• No results found

„es gibt ja so viele Möglichkeiten zugrunde zu gehen, zu scheitern!“

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2021

Share "„es gibt ja so viele Möglichkeiten zugrunde zu gehen, zu scheitern!“"

Copied!
31
0
0

Loading.... (view fulltext now)

Full text

(1)

Examensarbete

„es gibt ja so viele Möglichkeiten zugrunde zu gehen, zu scheitern!“

Das Scheitern als literarisches Motiv bei Thomas Bernhard

Författare: Amanda Sandberg Handledare: Corina Löwe Examinator: Bärbel Westphal Termin: HT13

Ämne: Tyska Nivå: Grundnivå

(2)

Abstract

Not rarely the main characters in Thomas Bernhard's literature fail with their intentions to write scientific works. Instead they go through a fruitless writer's cramp for decades, until they perish. With this background this essay will analyse the motive of failure in Bernhard's novel The Lime Works from 1970. The main character Konrad aims to write the ultimate treatise on the subject of hearing, though he comes to nothing. It will be shown that Konrad's failure has many reasons and that the motive of failure can be related to many aspects in Bernhard's texts. The analysis identifies Konrad's dead-end situation. This essay intends to convey an insight into Bernhard's literature but also to reflect about the nature of failure in general.

Schlüsselwörter

Thomas Bernhard, Das Kalkwerk, Scheitern

(3)

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung...1

2. Ziel und Fragestellungen...3

3. Das Kalkwerk...3

3.1 Zusammenfassung der Handlung...4

3.2 Die Hauptfigur...4

3.3 Das Kalkwerk (als Ort)...6

3.4 Die Studie...7

4. Das Scheitern im Akt des Schreibens...8

5. Innere und äußere Gründe des Scheiterns...12

5.1 Innere Gründe des Scheiterns...13

5.2 Äußere Gründe des Scheiterns...15

5.2.1 Das Kalkwerk...15

5.2.2 Die Gesellschaft als Gegensatz...16

5.2.3 Sich zu Tode experimentieren...18

6. Kindheit als Ursache...19

7. Das fruchtbare Scheitern...20

7.1 Das Scheitern als Fortschritt gesehen...21

7.2 Das Scheitern als Einsicht gesehen...22

7.3 Fruchtbarkeit von Konrads Scheitern...23

8. Fazit...24

9. Literaturverzeichnis...27

(4)

1. Einleitung

Ein zentrales Thema bei Thomas Bernhard ist das Scheitern einer intellektuellen Arbeit.

Studien, an denen Bernhards Figuren arbeiten, kommen laut dem Germanisten Christoph Bartmann in gut der Hälfte von Bernhards veröffentlichten Werken vor.1 Die Themen der Studien sind entweder naturwissenschaftlich-philosophischer Art, sie sind Künstlerbiographien oder ein Nachlass tausender Zettel über „alles“.2 Ihnen ist gemeinsam, dass sie oft unaufgeschrieben oder nicht abgeschlossen bleiben. Nicht nur die Studien scheitern, mit den scheiternden Schriften gehen auch ihre Verfasser unter. Nachdem sie all ihre Energie auf nicht zustandegekommene Studien gerichtet haben, enden sie in „Wahnsinn oder Tod”.3

Die scheiternde Schrift nennt Bartmann „das Motiv der Motive Bernhards […] das stärkste Sinnbild in seinen bildarmen Romanen“.4 Daher sollte sich dieses Thema dafür eignen Bernhards Literatur zu untersuchen. Das Kalkwerk eignet sich insbesondere, da laut Bartmann dieser Roman „vielleicht Bernhards ernsteste und konsequenteste Durcharbeitung des Themas lebenslanger unfruchtbarer Geistesarbeit“5 ist. In Das Kalkwerk ist die scheiternde Figur der Wissenschaftler Konrad, welcher seit zwanzig Jahren seine Studie über das Gehör aufzuschreiben versucht, jedoch über das erste Wort nicht hinauskommt.

Eine definitive Erklärung für das Scheitern der Studien bekommen die Leser von Bernhard nicht,6 jedoch wenn man von Bernhards Aussage ausgeht, dass man sich von dem Vollkommenen und Ganzen distanzieren und stattdessen die Niederlage als interessantes Ergebnis erforschen solle,7 kann dies als Ausgangsbasis der Untersuchung dienen.

Es wird sich zeigen, dass das Scheitern ein vielfältiges Motiv ist, das einen Bezug zu verschiedenen Aspekten in Bernhards Texten hat. Es umfasst das persönliche Scheitern der Studienschreiber sowie die gescheitere Ära, in der sie leben. Zuletzt beinhaltet es auch das unvermeidliche Scheitern des Menschen – den Tod. Der deutsche Schriftsteller Günter Blöcker schrieb in diesem Zusammenhang einst über Bernhards ersten Roman Frost, was

1 Bartmann 1991, S. 22.

2 Bartmann 1991, S. 25.

3 Huntemann 1991, S. 45.

4 Bartmann 1991, S. 24.

5 Bartmann 1991, S. 25.

6 Huntemann 1991, S. 45.

7 Ekman 2011, S. 217.

(5)

ebenso für spätere Werke gelten kann:

Wer seinen Roman Frost (1963) gelesen hat, weiß, wie entschieden dieser außerordentliche Erzähler auf der einfachen Wahrheit besteht, dass das Leben ein tödlicher Prozess ist und dass, wer diesen Prozess begreifen will, auch das Scheitern befragen und unter Trümmern forschen muss.8

Hier wird das Scheitern mit dem Verständnis für den Lebensprozess verbunden und erhält so eine existentielle Dimension.

Das Motiv des Scheiterns kann außerdem als Provokation sowie als Kompensation für die „Glückshysterie“9 wirken, die der Philosoph Wilhelm Schmid in der heutigen Gesellschaft beobachtet und in seinem Buch Unglücklich sein – Eine Ermutigung beschreibt. Für Schmid nährt „das übermäßige Reden über das Glück die Illusion, es könne ein gelingendes Leben, eine gelingende Beziehung ohne Einbußen und Schattenseiten geben“.10 Als Gegengewicht zum Glücksstreben will dieser Aufsatz sich der im „Sein eingepflanzte[n] Tendenz zu Untergang und Selbstvernichtung“11 widmen.

Scheitern als solches kann verschieden aufgefasst werden. Der Duden erklärt Scheitern wie folgt: „[E]in angestrebtes Ziel o. Ä. nicht erreichen, keinen Erfolg haben“,12 was die gebräuchliche Verwendungsweise des Wortes zusammenfasst. Konrad scheitert in dieser Weise, als er das angestrebte Ziel, die Niederschrift der Studie, nicht erreicht und mit seinem Vorhaben keinen Erfolg hat. Wenn aber Bernhard in einem Interview sagt: „Scheitern tut letzten Endes alles, alles endet am Friedhof, Da können S’ machen, was Sie wollen“13 bezieht er sich auf das letzte Scheitern, den Tod. Auch diese Form des Scheiterns findet sich bei Konrad, da er „den Keim einer Todeskrankheit in sich“14 trägt, welcher sein Scheitern bereits ankündigt.

Für den deutschen Existenzphilosophen Karl Jaspers, in dessen Philosophie das Scheitern eine bedeutungsvolle Rolle spielt, ist der Umgang mit dem Scheitern ein wichtiger Gesichtspunkt für die Entwicklung eines Menschen. Für ihn bezieht sich das Scheitern sowohl auf die Unzulänglichkeit des Menschen, der Philosophie als auch die Unzulänglichkeit der

8 Botond 1970 , S. 89.

9 Schmid 2012, S. 9.

10 Schmid 2012, S. 12.

11 Botond 1970 S. 89.

12 http://www.duden.de/rechtschreibung/scheitern, 11.12.2013.

13 Bayer, Huber, Fellinger 2011, S. 247.

14 Bartmann 1991, S. 25.

(6)

Zivilisation.15 Wenn vom Scheitern die Rede ist, sind also Unzulänglichkeiten aller Art gemeint. Wie Konrad auch ausruft: „[E]s gibt ja so viele Möglichkeiten zugrunde zu gehen, zu scheitern!“ (174).

Der Aufsatz beginnt mit einer Zusammenfassung wichtiger Teile des Romans. Mit diesen Grundkenntnissen über den Charakter Konrads, über den Handlungsort und über die angestrebte Studie wird der Grund für weitere Nachforschung gelegt. Im nachfolgenden Abschnitt wird das Scheitern im Akt des Schreibens behandelt, wobei die Schreiberfahrungen Konrads, die der anderen Figuren Bernhards und Bernhards eigene mit in die Betrachtung einbezogen werden. In den folgenden Abschnitten werden die weiteren Gründe für Konrads Scheitern dargelegt. Diese hängen sowohl mit dem Charakter Konrads als auch mit seiner Vergangenheit und Umgebung zusammen. Zum Schluss werden die konstruktiven Seiten des Scheiterns angesprochen. Der Aufsatz wird durch ein Fazit beendet.

