• No results found

Eine lebenslange Beziehung : Peter Handke und seine Mutter

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2021

Share "Eine lebenslange Beziehung : Peter Handke und seine Mutter"

Copied!
22
0
0

Loading.... (view fulltext now)

Full text

(1)

Eine lebenslange Beziehung

Peter Handke und seine Mutter

von

Paolo Aracri

Examensarbeit Tyska 3 ht 2019 Betreuer: Prof. Dieter Krohn Mälardalens Högskola

(2)

Inhaltverzeichnis:

1) Vorwort 3

2) Abstract 4

3.1) Handke: umstritten und berühmt 5

3.2) Literarische Biografie 6

3.3) Handke und der Nobelpreis 7

4) Frauen in Kärnten. Der soziale und kulturelle Hintergrund 8

5) Von der Gestalt der Mutter zur dreifachen Figur 9

5.1) Das Mädchen 9

5.2) Die Ehefrau 11

5.3) Die Hausfrau 14

6) Post-mortem Beziehung, die Entmenschung der Mutter 16

7) Handke als Ich-Erzähler 18

8) Zusammenfassung und Ausblick 20

(3)

1) Vorwort

Der vorliegende Aufsatz versucht die Beziehung zwischen dem Nobelpreisträger Peter Handke und seiner Mutter zu beschreiben, die nach langem Leiden Selbstmord beging. Es handelt von einer familiären Beziehung, die ebenso widersprüchlich wie kompliziert war. Es geht um eine Familie, um eine Mutter-Sohn-Beziehung, die von Liebe und Zuneigung zeugte, und es handelt vielleicht noch mehr von Distanz und Kälte. In seiner Erzählung

Wunschloses Unglück greift Handke die Thematik auf und versucht sie literarisch zu

verarbeiten. In der Hauptsache geht es um die Biografie seiner Mutter - mit allen ihren historischen, sozialen und psychologischen Aspekten. Der Leser muss den Text sehr sorgfältig lesen, weil Handke viele Informationen der Mutter-Sohn-Beziehung eher versteckt und indirekt wiedergibt.

(4)

2) Abstract

Peter Handke gilt als einer der bekanntesten modernen österreichischen Schriftsteller. Obwohl sehr umstritten, bekam er 2019 den Literaturnobelpreis. Zeuge seiner Stilkunst ist die Erzählung Wunschloses Unglück. Schon im Titel spürt man einen grundlegenden Widerspruch in der Mutter-Sohn-Beziehung. Dazu sagt Mauser, dass Wunschloses

Unglück eine biographische Erzählung darstellt, wo der Verfasser, Peter Handke, seine

eigenen Erinnerungen ebenso realistisch wie individuell wiedergibt: zentraler Punkt ist, dass Handkes Mutter im Alter von 51 Jahren Selbstmord begeht. Der Autor Peter Handke trägt aus seiner Erinnerung zusammen, was er über seine Mutter ausfindig machen kann. Es entsteht das Bild einer Frau, die aus einer Welt sozialer Unterdrückung kommt und erste Schritte zur Selbstverwirklichung macht, im Ganzen aber erfolglos. Sie löst sich zunächst aus dem engen, ländlich-bäuerlichen Dasein, ohne freilich in ein anderes hineinwachsen zu können”1.

Kern des Buchs ist die Beziehung zwischen Handke und der Mutter Maria. Besonders interessant ist die Tatsache, dass sich die Figur der Mutter als dreifach gebrochen zeigt. Anders gesagt schildert der Verfasser die Entwicklung der Mutter in drei Phasen: das Mädchen, die Ehefrau und die Hausfrau. Das sind möglicherweise die Schlüsselfaktoren, die Maria Handke zum Selbstmord getrieben haben.

