieser Zeit in einer Heirat, je gesellschaftlich vorteilhafter die Verbindung, desto besser. Die untersuchten Mutterfiguren sind sich dessen bewusst und fühlen sich dadurch selbstverständlich an die gesellschaftlichen Normen und Zwänge gebunden. Es steht für Luise von Briest und Jenny Treibel außer Frage, dass ihre Kinder eine für ihre Gesellschaftsschicht standesgemäße Ehe eingehen müssen, denn nur so werden der familiäre Wohlstand und das gesellschaftliche Ansehen erhalten und gefördert.

26 Als weitere Dimension der Mütterfrage in zwei der Romane ist zu nennen, dass Effi und Corinna eine Art Ersatzmütter finden. Effi findet sie in Roswitha, ihrer Dienerin und Corinna in ihrer Haushälterin Schmolke.

Diese Ersatzmütter sind emotional und nachsichtig-liebevoll, was weder Jenny Treibel zu ihren Söhnen noch Luise von Briest sind. Frau von Poggenpuhls Kinder brauchen keine Ersatzmutter, denn ihre eigene Mutter ist liebevoll und umsorgend, etwas, das Effi, Leopold Treibel und Corinna vermissen. Siehe dazu: Böschenstein:

Und die Mutter,1996, S. 266.

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Eine Berufskarriere der Töchter, oder, beispielsweise bei Effi, eine eventuelle Übernahme des väterlichen Guts, werden nicht vorgeschlagen, nicht einmal erwähnt. Bei den Poggenpuhls ist die Situation ein wenig anders; sie weisen mit ihrem Verhalten auf die neue Zeit hin, die sich mit der beginnenden Jahrhundertwende schon andeutet. Fontanes Frauenfiguren zeichnen sich häufig durch charakterliche Stärke und viel Macht aus, die sie trotz der gesellschaftlichen Einengung hatten, wie beispielsweise Luise von Briest oder Jenny Treibel. Frau von Poggenpuhl gehört nicht zu diesen starken Frauen.

5 Zusammenfassung und Ausblick

Wie aus der Analyse hervorging, sind sich die Mütter sehr ähnlich, wenn es um das Standesbewusstsein geht, aber auch sehr verschieden in der Handhabung ihrer jeweiligen Lebenssituationen. Drei verschiedene Mütter, drei verschiedene Situationen in Deutschland, Ende des 19. Jahrhunderts. Frau von Briest drängt ihr einziges Kind in eine Ehe, die von Beginn an unter einem schlechten Stern steht. Jenny Treibel möchte um jeden Preis verhindern, dass ihr jüngerer Sohn eine Ehe eingeht, die ihn gesellschaftlich absteigen lässt.

Frau von Poggenpuhl wiederum hat fünf Kinder und bemüht sich für keines um eine Heirat, sie lässt alle Kinder den Lebensunterhalt mitverdienen und lebt gleichgestellt mit ihnen. Die ersten beiden Mütter leben im Wohlstand, die dritte in Armut und auf Hilfe angewiesen. Allen dreien sind ihre Kinder wichtig und sie möchten nur das Beste für sie erreichen. Bei allen drei Mutterfiguren lassen sich auch verschiedene Strategien ausmachen: während Frau von Briest manipulativ vorgeht und Jenny Treibel stark dominant, ist Frau von Poggenpuhl eher zurückhaltend. Diese drei Verhaltensweisen entsprechen gewissermaßen ihrem bürgerlichen Stand und ihren Vermögensverhältnissen. Es wird deutlich, dass Fontane in seiner Gesellschaftskritik verschiedene Frauentypen schildert, denen gemeinsam ist, dass sie in einer Zwangslage sind. Fontane hat verschiedene Aspekte dieser Zwangslage beschrieben und dadurch verschiedene Beispiele für die durch Konventionen eingeengte Welt der Frauen dargestellt. Verstärkt wurde diese Zwangslage, wenn sich die Frauen an die Konventionen hielten, wie Frau von Briest und Jenny Treibel. Frau von Poggenpuhl ist wegen ihrer äußeren Umstände von den Konventionen nicht in gleichem Maße eingeschränkt, wie die beiden anderen Mütter.

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Aus heutiger Sicht geben die Mutterfiguren in den untersuchten Romanen der Individualität ihrer Kinder nur sehr begrenzt Raum und drängen sie teilweise mit einer starken Autorität in einen Lebensweg, den die Kinder so wahrscheinlich nicht selbst gewählt hätten. Andererseits erfüllen die Mütter die gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie gestellt werden, denn die persönliche Freiheit, die wir heutzutage besitzen, gab es in diesem Maße noch nicht.