Der Aufsatz ist hauptsächlich auf das Scheitern Konrads begrenzt. Theorien der Ideengeschichte, Existenzphilosophie und Psychoanalyse werden verwendet, um sein Scheitern zu analysieren. Obwohl im Aufsatz nicht nachdrücklich behandelt, sollte den Lesern jedoch die Entstehungszeit von Bernhards Werken bewusst sein. Einige seiner kritischen Aussagen könnten schwer verständlich sein, wenn nicht in Betracht gezogen wird, dass seine Literatur eine Verbindung zur Nachkriegszeit in Österreich hat. Bernhard war in Österreich einer der ersten Autoren, der einen neuen Stil fand, um mit totgeschwiegenen Themen umzugehen. „Eine aggressive, wilde, alle Mäßigungen und Harmonisierungen über den Haufen werfende Archäologie setzt in Frost ein und zerschneidet die Verbindung mit der verdrängerischen Nachkriegsliteratur“16 schreibt Hans Höller.

2. Ziel und Fragestellungen

Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, das Motiv des Scheiterns im Roman Das Kalkwerk zu untersuchen. Mit dem Scheitern als Ausgangspunkt will der Aufsatz Merkmale in Bernhards Literatur identifizieren und analysieren. Der Aufsatz will damit einen Einblick in Bernhards Literatur vermitteln, aber auch allgemein über die Natur des Scheiterns reflektieren.

Die zu beantwortenden Fragen sind vor allem, welche Gründe es für Konrads Scheitern gibt und welche Bedeutung sein Scheitern trägt. Abschließend wird die Frage gestellt, ob Konrads Scheitern auch fruchtbare Seiten aufweist.

15 Stenström 1966, S. 88.

16 http://derstandard.at/1363711421597/Endlich-ist-das-Gesaeusel-weg, 15.12.2013.

(7)

3. Das Kalkwerk

In diesen Abschnitten wird ein erster Einblick in den Roman Das Kalkwerk gegeben.

3.1 Zusammenfassung der Handlung

Das Kalkwerk erschien 1970 und spielt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Hauptfigur ist der Wissenschaftler Konrad, welcher mit seiner Frau, gleichzeitig Halbschwester, in einem entlegenen Kalkwerk wohnt. Konrad ist dort hingezogen, um ungestört seine Studie über das Gehör zu schreiben. Er befasst sich seit 20 Jahren mit seiner Studie, dies ist seine Lebensaufgabe und fordert seine ganze Energie. Konrad quält sich selbst und die auf ihn angewiesene, im „Krankensessel“ (7) sitzende Frau, mit Experimenten zum Thema Gehör nach der „urbantschitsche[n] Methode“17 (25). Sich in Vorstudien verlierend, gelingt ihm eine Niederschrift nicht. Der fruchtlose Versuch, die Studie aufzuschreiben, ist das Hauptthema des Romans und stellt Konrads Scheitern dar. Es ist anzunehmen, dass Konrad wegen dieser verzweifelten Situation schlussendlich auch seine Frau erschießt. Nach seiner Verhaftung wird er lebenslang in einer Strafanstalt oder in einem Irrenhaus eingesperrt werden. Die Chancen für eine Niederschrift scheinen nach der Tat äußerst gering.

Infolgedessen ist auch Konrads Studie und sein Leben letztendlich gescheitert.

3.2 Die Hauptfigur

In der folgenden Charakterisierung werden die für das Scheitern wesentlichen Charakterzüge Konrads angesprochen.

Konrad ist ein selbstständiger, durch und durch perfektionistischer Wissenschaftler Mitte 50. Seine Wissenschaft ist das einzige, was ihn interessiert. Er ist, so wie die anderen Figuren Bernhards, ein 'Geistesmensch',18 ein Mensch, der sich ausschließlich seiner wissenschaftlichen Arbeit widmet. Konrad verkörpert sogar, wie Bartmann meint, „den absoluten Geistesmenschen“.19 Die Geistesmenschen stammen oft aus wohlhabenden Familien und können, anstatt arbeiten zu gehen, sich in ihre Wissenschaften und geistigen Produkte vertiefen. Auch Konrad ist einst wohlhabend gewesen, aber jetzt, wie die Dorfbewohner in der Umgebung des Kalkwerks sagen, habe er „vor allem durch die

17 Hörübungen nach Viktor Urbantschitisch zur Verbesserung und Wiederherstellung der Hörfähigkeit, bei der Laute und Sätze dem Patienten immer wieder vorgesprochen werden.

18 Bartmann 1991, S. 27.

19 Bartmann 1991, S. 25.

(8)

Beschäftigung mit einer sogenannten wissenschaftlichen Arbeit […] kein Geld mehr“ (108).

Infolge seiner speziellen Tätigkeit ist er also verarmt.

Wie andere Geistesmenschen ist Konrad durch seine Isolation, seine absoluten Ansprüche, seine Monomanie und sein Misstrauen gegenüber der modernen Gesellschaft gekennzeichnet. Charakteristisch für Konrad ist seine altmodische Art, auf welche auch Bartmann eingeht. Dieser meint, dass die exzentrischen Geistesmenschen „das Bild einer vergangenen Epoche“20 aufzeigen, dessen Vorbild im Wiener Großbürgertum um 1900 zu finden sei.

Durch seine Kindheit ist Konrad traumatisiert. Da Konrad viel älter als seine Geschwister ist, war er während der Kindheit immer allein, und sowohl Eltern als auch Geschwister haben sich von ihm abgewendet. Die Eltern hinderten Konrad daran, ein wissenschaftliches oder medizinisches Studium anzufangen, weil sie beabsichtigten, dass er die Erbschaft verwalten sollte. Dadurch, dass Konrad kein Studium absolviert hat, ist er jedoch „zeitlebens als Wissenschaftler Außenseiter geblieben“ (192). Dies hat ihn aber nicht daran gehindert, sich schließlich seiner Wissenschaft zu widmen, welcher er sich immer in der

„höchstmöglichen Aufmerksamkeit“ (24) zuwendet. Damit ist die für Konrad charakteristische Hellhörig- und Hellsichtigkeit gemeint. Im Vergleich zu den anderen Menschen, seinen „Versuchspersonen“ (25) hört und sieht Konrad außerordentlich gut, und

„zeitlebens habe [er] immer alles versucht, um [sein] Hören und Sehen zu vervollkommnen“

(25).

Die gegensätzlichen Beschreibungen von Konrad fallen auf. Einerseits wird er als sehr sensibel beschrieben: „Oft suche ein solcher wie er Schutz, finde aber keinen, denn alles sei Schutzlosigkeit“ (69). Anderseits ist er sehr rücksichtslos, vor allem in der an seiner Frau praktizierten urbantschitschen Methode. In den umliegenden Gasthäusern heißt es: „Konrad sei fürchterlich, gleichzeitig hilfsbereit. Sadist, gleichzeitig fürsorglich“ (108).Weshalb wird Konrad mit solchen Gegensatzpaaren beschreiben? Bernhard Sorg meint, dass die Folge von lebenslangen Enttäuschungen „für sensible und schutzlose Menschen […] nur den Ausweg des Zynismus und der gespielten Härte und mehr beschworenen als praktizierten 'äußersten Rücksichtslosigkeit' [lässt]“.21 Diese Erklärung zufolge ist Konrads Härte und Rücksichtslosigkeit eine Auswirkung seiner Sensibilität und lebenslanger Enttäuschungen.

Eine andere Erklärung für gegensätzliche Beschreibung gibt Bernhard in einem Interview:

20 Bartmann 1991, S. 26.

21 Sorg 1977, S. 146.

(9)

„[M]an ist alles. Der Mensch ist mehr oder weniger alles. Einmal lacht er und einmal nicht“.22 Wenn davon ausgegangen wird, dass der Mensch alles sein kann, und sich mit einem Wort nicht definieren lässt, sind auch Konrads gegensätzliche Charakterzüge zu verstehen. Darüber hinaus sollte schon gesagt werden, dass die Vereinigung von Gegensätzen – wie Euphorie und Lebensmüdigkeit, Komik und Ernsthaftigkeit – den Ton bei Bernhard angibt.23

Nicht zuletzt ist für die weitere Betrachtungen von Bedeutung, dass Konrad in schwieriger Beziehung zur Gesellschaft steht; an seiner Studie und seinen Ansichten ist niemand interessiert, er wiederum hat seinerseits kein Interesse für die Außenwelt. Konrad, der „Wahrheitsfanatiker“ (13) ist mehrmalig wegen „Ehrenbeleidigung“ (96) gegen den Staat Österreich verurteilt worden, weshalb er fürchtet, seine Meinung auszusprechen; es aber trotzdem macht: „Nur die Lüge bringe in diesem Land alles vorwärts“ (98), meint Konrad. Er selbst hingegen, „erkenne die Wahrheit“ (97), welche jedoch „in den Ohren der Betroffenen […] in jedem Falle Gerichts- und das heiße Anklage- und Verurteilungsmaterial“ (97) ist.

Konrad und die Gesellschaft bilden so zwei gegensätzliche Positionen.

3.3 Das Kalkwerk (als Ort)

In der folgenden Beschreibung vom Kalkwerk werden die besonderen Merkmale dieses Gebäudes gezeigt.

Nach vielen Jahren auf Reisen, die alle Ablenkung von der Studie bedeuteten, lässt sich Konrad im Kalkwerk nieder. Das Kalkwerk zu erwerben war ein jahrzehntelanges, schwieriges Vorhaben, „aber er [Konrad] wäre nicht er selbst gewesen, wenn er nicht gegen und vor allem gegen alle diese […] unmenschlichen Widerstände schließlich doch in den Besitz des Kalkwerks gekommen und in das Kalkwerk eingezogen wäre“ (16). Nach seinem Einzug lässt Konrad sämtliche Fenster vergittern und Türen verriegeln, um wie er sagt, „vor der Außenwelt, der sie endlich entkommen seien, sicher [zu] sein“ (20). Er verbarrikadiert sich und kauft Gewehre, um sich gegen die von ihm gefürchteten Einbrecher zu schützen,

„die überall auftauchten, aus allen möglichen Löchern herauskämen, nur um Verbrechen zu begehen“ (36).