3.1) Handke: umstritten und berühmt

Peter Handke gilt als einer der umstrittensten Schriftsteller unserer Zeit. Schon in den70er Jahren hatte er den Ruf als Rebell bekommen und geriet so in Widerspruch zu den

Autoren der literarische Gruppe 47. Dazu die Meinung von Peter Henning: ‟Peter Handke, damals gerade 24 Jahre alt, hatte den etablierten Schriftsteller-Kollegen

«Beschreibungsimpotenz» vorgeworfen – und die während der Tagung ebenfalls

anwesenden Literaturkritiker als «ebenso läppisch» bezeichnet wie die Literatur, die zum Vortrag gekommen war”2. Ob dieser Protest tatsächlich spontan oder wohlkalkuliert sei, ist

immer noch ungewiss. Doch ist es eine Tatsache, dass seine Wortmeldung und die Aufbereitung in die Medien Handke allgemein bekannt machten3.

Typisch für Handkes Stil war, dass die Grenze zwischen die verschiedenen Medien unscharf wurde. Deshalb war Handke auch ein begeisterter Kinogänger und Musikfreund.

1 W. Mauser; 1982. 2 P. Henning; 2017.

(5)

Einige Jahre später sorgte Handke für einen weiteren Eklat, als er

Publikumsbe-schimpfung veröffentlichte. 1966 wurde dies Stück im Frankfurter Theater aufgeführt.

Klaus Kastberger erklärte Peter Handkes erstes Theaterstück als ‟eine angewandte Theorie eines neuen und anderen Theaters. Mit der Publikumsbeschimpfung sollte gleichsam die Institution des Theaters gesprengt und der Blick des Publikums auf Dinge gelenkt werden, die außerhalb oder jenseits der in Konventionen verbürgten

Bühnenwirklichkeit liegen”4. Schon damals hatte Handke sich laut Henning folgenden Ruf

geschaffen: ‟Aus dem pilzköpfigen Literatur-Beatle, der bei jedem seiner öffentlichen Auftritte eine dunkle Sonnenbrille trug, war ein ernstzunehmender, stimmgewaltiger Autor geworden, der für ein neues, popkulturell orientiertes Erzählen stand – und dabei einen wunderbar amerikanischen Ton anschlug”5.

Handke ist aber nicht nur durch Literatur und Theater bekannt. Denn später hat Handke im ausbrechenden Jugoslawischen Krieg Stellung bezogen und zwar auf philo-serbischer Seite. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass seine Mutter Maria slowenischer Herkunft war. Auf jeden Fall unternahm Handke 1995 eine Reise durch Serbien, um auf eigene Hand einen Kriegsbericht zu verfassen. So kommt er auch nach Srebrenica, die bosnische Stadt, in der 1995 ungefähr 8000 Bosniaken ermordet worden sind. Typisch für Handke: Er will diese Gräueltat nicht als Völkermord anerkennen und kritisiert die

Darstellung in den westlichen Medien. Hier gehen die Meinungen um Handke

auseinander: ‟Im Kern geht es dabei um die Frage, wie politisch fehlgeleitet Handkes Versuche, die Balkankriege zu verstehen, waren - und vielleicht noch bis in die Gegenwart hinein sind. Der Schriftsteller hatte sich im Jugoslawien-Konflikt stark mit Serbien

solidarisiert und nach Ansicht von Kritikern die von Serben begangenen Kriegsverbrechen bagatellisiert oder geleugnet. 2006 hielt er bei der Beerdigung des sechs Jahre zuvor gestürzten serbischen Führers Slobodan Milošević eine Rede”6. Genau diese

Solidarisierung ist für Handke problematisch geworden. Zusammen mit anderen

Prominenten unterzeichnete er eine Verteidigung von Milosevic, obwohl dieser schon als Kriegsverbrecher und verurteilt war.

Dazu Michael Mertens: ‟Der Schriftsteller Peter Handke ist von dem politisierenden Interviewpartner Peter Handke schon deshalb schwer zu trennen, weil er diese Trennung selbst nicht vornimmt. Er verwischt systematisch die Grenzen zwischen seiner Literatur und seiner Interviewprosa. Ohne Kenntnis dessen, was Handke sagt, sind zumindest als

4 K. Kastberger; 06/12/20. 5 P. Henning; 2017. 6 S. Peschel; 06/12/20.

(6)

literarische Großreportagen angelegte Werke wie die Winterliche Reise aus dem Jahr 1996, in der Handke ‟Gerechtigkeit für Serbien” fordert, kaum einzuordnen”7.