Liebevoll unterstützend sind die Mütter jede auf ihre ganz persönliche Weise, je nach Charakter. Sie möchten ja alle das Beste für ihre Kinder. Genauso haben sie auch, ihren Persönlichkeiten gemäß, charakterliche Schwächen, die in der Untersuchung zutage gekommen sind. Die Frage nach dem Liebes- und Lebensglück ihrer Kinder stellen sich die Mütter entweder nicht oder erst, als es zu spät ist, sie ist historisch gesehen auch gar nicht relevant. Es ging bei Heiraten in diesen Gesellschaftsschichten nicht darum, glücklich zu werden, sondern darum, standesgemäß zu heiraten, die gesellschaftliche Stellung der Familie, wenn möglich, zu erhöhen und das Vermögen zu vermehren. Es kann deshalb durchaus als Ausdruck von Mutterliebe und Unterstützung gedeutet werden, eine passende Ehe für sein Kind zustande zu bringen. Das war häufig das Letzte, was Mütter für ihre Kinder, besonders die Töchter tun konnten, bevor diese ihre Familie verließen.

Das heutige Mutterbild und die Stellung der Mutter innerhalb der Familie stehen in starkem Gegensatz zu dem Mutterbild und der Stellung der Mutter in den oberen Gesellschaftsschichten des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Das 20. Jahrhundert begann mit der gesetzlichen Gleichstellung von Mann und Frau im Bundesgesetzbuch von 1900, der Entwicklung der Emanzipation und der immer größer werdenden finanziellen Unabhängigkeit der Frau. Wie Schenk es formuliert, hat sich auch die Rolle der Eltern bei der Partnerwahl ihrer Kinder stark verändert: „Die Partnerwahl ist heute ausschließlich Sache des Individuums. Die Eltern können zwar Ablehnung oder Mißbilligung zum Ausdruck bringen und so ihr Kind in seiner Wahl verunsichern, aber sie können es nicht an der Heirat hindern“.

27 Verhütung und damit Familienplanung, aber auch die nicht mehr stigmatisierte und stigmatisierende Möglichkeit zur Ehescheidung haben das Mutter- und Frauenbild in den letzten hundert Jahren verändert und verändern es immer noch.

27 Schenk: Freie Liebe, 1995, S. 178

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6 Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Theodor Fontane: Effi Briest, Stuttgart, 2002.

Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel, Frankfurt an Main, 2002.

Theodor Fontane: Die Poggenpuhls, München, 2007.

Sekundärliteratur:

Bark, Joachim & Steinbach, Dietrich & Hildegard Wittenberg (Hrsg): Geschichte der deutschen Literatur. Biedermaier-Vormärz Bürgerlicher Realismus, Stuttgart 1984.

Bauer, Karen: Fontanes Frauenfiguren, Frankfurt am Main 2002.

Baumann, Barbara & Oberle, Birgitta: Deutsche Literatur in Epochen, Ismaning 2000.

• Böschenstein, Renate: „Und die Mutter kaum in Salz“ In: Roebling, Irmgard &

Mauser, Wolfram (Hrsg), Mutter und Mütterlichkeit, Würzburg 1996, S. 245-269.

Chambers, Helen: Fontane-Studien, Würzburg 2014.

Gross, Gabrielle: Der Neid der Mutter auf die Tochter, Bern 2002.

• Kaarsberg Wallach, Martha: „Die verkaufte Braut: Mütter geben ihre Töchter preis“

In: Kraft, Helga & Liebs, Elke (Hrsg), Mütter-Töchter-Frauen, Stuttgart 1993, S. 91- 113.

Martini, Fritz: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1989, Stuttgart 1964.

Schenk, Herrad: Freie Liebe, wilde Ehe, München 1995.

Schenk, Herrad: Wieviel Mutter braucht der Mensch? Hamburg 2002.

Schoene, Monika: Frauengestalten im Werk Fontanes, Bad Rappenau 2014.

• Teuteberg, Hans J.: „Zur Genese und Entwicklung historisch-sozialwissenschaftlicher Familienforschung in Deutschland“. In: Borscheid, Peter & Teuteberg, Hans J. (Hrsg), Ehe, Liebe, Tod, Münster, 1983, S. 15-65.

• Westphal, Bärbel: „Affären und Karrieren - Familienbildung im

Wirtschaftswunderjahrzehnt in der Bundesrepublik: Martin Walsers Roman Ehen in Philippsburg“. In: Moderna språk. Vol. 109: 1, 2015, S. 78-101.

• Volksschule in Deutschland. https://de.wikipedia.org/wiki/Volksschule. [Abgerufen am 31.1.2020].

References

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