Die Bedingungen im Kalkwerk und in seiner Umgebung sind für die Niederschrift der Studie vielversprechend. Das auffallendste am stillgelegten Kalkwerk ist seine völlige Isolation. Die Menschen können das Kalkwerk, welches außerhalb des österreichischen Ortes Sicking liegt, weder sehen noch erreichen. Das Gestrüpp „ist so hochgewachsen […] daß kein

22 Bayer, Huber, Fellinger 2011, S. 250.

23 Olsson 1991, S. 169.

(10)

Mensch mehr einen Blick auf das Kalkwerk werfen kann“ (21) und im Winter ist der einzige zum Kalkwerk führende Weg zugeschneit, „in ein totes, aufgelassenes Kalkwerk fährt ganz einfach kein Schneepflug“ (21). Die Folge ist „absolute Ruhe“ (23). In dieser Ruhe glaubt Konrad der Außenwelt und ihren „Fremdelementen“ (7) zu entkommen und die Studie aufschreiben zu können. Laut Konrad könne „ein völlig von der Außenwelt abgeschlossener Kopf die Studie leichter niederschreiben als ein an die Außenwelt, an die Gesellschaft gebundener“ (68). Das Wasser und die Steine, welche das Kalkwerk umgeben, dienen als Schallisolation für die Hörexperimente Konrads.24 Im Kalkwerk schärft sich außerdem das Wahrnehmungsvermögen:

Weil man beinahe überhaupt nichts höre, werde man im Kalkwerk, besonders wenn einem ein solches ungemein empfindliches Gehör zu eigen sei, wie ihm, besonders hellhörig. Alles, was man höre, wie alles, was man nicht höre, mache einen im Kalkwerk hellhörig. (23)

Die Größe des Kalkwerks ist für die Niederschrift auch vielversprechend. Im Kalkwerk kann Konrad, welcher nur im großen Gebäuden „atmen und existieren“ (28) kann, und für den das Hin- und Hergehen unerlässlich ist, „ruhig zwanzig oder gar dreißig Schritte“ (28) in einer Richtung gehen.

Hier im Kalkwerk könne Konrad stundenlang gehen, ohne verrückt zu werden […], während man in andern gleich großen oder möglicherweise noch viel größeren Gebäuden schon nach Minuten des Auf- und Ab- und des Hin- und Hergehens verrückt werde. (28)

Die hier genannten Tatsachen, welche von Konrad „vorausberechnet“ (24) sind, sollten naturgemäß von Vorteil für die Studie über das Gehör sein. Tatsächlich verspricht das Kalkwerk anfangs die „Sicherheit des Gelingens“25 der Niederschrift. Es wirkt für Konrad zunächst als „ein ideales Existenz- und Studiermauerwerk“ (42), hat für ihn „alle Vorzüge eines sogenannten freiwilligen Arbeitskerkers“ (27). Später im Aufsatz wird jedoch gezeigt, dass das Kalkwerk in einem ebenso hohen Grade zum Scheitern Konrads beiträgt.

3.4 Die Studie

Die Studie ist der „Existenzzweck“ (16) Konrads und seine ganze Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet. Wie sehr er auf die Studie setzt wird deutlich, wenn er sagt: „[D]ie Gesellschaft ist nichts, die Studie ist alles“ (137). Das Thema der Studie, das Gehör, ist insofern von

24 Honegger 2001, S. 102.

25 Sorg 1977, S. 143.

(11)

Bedeutung, da gerade dadurch das Wahrnehmungsvermögen thematisiert wird, welches auch Konrads besonderes Merkmal ist.

Konrad ist davon überzeugt, dass es keine guten Studien zum Gehör gibt. „[Ü]ber das Gehör gibt es keine vorzügliche Abhandlung, keine vorzügliche Dissertation, nicht einmal einen guten Aufsatz gibt es darüber“ (64), was Konrad als seine Chance begreift. Abschätzig beurteilt er die bisherige Forschungsliteratur, die seiner Meinung nach „[k]einerlei Denkprozess“ (64) enthält. Im Gegensatz dazu stellt Konrad an seine eigene Studie die höchsten Ansprüche:

Man darf nicht nur Arzt und man darf nicht nur Philosoph sein, wenn man sich eine Sache wie das Gehör vornimmt und an sie herangehe. Dazu müsse man auch Mathematiker und Physiker und also ein vollkommener Naturwissenschaftler und dazu noch Prophet und Künstler sein und das alles im höchsten Maße. (61)

Ihm geht es also darum, eine absolute Studie zu verfassen. Konrad ist sich der Schwierigkeiten seines Vorhabens bewusst. Erstens „sei [es] eine ungeheuerliche Geistesanstrengung“ (66) eine solche Studie über Jahrzehnte im Kopf zu haben und zweitens diese tatsächlich aufschreiben. Die auf das Aufschreiben bezogenen Schwierigkeiten werden im folgenden Abschnitt genauer untersucht.

4. Das Scheitern im Akt des Schreibens

In diesem Abschnitt werden die Schwierigkeiten behandelt, auf die Konrad stößt, als er zu schreiben und seine Erkenntnisse zu formulieren versucht. Die Erfahrungen Konrads werden, wenn es dazu Anlass gibt, mit den Erfahrungen anderer Figuren Bernhards verglichen. Am Ende des Abschnittes folgt eine Gegenüberstellung mit den Erfahrungen Bernhards, weil hier interessante Übereinstimmungen und Unterschiede im Vergleich mit Konrad zu beobachten sind.

Es gelingt Konrad nicht, die Studie auf das Papier „zu kippen“ (211) und in einen Text zu verwandeln. „Die Schwierigkeit bestehe ja nicht darin, etwas im Kopf zu haben, im Kopf hätten alle das Ungeheuerlichste […] sondern die Schwierigkeit sei, dieses Ungeheuerliche aus dem Kopf heraus auf Papier zu bringen“ (67), so Konrad.

Konrad fällt es schwer, über das erste Wort hinaus zu kommen, woran ihn verschiedene Aspekte hindern, die jedoch alle mit seinem Perfektionismus und dem Vorhaben, eine absolute Studie verfassen zu wollen, zusammenhängen. Nun wird ein genauerer Blick auf diese Aspekte geworfen.

(12)

Erstens glaubt Konrad, den „optimalen Zeitpunkt“ (210) für die Niederschrift abwarten zu müssen. „Wenn man so lange Zeit alles im Kopf habe […] dann komme es doch, wie man annehmen muss, nur mehr noch auf den Augenblick an“ (57). Konrad glaubt den Augenblick jeden Tag gefunden zu haben, aber immer kommt etwas dazwischen, und da „er aber auf diesen Augenblick warte, komme dieser Augenblick nicht“ (118), was ihm klar ist.

Der richtige Augenblick ist unerlässlich, da er sich fürchtet aus Voreile oder aus Verspätung seine Studie zunichte zu machen: „[M]an schreibe eine Studie zu früh nieder und sie sei […] nichts wert oder zu spät und dadurch nichts wert, nichts“ (190).Wie viele Studien seien nicht „durch Unvorsichtigkeit und durch Unaufmerksamkeit oder durch Übervorsichtigkeit oder durch Überaufmerksamkeit“ (191) schon gescheitert. Auf den richtigen Augenblick, den spärlichen Raum zwischen zu früh und zu spät, wartend, hat Konrad „immer einen neuen Zeitpunkt kommen und vorbeigehen lassen und sich dadurch mehr und mehr geschwächt“ (191). Die Zeit läuft ihm davon.

Zweitens führt Konrad einen Kampf gegen die Wörter. Er zweifelt an den Möglichkeiten der Sprache, seine Gedanken und den Inhalt in seinem Kopf ausreichend gut wiederzugeben. Im Kopf ist seine Studie komplett, aber einmal auf dem Papier formuliert, wird nicht das, was Konrad im Kopf hatte, gut genug wiedergegeben, so seine Vorstellung.

„Die Wörter ruinieren, was man denkt, das Papier macht lächerlich, was man denkt“ (115), stellt Konrad fest. Diese Denkweise, die hohen Auswirkungen auf Konrads Schaffen haben dürfte, demonstriert sich fortwährend im Roman, einmal heißt es: „Jede Erklärung führe zu einem vollkommen falschen Ergebnis“ (65f).