Allerdings hatte Handke wenig Interesse, seine Meinung zu ändern, um weitere Kritiken zu vermeiden. 1999, aus Protest gegen die Nato-Luftangriffe auf Jugoslawien, gab er das Geld für den 1973 verliehenen Georg-Büchner-Preis zurück. Einige Jahre später hielt er bei der Beerdigung Milosevic eine Grabrede auf Serbokroatisch, was seine Position noch weiter verschärfte.

Handke wird dazu mit folgenden Worten zitiert: ‟Mir kommt es so vor, als sei es [das Massaker von Srebrenica] ein Racheakt von serbischer Seite gewesen. Nicht, dass ich es verurteilen würde, aber ich kann es auch nicht uneingeschränkt gutheißen. Jetzt kommt man ständig mit den 8000 Opfern und dem angeblich schlimmsten Massaker seit dem Zweiten Weltkrieg; unversehens kommt hier mit Auschwitz der deutsche Faschismus rein. Das Gerede mit den 8000 Toten wurde immer intensiver. [...]. Das meiste – und das Schlimmste – halte ich für konstruiert. Clinton und Izetbegovic haben 1993 einiges ausgemauschelt”8. Diese subjektive Meinung hat er nie widerrufen und damit bietet bis

heutzutage einen Angriffspunkt. Laut Preljevic gibt Handke zu, dass in Srebrenica ein Völkermord begangen wurde: ‟Gleich einen Absatz weiter aber leugnet er ausdrücklich, dass dieses Verbrechen ein Völkermord war, sondern behauptet, dass nur auf das ‟von muslimischen Streitkräften Srebrenicas begangene(n) Massaker das Wort ‟Genozid” zutreffe. Er vollbringt also eine infame Inversion: Die Genozidopfer verwandelt er zu Genozidtätern”9.

In der letzten Zeit ist es um die Kontroverse etwas ruhiger geworden, die erst wieder aufflammte, als er 2019 den Nobelpreis für Literatur erhielt.

3.2) Literarische Biografie

Peter Handke fängt schon als Schüler mit dem Schreiben an. Im Internat in Tanzenberg entwickelt er eine anregende Beziehung zu dem Schulprofessor Reinhard Musar. Dieser erkennt Handkes Schreibtalent und bestärkt ihn darin. Auch in der folgenden Schule schreibt er wieder und als er einen Schüler-Literaturwettbewerb gewann, wurden zwei Texte veröffentlicht. Kurze Zeit danach wurden einige Texte von Handke im Grazer

7 M. Martens; 2019. 8 V. Preljevic‘; 2019. 9 V. Preljevic’; 2019.

(7)

Rundfunk gelesen und weckten allgemein Aufmerksamkeit. Er schreibt über populäre und zeitgenössische Themen: Musik, Fußball, Film usw.

1964 begann er seinen ersten Roman, Die Hornissen, der 1966 veröffentlicht wurde. Zu dieser Zeit hatte er sein Studium abgebrochen, um sich ganz und gar dem Schreiben zu widmen. Doch erwies sich Handke nicht nur als begabter Schriftsteller, sondern auch als scharfer Kritiker. Durch seinen Auftritt in der Gruppe 47, eine Gruppe deutschsprachiger Schriftsteller erweckt er Aufmerksamkeit, weil er scharfe Kritiken gegen die ‟Beschrei-bungsimpotenz” einiger seiner Kollegen richtet. Gleichzeitig gelang ihm der Durchbruch als Autor mit dem Sprechstück Publikumsbeschimpfung. Damit wurde Handkes Ruf als ‟Enfant Terrible” noch weiter bestärkt.

1966 zog er nach Düsseldorf. In der Nacht vom 19. und 20. November 1971 nahm sich Handkes Mutter, Maria Handke, nach jahrelanger Depression das Leben. Ein

traumatisches Erlebnis, das Handke in der Erzählung Wunschloses Unglück 1972

literarisch verarbeitete. In dieser halb-biographischen Erzählung beschreibt der Autor das Leben seiner Mutter Maria bis zu ihrem Freitod.

1982 entstand die Mordgeschichte Der Chinese des Schmerzes. Abschied des Träumers

vom neunten Land. Dort stellte er eigene Überlegungen zur Entstehung des Staates

Slowenien an. Handkes Familie kam aus Slowenien und die politischen Verhältnisse interessierten ihn zunehmend. In den 1990er Jahren stellte sich Handke auf die Seite Serbiens, was ihm scharfe Kritiken eintrug. Nach einer langen Reise durch die

Kriegsgebiete verfasste er 1996 einen umstrittenen Reisebericht mit dem Titel ‟Eine

winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien”. Diese Schrift führte zu heftigen öffentlichen Kontroversen, die bis heute

andauern.

3.3) Handke und der Nobelpreis

Im Dezember 2019 verleiht die schwedische Akademie den Nobelpreis für Literatur an den österreichischen Schriftsteller Peter Handke. In der Begründung wird deutlich zwischen Handke als öffentliche Person, d.h. als Schriftsteller und als Privatbürger unterschieden. Noch spezifischer begründet die Wiener Zeitung die Verleihung des Nobelpreises: "für ein einflussreiches Werk, das mit sprachlicher Genialität die Peripherie und die Spezifizität der menschlichen Erfahrung untersucht". Ähnlich lautet die lobende Begründung der

Schwedischen Akademie: "Die besondere Kunst von Peter Handke ist die

(8)

die Kino und Malerei zu zwei seiner größten Quellen der Inspiration werden ließen"10. In

seiner Laudatio für Peter Handke erwähnte der Vorsitzende des Nobelkomitees der Schwedischen Akademie, Anders Olsson indessen mit keinem Wort die medial

vorherrschende Debatte über die politische Haltung des Laureaten. Sondern er würdigte allein das künstlerische Schaffen und die sprachliche Einflusskraft Handkes”11.

Zunehmend wird die Kritik an dem neuen Preisträger laut, wegen seiner politischen Einstellung zum Balkankrieg. Wie zum Beispiel die Opferorganisation Mütter von

Srebrenica in Stockholm und danach die Kritiken von Journalisten und anderen

Kulturprominenten. Viele von ihnen denken, dass der Preis eine unfreiwillige Legitimierung von Handkes Äußerungen zu Jugoslawien ist; und dass die Schwedische Akademie damit einen Antidemokraten unterstützt. So zum Beispiel auch Caroline Fetscher:

‟Demokratieskepsis ist so salontauglich geworden wie das Raunen wider die Aufklärung oder der Ruf nach archaisch agierenden Autoritäten. Als das amtierende Nobelkomitee beim Votum für einen Vertreter alternativer Fakten im politischen Koma lag, zeigte es sich unfreiwillig als Seismograf der Epoche”12.

Die kritische Debatte wird bis heute scharf und provokant geführt. Und der provozierte Handke antwortet mit ähnlich scharfen Worten und Geste. Anlässlich einer in Stockholm gehaltenen Pressekonferenz entlädt sich die angespannte Atmosphäre: Ein

US-amerikanischer Journalist stellt die Frage, wie Handke heute Srebrenica bewerte, das völkermörderische Massaker von 1995. Das war zu viel für den Autor. Er ziehe jenen anonymen Brief mit dreckigem Toilettenpapier denen, wie er, Handke, meint, ‟leeren und ignoranten” Fragen des Journalisten vor13.

4) Frauen in Kärnten. Der soziale und kulturelle Hintergrund

In Handkes Erzählung bekommt man biografische Einzelheiten aus dem Leben seiner Mutter. Dazu meint Weiß, dass diese Biografie nicht nur die Geschichte einer Frau ist, sondern auch die der Unterdrückung aller Frauen.

Wie Handke betont, war es in dieser bäuerischen Gesellschaft schwierig als einfache Frau zu leben. Dieselbe Meinung teilt auch W. Mauser im Wesentlichen: ‟Frauen, die aus einer Welt sozialer Unterdrückung kommen und erste Schritte der Selbstverwirklichung zu

10 2019.