Drittens hat Konrad ungeheure Ansprüche an seine Studie. Ihm geht es darum, eine absolute Studie zu verfassen. Durch ständiges Weiterexperimentieren versucht er die Studie zu vervollkommnen: „Obwohl er die Studie fertig im Kopf habe, denke er, experimentiere er immer weiter, um die Studie […] immer noch mehr zu komplettieren, zu vervollkommnen“

(92).Aber gerade durch dieses Weiterexperimentieren, nach unzähligen Zusammenfassungen und Experimenten „zerfällt“ (57) ihm alles auf dem „Konzentrationshöhepunkt“ (57). Der Versuch, die Studie zu vervollkommnen, leitet nur zu dessen Zerfall. Dasselbe Motiv ist auch in anderen Werken Bernhards zu finden, weshalb es sinnvoll ist, auch einige Beispiele aus diesen heranzuziehen. In Bernhards Am Ortler erzählt einer der beiden in der Erzählung figurierenden Brüder folgendes über seine Studie:

Immer setze ich mit dieser Schrift an, an einem bestimmten, mich fesselnden Punkt, sagte er, setze an und entwickelte sie und entwickelte sie bis zu dem Grade ihrer

(13)

Vollkommenheit, welcher gleichzeitig der Grad ihrer Auflösung, ihres Zerfalls gewesen ist, sagte er.26

Hier treten Vollkommenheit und Zerfall gleichzeitig auf. Dieses Zusammentreffen lässt sich mit Hilfe von Jaspers deuten, welcher im folgenden Zitat auf die Notwendigkeit dieses Geschehens hinweist:

Wäre die Wahrheit des Seins die Dauer ohne Ende in der Zeit, so wäre wiederum nur toter Bestand […] das Sein ist, muss im Zeitdasein vielmehr die Gestalt einer Bewegung zum Scheitern annehmen. Wenn Sein als Erscheinung im Dasein eine Höhe erreicht, so ist diese als solche sogleich nur ein Punkt, der umschlägt zum Verschwinden, um die Wahrheit der Höhe zu retten, die im Bestehenbleiben verloren würde. Jede Vollendung vergeht unaufhaltsam.27

Die „Bewegung zum Scheitern“ ist daher notwendig. Nur so kann es einen lebendigen Prozess geben, was auch im weiteren Sinne erklärt, warum das Scheitern notwendig ist.

Nicht nur die Studien sondern auch die Studienschreiber vergehen. Auch hier folgt, dass das Vollkommenheitsstreben zum Zerfall führt. In Das Kalkwerk wird Konrads Untergang einmal so erklärt: „Es zeige sich oft, daß der am weitesten vorwärts gekommene plötzlich aufhöre“ (168). Nach der Auffassung Bartmanns müssen die Geistesmenschen Bernhards vor dem absoluten Anspruch an ihren Werken vergehen. Mit Pech oder Inkompetenz hat es nichts zu tun. Das Scheitern folgt eher „einer Logik absoluter Geistigkeit“.28 Die Figuren haben die höchsten Ziele aufgestellt und es ist klar, dass diese nicht zu erreichen sind. Das Scheitern ist eine logische Konsequenz, wenn man das Höchste voraussetzt. Die Figuren sind sich dessen oft bewusst.29 Als Beispiel dafür kann Rudolf in Bernhards Erzählung Beton dienen, welcher vergebens seine Studie über den Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy zu verfassen versucht. Als seine krankhafte, tödliche Sucht zur Perfektion zum Vorschein kommt, räsoniert Rudolf wie folgt:

Daß wir immer das Höchste fordern, das Gründlichste, das Grundlegendste, das Außergewöhnlichste, wo es ja doch immer nur das Niedrigste und das Oberflächlichste festzustellen gibt, macht tatsächlich krank. Es bringt den Menschen nicht weiter, es bringt ihn um. […] Und wir stellen naturgemäß an uns selbst die höchsten und die allerhöchsten Ansprüche und lassen dabei zur Gänze die Menschennatur außer acht, die ja für diese höchsten und allerhöchsten Ansprüche nicht geschaffen ist.30

26 Bernhard zitiert nach Fellinger 2011, S. 104.

27 Jaspers 1953, S. 227.

28 Bartmann 1991, S. 25.

29 Bartmann 1991, S. 25.

30 Bernhard 1982, S. 116f.

(14)

Die absoluten Ansprüche sind mit der menschlichen Natur unvereinbar. Anderseits fragt sich Rudolf, wohin wir kämen, wenn wir zu niedrige Ansprüche hätten.31

Es gibt aber auch Figuren, die sich das Scheitern eingestehen und damit einen Gegenpol zum Vollkommenheitsstreben bilden. Im Roman Alte Meister teilt der 82-jährige Reger, eine der Figuren Bernhards, die das Leben am längsten ausgeharrt hat, im Kunsthistorischen Museum Wiens den Grund dafür mit, warum er weiterexistieren kann:

Ich gehe davon aus, daß es das Vollkommene, das Ganze, gar nicht gibt und jedesmal, wenn ich aus einem solchen hier an der Wand hängenden sogenannten vollkommenen Kunstwerk ein Fragment gemacht habe, indem ich so lange an und in diesem Kunstwerk nach einem gravierenden Fehler, nach dem entscheidenden Punkt des Scheiterns des Künstlers, der das Kunstwerk gemacht hat, gesucht habe, bis ich ihn gefunden habe, komme ich einen Schritt weiter. […] Erst wenn wir immer wieder darauf gekommen sind, daß es das Ganze und das Vollkommene nicht gibt, haben wir die Möglichkeit des Weiterlebens.32

Zwar hat Reger einst alles „total tun wollen“,33 aber nun hat er eingesehen, dass es das Vollkommene nicht gibt und gerade deswegen kann er weiterexistieren. Ähnlich räsoniert der Studienschreiber in Bernhards Roman Ja: „Es gibt ja nur Gescheitertes. Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir vorwärts“.34 Das Eingeständnis des Scheiterns dieser beiden Figuren ermöglicht ihnen eine Weiterexistenz. Konrad in Das Kalkwerk hingegen, der „absolute Geistesmensch“35, will das Vollkommene und geht unter.

Viertens ist schließlich zu bemerken, dass selbst wenn Konrad seine Studie hätte aufschreiben können, würde ihm auch die Notwendigkeit, den Schluss zu schreiben, Schwierigkeiten bereiten. Wie Konrad sagt: „[M]it dieser Schrift sei ein Endpunkt zu setzen, ein Endpunkt, der natürlich in dem Augenblick, in welchem er gesetzt ist, kein Endpunkt mehr sein kann und so fort“ (61). Mit dieser Studie will Konrad einen Endpunkt setzen.

Damit will er das Thema Gehör so vollständig bearbeiten, dass es dem nichts mehr hinzuzufügen gibt. Wie Konrad auch erkennt, ist ein Endpunkt aber immer auch ein Ausgangspunkt weiterer Bearbeitung. Wenn eine fertige Schrift vor ihm läge, würde er in seinen Gedanken immer das Thema weiter bearbeiten können, so dass Schrift und Gedanken nicht länger übereinstimmen. Überdies kann Konrad keinen Endpunkt setzen, da er allein die Geschichte des Gehörs nicht überblicken kann.

31 Bernhard 1982, S. 117.

32 Bernhard 1985, S. 42.

33 Bernhard 1985, S. 70.

34 Bernhard 1988, S. 44.

35 Bartmann 1991, S. 25.

(15)

Um die Studie aufzuschreiben müsste Konrad das fixierte, schon fertiggestellte Bild von der Studie aufgeben. „[W]ahrscheinlich muss die Studie in meinem Kopf wieder gänzlich zerfallen, damit ich sie zur Gänze niederschreiben kann“ (118), denkt Konrad. Das fertige unerreichbare Bild, das er von der Studie hat, hindert ihn schließlich daran, diese aufzuschreiben.

Seinen Aussagen nach kannte auch Bernhard die Schwierigkeiten mit dem Scheiben.

„Die Schwierigkeit ist anzufangen“36 sagt Bernhard im Filminterview Drei Tage, welches, wie Das Kalkwerk auch, 1970 erschien. Auch breitet es Bernhard Schwierigkeiten den Schluss zu schreiben. In einer Rede, ebenfalls von 1970, sagt Bernhard folgendes zum Thema: „Das Problem ist immer, mit der Arbeit fertig zu werden, in dem Gedanken, nie und mit nichts fertig zu werden... es ist die Frage: weiter, rücksichtslos weiter, oder aufhören, Schluß machen... es ist die Frage des Zweifels, des Mißtrauens und der Ungeduld“.37 So ist zu vermuten, dass Bernhard, während er den Roman verfasste, ähnliche Erfahrungen wie Konrad machte. Zudem ist die Sprachskepsis, für welche durch Konrads Aussagen ein Beispiel gegeben wurde, ein ausgebreitetes Phänomen in der weiteren Literatur Bernhards. Der Schriftsteller und Literaturkritiker Anders Olsson bemerkt in den Werken Bernhards ein grundlegendes Misstrauen gegen die Möglichkeit der Sprache das Denken und die Erfahrung auszudrücken.38 Unter Hinweis auf den Literaturkritiker Aldo Gargani schreibt er, dass bei Bernhard eine Fortsetzung der österreichischen Version der Sprachskepsis zu sehen ist, eine Sprachskepsis, die zum großen Teil mit dem Durchbruch des Modernismus zusammenfällt und ihren Beginn mit den Autoren Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil und dem Philosophen Ludwig Wittgenstein hatte.39 Die Sprachskepsis Bernhards, meint Olsson, ist weniger eine theoretische Stellungnahme, sondern vielmehr das Resultat der erlebten Katastrophe, im Krieg aufzuwachsen, wodurch jeder Wahrheitsanspruch eine Lüge wird.40

Zwar sind die Schwierigkeiten mit Anfang und Ende und die Sprachskepsis für Figur und Autor ähnlich, jedoch distanziert sich Bernhard, zumindest einigen seiner Aussagen nach, bewusst von dem Vollkommenen: „Es darf nichts ganzes geben, man muss es zerhauen, etwas gelungenes Schönes wird immer mehr verdächtig“,41 sagt Bernhard in Drei Tage. Diese

36 Drei Tage [Video] inszeniert von Felix Radax 1970.

37 Bayer, Huber, Fellinger 2011, S. 82.

38 Olsson, Birnbaum 1991, S. 177.

39 Olsson, Birnbaum 1991, S. 176.

40 Olsson, Birnbaum 1991, S. 177.

41 Radax 1970.

(16)

Aussage rückt das Scheitern thematisch in dem Vordergrund.

5. Innere und äußere Gründe des Scheiterns

Neben den auf das Schreiben bezogenen Problemen Konrads gibt es weitere Gründe, die das Scheitern Konrads bestimmen. In der folgenden Untersuchung werden diese in Innere und Äußere aufgeteilt, um einen besseren Überblick zu schaffen, da es viele und vielschichtige Faktoren gibt. Die inneren Gründe beziehen sich auf Konrads Innenleben. Die äußeren fokussieren auf Konrads Umgebung. Diese Aufteilung ist nicht einheitlich und kann dies nicht sein, weil innere und äußere Gründe einander bedingen.

5.1 Innere Gründe des Scheiterns

Konrad befindet sich meistens in einem unruhigen, nervösen Zustand, in dem es schwierig ist, sich vorzustellen, dass er tatsächlich etwas aufschreiben kann. Er macht sich „andauernd nur vor, daß Zeiten der Ruhe Zeiten der Unruhe ablösten, während in Wirklichkeit niemals Ruhe in [ihn] einkehre“ (77). Seine von Nervosität und Sensibilität geprägten Symptome ähneln interessanterweise denen, die laut der Professorin für Ideengeschichte Karin Johannisson, insbesondere bei intellektuellen und hochleistenden Männern auftreten, wie eine Analyse der auffallenden Häufung dieser Symptome in den Patientenkarteien um 1900 zeigt.42 Typische Symptome sind Schreibkrampf, Irritation, Lähmungsgefühl, Gefühlsschwankungen und Mangel an Konzentration,43 welche auch bei Konrad festzustellen sind. Diese Symptome zeigen die destruktiven Folgen von hohen Ansprüchen.

Aus der Untersuchung Johannissons geht hervor, dass viele Patienten über ihre Hypersensibilität berichteten, etwas, worunter auch Konrad leidet und was jede seiner Wahrnehmungen verstärkt, besonders im Kalkwerk: „Die Empfindsamkeit sei in dem Zustand der totalen Überraschungslosigkeit die vollkommenste, naturgemäß tödlich“ (24). Durch sein sensibles Hören und Sehen, seine erhöhte Wahrnehmung und Aufmerksamkeit wird Konrad von der „immer noch mehr aufgeregten, nervösen sogenannten Konsumgesellschaft“ (58) geplagt; im Kalkwerk jedoch, wird er hauptsächlich von seiner eingeschlossenen Gedankenwelt bedrückt, welche die Umwelt verzerrt darstellt und Einbildungen, Paranoia und Hypochondrie hervorruft:

Eine Woche bevor er seine Frau erschossen hat, habe er sich aber plötzlich

42 Johannisson 2009, S. 204.

43 Johannisson 2009, S. 204.

(17)

tatsächlich eingebildet, sich durch zu rasches Austrinken eines Wasserglases verkühlt zu haben. Wieser sagt: er, Konrad, habe auf einmal nicht mehr sprechen können, er versuchte zu sprechen, konnte aber nicht. Zur Beruhigung sei er […]

wieder auf sein Zimmer gegangen, habe sich hingelegt, sei wieder aufgestanden, fortwährend in der Angst, durch diesen augenblicklichen Stimmverlust möglicherweise nicht in der urbantschitschen Methode fortfahren zu können, daß durch den Stimmverlust das Experimentieren auf einmal ein Ende haben könnte.

Und dadurch verliere er vielleicht gar nach und nach die Beziehung nicht nur zur urbantschitschen Methode, sondern schließlich auch zur Studie. (206)

Derartige Ereignisse lenken Konrad von der Studie ab.

Johannisson beschreibt die Auffassung von Sensibilität im Verlauf der letzten Jahrhunderte. Während des 18. Jahrhunderts gilt Sensibilität als eine legitime männliche Eigenschaft.44 Bei den Intellektuellen Europas um 1900 bemerkt Johannisson eine markante Anzahl von verkörperlichter Sensibilität.45 Sie gibt als Beispiel Charles Darwin an, der nach einer Vorlesung von 10 Minuten völlig erschöpft sein konnte46 oder Marcel Proust, der viel von seiner Zeit bettlägerig in einem schalldichten Zimmer verbrachte.47 Die Sensibilität wird in dieser Zeit sowohl mit Kreativität48 als auch mit hohem kulturellen Status verknüpft.49 In den Beschreibungen Johannissons erscheint die Sensibilität mitunter als modisch, etwas, dass den Intellektuellen Respekt einbrachte oder zumindest ihr Wegbleiben von der Öffentlichkeit rechtfertigen konnte.50 Im Laufe des 20. Jahrhunderts jedoch kann die Sensibilität ihren Status als Anzeichen von Auserlesenheit nicht länger aufrecht erhalten.51 Weichheit passt nicht zum modernen Männerbild52 und Angst und Selbstkritik wird als Hindernis wahrgenommen, da der Erfolg eines Mannes in seinem Beruf gesehen wird.53

Ein Zusammenhang zwischen Kreativität und Sensibilität, nicht nur als Modeerscheinung, ist wahrscheinlich, da auch wissenschaftliche Studien ergeben haben, dass eine Persönlichkeitseigenschaft, wie erhöhte Sensitivität charakteristisch für kreative Menschen ist.54

44 Johannisson 2009, S. 115.

45 Johannisson 2009, S. 118.

46 Johannisson 2009, S. 117.

47 Johannisson 2009, S. 118.

48 Johannisson 2009, S. 115.

49 Johannisson 2009, S. 120.

50 Johannisson 2009, S. 117.

51 Johannisson 2009, S. 212.

52 Johannisson 2009, S. 212.

53 Johannisson 2009, S. 213.

54 www.ne.se/lang/kreativitet, 05.04.2014.

(18)

Dieser historische Einblick lässt einen Zusammenhang zwischen Sensibilität und einem produktiven Tätigsein erahnen. Zum einen gilt Sensibilität als Statussymbol, zum anderen ist sie als mentale Voraussetzung für kreative Arbeit notwendig. Die Sensibilität Konrads bringt ihm keinen hohen Status mehr ein, was mit kulturellen Veränderungen zusammenhängt. Seine kreative Veranlagung kann er nicht konstruktiv umsetzen, stattdessen münden sie in Wahnvorstellungen. Die Folge ist, dass Konrads Sensibilität zum Scheitern beiträgt.

5.2 Äußere Gründe des Scheiterns

5.2.1 Das Kalkwerk

Die von Konrad erwarteten Vorteile des Kalkwerks für seine Studie werden nach dem Einzug auch zu Nachteilen. Die äußere Ruhe des Kalkwerks führt nur zu innerer Unruhe. „[D]ie durch die äußere Ruhe hervorgerufene innere Unruhe lasse ihn auch in der größten Erschöpfung nicht einschlafen und er gehe durch das ganze Kalkwerk, mehrere Male durch das ganze Kalkwerk“ (74). Die einst gepriesene Größe des Kalkwerks führt zu Desorientierung. Im labyrinthischen Kalkwerk findet Konrad, ähnlich wie mit der Studie, kein Ende, er „versuche zum Ende des Kalkwerks zu kommen, komme aber zu keinem Ende, denn das Kalkwerk könne man durchgehen und durchlaufen und durchkriechen […] und es nehme kein Ende“ (77). Die isolierte Lage des Kalkwerks, die für den sensiblen Menschen notwendig ist, birgt auch Nachteile. Im Kalkwerk, wo nichts in „Rufweite“ (36) ist, ist Konrad den befürchteten „gewalttätigen Elementen“ (36) besonders ausgeliefert. Außerdem weiß Konrad, dass die Einsamkeit im Kalkwerk nicht auszuhalten ist, denn „gänzlich ohne einen Menschen könne kein Mensch sein“ (81). Die Isolation von Konrad und seiner Frau, erkennt Konrad, „müsse zuerst zur Verzweiflung, dann zur Geistes- und Gefühlsöde, dann zu Krankheit und Tod führen“ (176).

Erkennbar ist, dass das Kalkwerk, wie Sorg schreibt, „sowohl Bedingung der Möglichkeit der Niederschrift als auch Garant der Unmöglichkeit der Niederschrift“55 ist. Nur im Kalkwerk finden sich die richtigen Voraussetzungen, welche aber auch zum Scheitern führen. Konrads verzweifelte Situation zieht sich in die Länge, weil das Kalkwerk von Mal zu Mal die Hoffnung auf ein Gelingen auslöscht und wieder erweckt. Konrad bekennt: „Noch vor zwei Jahren bin ich der Ansicht gewesen: das Kalkwerk ist meiner Studie nützlich, heute

55 Sorg 1977, S. 142.

(19)

bin ich nicht mehr dieser Ansicht, heute weiß ich, das Kalkwerk hat mir restlos die Möglichkeit genommen, die Studie niederzuschreiben“ (165). Diese Feststellung nimmt Konrad aber, in einer für ihn typischen Weise, gleich zurück: „Freilich muß ich zugeben, daß ich, kaum sage ich, das Kalkwerk läßt mich die Studie keinesfalls niederschreiben, ja wieder die Hoffnung habe, daß mir die Niederschrift der Studie im Kalkwerk glückt“ (166). So wechseln sich diese beiden Stimmungen Konrads ab. Als die Zwangsversteigerung des Kalkwerks eingeleitet wird, erkennt Konrad „die ganze Ausweglosigkeit unserer Situation“

(183). Konrad gibt jedoch nie auf und schätzt, dass „wahrscheinlich gerade die auswegloseste Situation die beste für die Niederschrift der Studie [ist]“ (183). Bis zur Tat glaubt Konrad daran, die Studie irgendwann im Kalkwerk aufschreiben zu können.