11 AA. VV.

https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/literatur/2041961-Peter-Handke-erhielt-Nobelpreis-Urkunde-und-Medaille.html

12 C. Fetscher; 2019. 13 R. Aguigah; 2019.

(9)

gehen versuchen, allerdings im Ganzen erfolglos”14. U. A. hebt Handke hervor, dass seine

Mutter gerne studiert hätte. Auch wenn das möglich gewesen wäre, kann man dennoch kaum von einer Selbstverwirklichung reden. Weil die Ausbildung, wie Rauch betont, streng begrenzt war: ‟Die KRFO empfahl die Errichtung spezialisierter Frauenschulen, das heißt die Spezialisierung von Schulen auf eine dem katholischen Frauenbild entsprechende Erziehung für Mädchen. Der Textilunterricht sollte reformiert werden und Frauen in ländlichen Gebieten sollten speziell für die Haus- und Landwirtschaft ausgebildet werden”15.

5) Von der Gestalt der Mutter zur dreifachen Figur

Handke beschreibt seine Mutter teils aus seiner eigenen Erfahrung und teils aus

Geschichten, die er gehört hat. Damit umfasst das Buch einen sehr langen Zeitraum über den Entwicklungsgang der Mutter. Auch wenn der Schriftsteller im Ausland lebt, ist die Beziehung zwischen den beiden ziemlich eng. Dazu meint Hans Höller aufgrund vieler Stellen in Briefen: ‟dass es eine tiefe Zuneigung und gedankliche Verbundenheit von Mutter und Sohn gäbe”16. Dieser Briefwechsel zeigt gegenseitige Aufmerksamkeit

zwischen den beiden; einerseits unterstützt sie ihn und muntert ihn auf. Andererseits braucht sie Hilfe und Unterstützung. Obwohl sie eine einzige Figur darstellt, kann man de facto drei verschiedene Zeiträume im Lebens erkennen und eine komplexe Entwicklung verfolgen. Damit beschreibt Handke in seiner Erzählung die Beziehungen zwischen Sohn und ‟allen diesen drei Frauen”.

5.1) Das Mädchen

Handkes Erzählung handelt von einer Frau, die mutig genug war, um eigene Ideen und Wünsche zu haben. Im jugendlichen Alter scheint seine Mutter ein selbständiges Mädchen zu sein, das etwas mehr als nur das Leben auf einem Hof zu verbringen wollte: ‟Es fing damit an, dass meine Mutter plötzlich Lust zu etwas bekam: sie wollte lernen; denn beim Lernen damals als Kind hatte sie etwas von sich selber gefühlt”17. Handkes Text erzählt

hier von Ereignissen, die vor seiner Zeit passiert sind. Er hat diese Berichte direkt von seiner Mutter übernommen. Er sieht hier den Gegensatz zwischen eigenen Wünschen und

14 W. Mauser, 1982, s. 74. 15 V. Rauch, 2013, s. 38. 16 H. Höller, 2003, s. 80. 17 P. Handke, 2003, s. 18.

(10)

denen der bäuerlichen Gesellschaft in Kärnten. Dazu S. Feigl: ‟Die Schulbildung der Mädchen wird auf traditionell ‟weibliche” Ausbildungsgänge einzuengen versucht. Forciert werden Haushaltungs- und Hauswirtschaftsschulen sowie Schulen für wirtschaftliche Frauenberufe”18.

Handkes Großvater hat Geld für die Ausbildung der Söhne zurückgelegt, nicht dagegen für seine Tochter. In der Grundschule war Maria Handke eine fleißige Schülerin und sehr begabt. Doch an eine Fortsetzung ihrer Ausbildung war nicht zu denken, wie Handke hervorhebt: ‟Das Lernen war nur ein Kinderspiel gewesen, nach erfüllter Schulpflicht, mit dem Erwachsenwerden, wurde es unnötig. Die Frauen gewöhnten sich nun zu Hause an die künftige Häuslichkeit”19.