Schließlich ist zu bemerken, dass Konrad nicht viele Alternativen zum Aufenthalt im Kalkwerk sieht. Er weiß, dass der Welt nicht zu entkommen ist, so wie er es versucht hat, indem er in ein entlegenes Gebäude eingezogen ist, aber wie er meint, so „[wäre] auch jede andere Lösung seines (und ihres) Problems ein Irrtum gewesen“ (174). Sie wären ebenfalls in der Pariser Wohnung, wo sie früher wohnten, erstickt und wie Konrad denkt, solle man „sich nichts vormachen, das Ersticken im Zentrum der Menschenmassen […] ist fraglos das Furchtbarste“ (174). Aus den hier erwähnten Gründen wirkt der Aufenthalt im Kalkwerk sowohl ausweg- als auch alternativlos. Trotz alledem verliert Konrad nicht die Hoffnung.

5.2.2 Die Gesellschaft als Gegensatz

Auffallend ist das gestörte Verhältnis zwischen Konrad und seiner Studie einerseits und der Gesellschaft andererseits. In diesem Abschnitt wird darauf eingegangen, wie die Gesellschaft zum einen zum Scheitern Konrads beiträgt, zum anderen für Konrads Denken jedoch von Bedeutung ist.

Außer seiner Frau, die laut Konrad mit ihrer Vorliebe für die Kunst und ihrem Unverständnis für die Wissenschaft gegen seine Studie ist, sieht Konrad die Gesellschaft und die „Masse“ (53) allgemein gegen seine Studie gerichtet. Konrad lebt, wie er meint, in einer Zeit der „aussterbenden Gehirne“ und des „ausgestorbene[n] Gehör[s]“ (65) und „[d]ie Menschheit führe […] einen […] Feldzug gegen Gehör und Gehirn, alles andere sei nichts als Lüge“ (65). Die Menschen in dieser Zeit sind alle „Funktionäre“ (22), denn “es gibt keine Menschen mehr“ (22), und sie wollen, meint Konrad, weder mit Gehör noch mit Gehirn zu tun haben. Demzufolge sind auch Menschen mit Konrads Eigenschaften unerwünscht:

(20)

Die Hellhörigkeit wie die Hellsicht stemple man immer gleich als Verrücktheit ab.

Man brauche jetzt keine Hellhörer, wie man auch keine Hellseher brauche, hört einer hell oder sieht einer hell, räumt man ihn einfach weg, man sperrt ihn ein, isoliert ihn, vernichtet ihn durch Einsperrung und Isolierung. (64)

Eine Aussage, welche auch Konrads Schicksal zeichnet.

Unter den genannten Bedingungen ist, wie Sorg es macht, die Frage zu stellen, wie es für Konrad in dieser Gesellschaft überhaupt möglich sein sollte, seine Studie zu schreiben.

Sorg schreibt:

[Es] sei gefragt, ob die Existenz Konrads und der vergebliche Ansatz zur Niederschrift nicht allgemeinere Bedeutung beanspruchen können als Beispiel für die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, künstlerischer – überhaupt wahrhafter, ernsthafter – Arbeit im Zeitalter völligen Nützlichkeitsdenkens, dem jede nicht sogleich in monetären Gegenwert umsetzbare Leistung wenig gilt und dem der Künstler als Künstler grundsätzlich verdächtig ist.56

Dies heißt, dass Das Kalkwerk die Schwierigkeiten zeigt, sich mit etwas nicht Verkaufbarem zu beschäftigen, etwas mit dem kein Gewinn abzusehen ist. Eine Studie über das Gehör erfüllt keinen direkten wirtschaftlichen Nutzen in der Gesellschaft und dürfte bei den „Funktionären“

auf Unverständnis stoßen. Als Konsequenz ist es wahrscheinlicher, in einer gewinnorientierten Umwelt mit so einer Studie zu scheitern. Dennoch widmet sich Konrad seiner Wissenschaft, allerdings unter dem Vorbehalt kein Verständnis und keine Unterstützung von anderen zu erhalten.

Die Gesellschaft ist in einer Weise jedoch förderlich für Konrad, indem sie einen Widerstand bei ihm auslöst, der ihm hilft, sein eigenes Denken zu entwickeln. Sorg meint, dass „Konrad sich selbst in schärfstem Gegensatz zur Masse [sieht], deren Stumpfsinn ihn quält, gleichzeitig provoziert sie den Widerstand, den er zum radikalen Denken benötigt“.57 So hat Konrad „gegen alle Widerstände und zwar gegen die widrigsten Widerstände die Studie im Hintergrund seines Kopfes erzeugen können“ (194).In diesem Zusammenhang wird der Widerstand zum Antrieb etwas zustande zu bringen. Die Bequemlichkeit und Gedankenlosigkeit der Gesellschaft, wie Konrad es beschreibt, treibt ihn dazu, dessen radikaler Gegensatz zu werden. Im Gegensatz zur Arbeit an der Studie, welche die höchste Anstrengung erfordert, und nicht etwa „längere Frühstückerei“ (101) erlaubt, meint Konrad, dass „[d]ie Gesellschaft nur für das dumpfe Dahindämmern [sei], für sonst nichts“ (64).

Konrad wehrt sich gegen diese Bequemlichkeit und entwickelt sein eigenes Denken – allerdings führt seine überspannte Haltung gleichwohl zum Scheitern.

56 Sorg 1977, S. 151.

57 KLG 2006, 24.09.2013.

(21)

In diesem Abschnitt wurde das Scheitern Konrads mit der Gesellschaft zusammengeführt. In einer Gesellschaft, in der es für Konrads Wissenschaft kein Interesse gibt, scheint sein Scheitern folgerichtig. Gleichzeitig fungiert die Gesellschaft auch als ein Antrieb.

5.2.3 Sich zu Tode experimentieren

In diesem Abschnitt wird Konrads Scheitern mit den destruktiven Seiten seines Selbst verknüpft, welche sich durch sein Experimentieren ausdrückt.

Infolge des ständigen Experimentierens gelangt Konrad nie an sein eigentliches Vorhaben, die Niederschrift. Durch das Experimentieren erschöpft er sich, zeigt seine destruktivsten Seiten und experimentiert sich und seine Frau „zu Tode“. Er ist, wie er es nennt, der „Experimentator“, dessen Aufgabe im folgenden Zitat beschrieben wird:

Der Experimentator, denke er, habe nichts anderes zu tun als zu experimentieren, er frage sich schließlich nicht mehr, warum er experimentiere, er habe sich diese Frage nicht zu stellen, er experimentiere sich zu Tode. (92)

Der hier beschriebene Wissenschaftler weiß nicht warum oder zu welchem Zweck er experimentiert. Das Experimentieren ist lediglich zu einem Prozess geworden, dessen Ziel nicht infrage gestellt wird. Er experimentiert um des Experimentierens willen ohne an dessen Folgen oder eventuelle Opfer zu denken. Höller bemerkt ein „latente[s] Unbehagen an den erzählten Experimenten, Projekten und Studien in Bernhards Büchern“.58 Mit seinen destruktiv experimentierenden Figuren, meint Höller, richtet Bernhard seine Kritik „gegen eine in Destruktion ausartende wissenschaftliche Logik“.59 In Das Kalkwerk ist diese Kritik in den Experimenten Konrads, die er mit seiner Frau anstellt, zu finden und wird vor allem in der Sprache Konrads deutlich. Konrad nötigt seine „Versuchspersonen“ (25) zum Äußersten, durch intensivierte Übungen entwickelt sich sein Experimentieren zur „äußersten Perfektion“

(72). Obwohl zornig, wenn sich seine Frau nicht „an die Regeln“ (73) hält, kommt er jedoch zu immer noch „erstaunlicheren Ergebnissen“ (89). „Bernhard hat diesen Typus von Wissenschaft, die nach strengsten Formalien und instrumentellen Regeln ausgeübt wird und im 'Objekt' nicht mehr den leidenden Menschen in den Formen von Konrads Sprache vorgeführt“60, schreibt Höller. Auf die Folgen seines Experimentierens nimmt Konrad keine

58 Lughofer 2012, S. 27.

59 Lughofer 2012, S. 26.

60 Lughofer 2012, S. 27.

(22)

Rücksicht, das kann er nicht, da für ihn allein die Ergebnisse von Bedeutung sind. „Man müsse eine Ungeheuerlichkeit oder gar ein Verbrechen an der ganzen sogenannten Menschheit oder an einem einzelnen Menschen in Kauf nehmen, […] um ans Ziel zu kommen“, (68) bekennt Konrad.

Aufgrund seiner rücksichtslosen Methoden wird Konrad von seiner Frau als

„Unmensch“ (172) bezeichnet. In der Rolle des Unmenschen ist Konrad, wie er selbst bekennt, „schließlich vollkommen aufgegangen“ (172). Er erklärt sich seine Verwandlung zum „Unmenschen“ und also „Experimentator“ indem er auf die Gesellschaft verweist:

[D]em Beschauer biete sich eine gleichmäßig von Fortschritts- und also Maschinenwahnsinn durchzogene Atmosphäre an, in welcher er, gleich wo, ob auf dem Land oder in der Stadt, immer dieselben Voraussetzungen vorfinde. Wir alle machten in allem einen von ihm so genannten Gesellschaftsvermischungsprozeß durch, an dessen Ende der qualifizierte Mensch als Unmensch und das heißt als Maschine herauskomme. (173)

In diesem „Gesellschaftsvermischungsprozess“, der im Roman nicht weiter erläutert wird, erklärt Konrad, dass er also als Unmensch und Maschine herausgekommen ist, da die Atmosphäre von „Fortschritt-und Maschinenwahnsinn“ durchzogen ist. Infolgedessen hat er sich in eine Maschine, einen destruktiven Unmenschen verwandelt. Diese Umstände tragen zum Scheitern Konrads bei.

Zusammenfassend lässt sich schlussfolgern, dass Konrad, obwohl altmodisch in seiner Art, weitestgehend durch sein Experimentieren die Erscheinungen seiner Zeit verkörpert.

Einerseits entspricht er den Idealen einer vergangenen Zeit, andererseits ist sein Handeln und die Art, wie er die Arbeit an der Studie vorantreibt, weitgehend durch die wissenschaftlichen Methoden seiner Zeit und die Mechanisierung der Gesellschaft bestimmt. Er übt eine destruktive und entmenschlichte Art von Wissenschaft aus, die schlimme Folgen für ihn und seine Frau hat und ihn als Mensch scheitern lässt. Sein Verhalten rechtfertigt er damit, dass er infolge der Mechanisierung in der Gesellschaft eine Maschine geworden ist. Der wohl vorbildliche Geistesmensch vergangener Zeiten ist mit Konrad verkommen.

6. Kindheit als Ursache

Dieser Abschnitt behandelt die Frage, ob Konrads Scheitern auf seine Kindheit zurückzuführen ist.

Laut Konrad sollte man sich nicht mit „Ersatzursachen“ (136) zufrieden geben. Er sieht selber den Grund für sein Scheitern in seiner Kindheit. Konrad meint, in der Erziehung

(23)

„sei die Ursache dafür zu suchen […] daß er die Studie […] nicht aufschreiben könne“ (48).

Seine „durch ununterbrochene Ängstlichkeit“ (47) kennzeichnete Kindheit und Jugend verbrachte er immer allein. „Wie oft habe er in der Kindheit im Bett liegen müssen, fiebernd, in Schmerzen, während seine Geschwister unter seinem Fenster im Park lachten, sich vergnügten“ (46). Er war der kränkliche und viel ältere Bruder, welcher der „instinktive[n]

Ablehnung seiner Person“ (47) durch seine Familie ausgesetzt war. Zumindest bis zur Heirat mit seiner Halbschwester waren „[a]lle seine Körper- und Geisteskräfte […] auf nichts anderes konzentriert gewesen, als aus dieser ungerechtfertigten Isolation herauszukommen“

(47).

Dazu kommt der Umstand, dass das Streben von Konrads Eltern ganz auf Besitz ausgerichtet war. „[S]ie hatten ihn dazu […] gezwungen, seine ganze Aufmerksamkeit ausschließlich auf Grundstücke und auf Häuser, auf Sägewerke, Kellereien, Kalkwerke […]

zu wenden“ (193), folglich konnte Konrad nie seine wahren Interessen mittels eines Studiums entwickeln. Durch den Widerstand seiner Eltern gegen ein Studium war er

„innerlich rasch verwahrlost“ (50) und ist in „Verkommenheit und Gleichgültigkeit“ (50) aufgegangen. Um sich vor den Eltern zu behaupten, flüchtete er in die Wissenschaft; aber erst als die Eltern gestorben waren, konnte Konrad sich seiner Wissenschaft ganz widmen;

allerdings war es jetzt zu spät für ein Studium.

Werden diese Umstände aus Konrads Kindheit mit seiner späteren Situation verglichen, ist erstens die Fortdauer seiner Isolation zu sehen. Zweitens ist das fehlende Durchsetzungsvermögen von damals auch heute präsent. Drittens ist Konrads jahrzehntelanges etwas irrationales Streben, um in den Besitz des Kalkwerks zu kommen, möglicherweise eine direkte Übertragung seiner Eltern, deren Besitzwahn er verachtete, aber selber übernommen hat.

Die Symptome der Figuren Bernhards, die auf frühe Kindheitserinnerungen verweisen, sind mit den Ergebnissen der Psychoanalyse Sigmund Freuds verknüpfbar.61 Freud zeigte daran, wie sensibel das Kind ist, und wie Geschehnisse in der Kindheit zu neurotischen Symptomen im Erwachsenenalter führen können.62

Zusammenfassend kann auf ein Zitat von Bernhard zurückgegriffen werden. In Drei Tage sagt Bernhard über die Verbindung zur Kindheit: „Man kann da auf alles Rückschlüsse ziehen“.63 So hängt auch Konrads Scheitern mit seiner Vergangenheit zusammen.

61 Lughofer 2012, S. 32.

62 Fromm 1979, S. 68.

63 Radax 1970.

(24)

7. Das fruchtbare Scheitern

Abschließend widmen sich die letzten Abschnitte der Frage, ob das Scheitern auch fruchtbar sein kann, also ob das Scheitern im menschlichen Dasein zu Fortschritt und Einsicht über die eigene Situation führen kann.

Die Untersuchung wird in die Abschnitte Fortschritt und Einsicht unterteilt. Anschließend wird Konrads Scheitern mit den Erkenntnissen aus diesen beiden Abschnitten ergänzt, um zu sehen, ob auch Konrads Scheitern die dort beschriebenen Merkmale hat.

7.1 Das Scheitern als Fortschritt gesehen

Am Beispiel eines Studienschreibers in Bernhards Roman Verstörung beschreibt Bartmann, dass das Scheitern den Fortschritt nicht ausschließt.64 Durch ihre ständigen Umschreibungen, ihr ständiges Scheitern, nähern sich die Figuren Bernhards ihrem Ziel, laut Bartmann „dem 'absolut selbstkritischen Zustand', der dem Ziel absoluter Geistigkeit am nächsten ist, obwohl oder weil er ein Werk nicht ermöglicht“.65 Die Figuren verwerfen ihre Ideen, verwerfen ihr Geschriebenes, aber gleichzeitig üben sie ihre Selbstkritik und können nach verworfenen und gescheiterten Ansätzen diesen selbstkritischen Zustand erreichen.

In diesem Geisteszustand wird alles in Frage gestellt, auch die eigenen Gedanken und auch das, was als sicher gilt. Einmal in einem Zustand angekommen, in dem alles angezweifelt wird, wenn man sich nicht im Zweifeln vollkommen und endgültig verliert, hat man die Möglichkeit, unvoreingenommen zu denken. Dadurch können bedeutungsvolle Fortschritte gemacht werden. Wie Bartmann bemerkt, machen die Figuren Bernhards diese Fortschritte nicht in ihren Studien sondern in ihrer kritischen alles in Frage stellenden Haltung. Obwohl es Bernhards Figuren nicht gelingt eine Studie hervorzubringen, ist generell zu hinterfragen, ob überhaupt etwas von Bedeutung geschaffen werden kann, wenn das Ergebnis nicht durch einen Kreislauf von Zweifeln, Scheitern und Lernen ständig überarbeitet wird. Schmid schreibt: „Vielleicht kann nur der, der zweifeln und verzweifeln kann, große und großartige Dinge schaffen“66 und gibt Beispiele:

Was wäre gewesen, wenn Entdecker wie Galilei und Einstein nicht immer wieder tief ins Grübeln verfallen wären, Forscherinnen wie Madame Curie nicht ihr Leben aufs Spiel gesetzt hätten? Wäre das Werk Heinrich von Kleists entstanden, wenn ihm auf Erden zu helfen gewesen wäre? Hätte Vincent van Gogh den Pinsel so

64 Bartmann 1991, S. 26.

65 Bartmann 1991, S. 26.

66 Schmid 2012, S. 39.

(25)

heftig über die Leinwände geschwungen, wenn er sich und seine Kunst entspannt betrachtet hätte?67

Schmid weist hier auf den Zusammenhang zwischen der Entstehung eines Werkes und der Schwierigkeit seiner Durchführung hin. Fortschritt braucht demzufolge auch Scheitern.

7.2 Das Scheitern als Einsicht gesehen

An die Gedanken des vorangegangenen Abschnitts können auch die Gedanken der Existenzphilosophie geknüpft werden. Die Vertreter der Existenzphilosophie und des Existentialismus teilen die Ansicht, dass der Mensch durch ein Stadium von Angst zur Einsicht kommt.68 Aufgrund von schlechten Erfahrungen kann der Mensch sich entwickeln und bewusster weiterleben. Für diesen Aufsatz eignen sich Jaspers Überlegungen zum Scheitern, nach welchen der Mensch seine Einsicht abhängig davon erreicht, wie er sich angesichts seines Scheiterns verhält und wie er dies erfährt. Jaspers geht von, wie er es nennt,

„Grenzsituationen“69 im menschlichen Leben aus. Diese sind: Tod, Leiden, Schicksal, Schuld und Kampf.70 Ihrer Unvermeidbarkeit wegen, zum Beispiel sterben zu müssen, ist es für Jaspers von Bedeutung, wie mit der Kenntnis von diesen Grenzsituationen umgegangen wird.

Wenn der Mensch sich sein Scheitern eingesteht und mit der darauf folgenden Verzweiflung, einem Zustand der Angst, in welchem alles in Frage gestellt wird, auf richtige Weise umgehen kann, kann er Einsicht erreichen.71 Denn, wie Jaspers meint, ist im Scheitern der Weg zu einer authentischen Existenz zu finden:72

Es ist entscheidend für den Menschen, wie er das Scheitern erfährt: ob es ihm verborgen bleibt und ihn nur faktisch am Ende überwältigt, oder ob er es unverschleiert zu sehen vermag und als ständige Grenze seines Daseins gegenwärtig hat; ob er phantastische Lösungen und Beruhigungen ergreift, oder ob er redlich hinnimmt im Schweigen vor dem Undeutbaren. Wie er sein Scheitern erfährt, das begründet, wozu der Mensch wird.73

Wie der Mensch mit dem Scheitern umgeht, ist also von entscheidender Bedeutung für seine Entwicklung.

Für Jaspers folgt „aus dem Bewusstsein des Scheiterns […] nicht notwendig die

67 Schmid 2012, S. 39.

68 Stenström 1966, S. 86.

69 Stenström 1996, S. 87.

70 Stenström 1966, S. 87.

71 Stenström 1966, S. 87.

72 Jaspers 1953, S. 23.

73 Jaspers 1953, S. 23.

(26)

Passivität des Nichtigen, sondern die Möglichkeit eigentlicher Aktivität: Was untergeht, muss gewesen sein.“74 Scheitern ist ein Bestandteil des Seins und wie Jaspers meint, Voraussetzung einer erfüllten Existenz.

7.3 Fruchtbarkeit von Konrads Scheitern

Die Gedanken der vorangegangen Abschnitte werden nun mit Konrads Scheitern verglichen.

Zuallererst ist es eine Tatsache, dass die Arbeit an der Studie ergebnislos bleibt:

Weder in Stein, in der Strafanstalt, noch in Niedernhardt, in der Irrenanstalt, werde er an die Niederschrift gehen können, die Studie Konrads sei, wie Konrad selbst, verloren […] ein, wie man annehmen müsse, […] ungeheures Lebenswerk, vernichtet. (210)

Jahrzehntelang hat Konrad vergebens mit seiner Studie gearbeitet. Durch Zweifeln und Verzweifeln, welche Schmid als wahrscheinliche Voraussetzung sieht, Bedeutendes zu schaffen, kommt Konrad mit der Studie jedoch nicht weiter – der Fortschritt mit der Studie bleibt aus. Dennoch ist, wenn Fortschritt nicht an die Studie geknüpft wird, bei Konrad eine Entwicklung in Richtung eines, wie Bartmann es nennt, „absolut selbstkritischen Zustandes“75 zu beobachten. Konrad stellt letztlich alles infrage. Allerdings ist seine Haltung so absolut, dass sie der Durchführung eines Arbeit im Wege steht. Vielleicht schließt dieser Zustand sogar das Schaffen eines Werkes aus.

Jaspers Gedanken über das Scheitern folgend, muss gesagt werden, das Konrad sein Scheitern einsieht und diese Tatsache nicht verschleiert. Wenn Konrad sagt: „[D]ie Zukunft gehöre niemand und nichts“ (138) hat er seine Einsicht des Scheiterns radikal weit gedacht.

Obwohl Konrad lebenslang die Illusion eines idealen Zeitpunktes für die Niederschrift der Studie gehabt hat, erkennt er schließlich, dass es „überhaupt keinen idealen, geschweige denn idealsten Augenblick“ (210) geben kann. Es mangelt Konrad nicht an Einsicht hinsichtlich des Scheiterns, aber es fehlt im Roman die zuversichtliche Seite dieser Einsicht. In Konrads Scheitern ist wenig von der konstruktiven Seite des Scheiterns erkennbar, die Jaspers beschreibt. Aus dem Bewusstsein seines Scheiterns ergibt sich für ihn, abgesehen vom destruktiven Experimentieren, keine Aktivität.

Konrads Scheitern tendiert vielmehr dazu, in pure Ausweglosigkeit zu münden.

Bernhard verleiht dem Scheitern Konrads keinen Sinn oder eine Hoffnung auf Besserung.

Dies zeigt sich vielleicht am deutlichsten, wie Sorg es bemerkt, in den „unlösbaren

74 Jaspers 1956, S. 225.

75 Bartmann 1991, S. 26.

(27)

Antinomien des gesamten Romans“.76 Konrads Scheitern scheint unvermeidlich. Nicht zuletzt da „offen [bleibt], ob nicht auch die geglückte Niederschrift seine Existenz beendet hätte, denn nur noch in der und für die Studie hat er gelebt, ihre Vollendung wäre beider Vernichtung gewesen“.77 Demzufolge wäre Konrads Scheitern die Folge unabhängig davon, ob ihm die Niederschrift der Studie gelänge oder nicht.

Das Scheitern Konrads zeigt sich meist nicht fruchtbar, vielmehr ähnelt sein Scheitern dem Unvermeidbarem. Dennoch ist wichtig zu betonen, dass Konrad die Hoffnung auf eine Niederschrift bis zum Schluss nicht aufgibt. Er drückt den Glauben aus, dass jeder Mensch einmal die Möglichkeit hat, seine Existenz zu gestalten: „Aber in jedem Menschen wie in jedem Gehirn oder Kopf sei […] einmal alles möglich“ (190). Man nütze es nur nicht aus.

Wenn auch unfruchtbar für Konrad, so kann sein Scheitern für den Leser wiederum unterhaltend und aufschlußreich sein. Willi Huntemann ist der Meinung, dass es gerade das Scheitern ist, das den Roman ausmacht: „Für Bernhard […] gilt jedoch, dass das 'Scheitern auf der Ebene der Protagonisten bzw. der Handlung nun aber paradoxerweise in eben dem Maße zum Triumph des Kunstwerks und der Kunstabsicht wird'.78 Selbst wenn es schwerfällt, einen Sinn in Konrads Scheitern zu erkennen, könnte man meinen, dass er in Anbetracht des Romans deutlicher wird.

8. Fazit

Das Motiv des Scheiterns ermöglicht interessante Einblicke in Das Kalkwerk und erhellt einige wesentliche Züge in der Literatur Thomas Bernhards.

Die Gründe für Konrads Scheitern sind in verschiedenen Bereichen identifizierbar. Als erstes ist das Scheitern im Akt des Schreibens zu nennen, welches die Schwierigkeiten offenbart, etwas verfassen zu wollen. Konrads Schreibkrampf ist auf seine hohen Ansprüche zurückzuführen und seine Vorstellung, eine absolute Studie aufschreiben zu können. Dafür müsste er jedoch eine absolute Wahrheit verfassen – etwas, von dem Konrad weiß, ausgedrückt durch seine Sprachskepsis, dass es dies nicht geben kann. Die Sprachskepsis drückt ja gerade Zweifel an Wahrheitsbegriff und Objektivität aus. Ein Konflikt ist unvermeidbar. Konrad beharrt jedoch darauf, eine absolute Studie aufzuschreiben, aber eine Niederschrift lässt sich nicht fixieren – lässt keine klaren Linien des Anfangens und des Aufhörens entstehen. Konrad strebt einem lebendigen Schaffensprozess entgegen. Das

76 Sorg 1977, S. 143.

77 KLG 2006, 24.09.2013.

78 Huntemann 1991, S. 56.

References

Related documents

Die Literaturverweise Wierzbicka 1991 und Brinker/Sager 1989 werden im Literaturverzeichnis als neuere Ausgaben unter Wierzbicka 2003 und Brinker/Sager 2006 aufgeführt.. 366

Almgren bildete eine der beiden bronzenen Fibeln aus dem hier diskutierten Grab als Leitförm 169 innerhalb seiner Gruppe 6, den Fibeln mit umgeschlagenem FuB, ab (Almgren 1923,

Genom att föreslå en egen bygg- nad i övrig stadsbebyggelse för dessa specifi ka brottsoffer så visar jag att problemet fi nns samtidigt som jag också meddelar kvinnorna att

Es gelingt Kästner eine Nähe zum Leser aufzubauen und auch, dass der Leser sich leicht mit der Erzählung identifizieren kann und somit zu einem Teil der Geschichte wird.. Dies

der und sein in ein zu haben ich werden sie von nicht mit es sich auch auf für an er so dass können dieser als ihr ja wie bei oder wir aber dann man da sein+ noch nach was also aus

In der Studie von Washburn (1997) kommt in der CLIL-Gruppe ein grö- ßerer Anteil von positiven CS vor (vgl. Insofern muss angenommen werden, dass die CLIL-Gruppe der

Diese bemerkenswerte Pädagogin, deren Ideen noch heute eine erstaunliche Gültigkeit und Aktualität haben und die ihrer Zeit um sicher hundert Jahre voraus war, die an

Man darf nun aber dabei nicht vergessen, dass zur Zeit der Übersetzung des Ro- mans nicht nur die schwedische Dialektologie erst in ihren Anfängen stand (siehe Dahlstedt 1972:6