Wozu brauchte man eigentlich eine Ausbildung? Nicht um zu arbeiten und nicht um eine Familie zu gründen. Denn Bildung oder Ausbildung war, für Frauen, nicht wünschenswert: ‟Keine Möglichkeit, alles schon vorgesehen: kleine Schäkereien, ein Kichern, eine kurze Fassungslosigkeit, dann zum ersten Mal die fremde, gefaßte Miene, mit der man schon wieder abzuhausen begann, die ersten Kinder, ein bißchen noch Dabeisein nach dem Hantieren in der Küche, von Anfang an überhört werden, selber immer mehr Weghören”20.

Nicht nur das Leben war vorgesehen, sondern auch Krankheit und der Tod:

‟Selbstgespräche, dann schlecht auf den Beinen, Krampfadern, nur noch Murmeln im Schlaf, Unterleibskrebs, und mit dem Tod ist die Vorsehung schließlich erfüllt”21.

Das junge Mädchen beginnt seine Entwicklung zur Frau. Sie fühlt ein Interesse für Neuigkeiten und Neugier auf die weite Welt. Sie verlässt ihre Familie und versucht ein eigenes Leben im Ausland aufzubauen: ‟Sogar ein Aufenthalt im Ausland!” 22. Handke, der

auch im Ausland wohnte, versteht und schätzt, wie mutig seine Mutter gewesen ist: ‟Diese Zeit half meiner Mutter, auf sich herauszugehen und selbständig zu werden. Sie bekam ein Auftreten, verlor die letzte Berührungsangst: ein verrutschtes Hütchen, weil ein

Bursche ihren Kopf an den seinen drückte, während sie nur selbstvergnügt in die Kamera lachte”23.

Obwohl sie später Selbstmord beging, darf man Handkes Mutter insgesamt nicht als eine deprimierte Figur betrachten. Die Mutter, die er als Kind kennengelernt hat, ist anders als die im Alter. Wie erwähnt gibt es dazu auch eine dritte Figur, das sorgenfreie und

18 S. Feigl; 14/04/20. 19 P. Handke, 2003, s. 17. 20 P. Handke, 2003, s. 17. 21 P. Handke, 2003, s. 17. 22 P. Handke, 2003, s. 19. 23 P. Handke, 2003, s. 22.

(11)

kinderlose Mädchen. Deswegen kann man von einer dreifachen Beziehung mit der Mutter sprechen. Handke interessiert sich auch für diese Figur und sammelt typische Episoden. Als Mädchen ist sie nicht schüchtern und genießt ihren Platz in der Familie mit

Natürlichkeit. Die folgende Beschreibung entspricht nicht dem Ideal des strengen und verschlossenen Mädchens. Sie scheint froh zu sein und wird als übermütig porträtiert: ‟Meine Mutter hatte ein übermütiges Wesen, stütze auf den Fotos die Hände in die Hüften oder legte einen Arm um die Schulter des kleineren Bruders. Sie lachte immer und schien gar nicht anders zu können”24. Diese Beschreibung entspricht dem Bild, das Handke dem

Leser vermitteln will; seine Mutter war eine Frau, die auch mutig und stolz auf sich selbst war.

5.2) Die Ehefrau

In jungen Jahren beginnt Maria Handke die Metamorphose vom Mädchen zur Ehefrau; zu Beginn des zweiten Weltkriegs fängt sie ihre erste Liebesbeziehung an. Sie verliebt sich in einen deutschen Parteigenossen, der in dieser Gegend stationiert ist. Soweit die Leser verstehen können, ist das wahrscheinlich die einzige Zeit, in der Handkes Mutter glücklich ist. Darüber schreibt der Schriftsteller: ‟sie liebte ihn, sehr, ließ sich alles von ihm sagen. Sie stellte die Eltern vor, machte mit ihm Ausflüge in die Umgebung, leistete ihm in seiner Soldateneinsamkeit Gesellschaft”25. Auch wenn dieser Soldat schon verheiratet war, spielt

das für sie keine Rolle, Maria Handke bekommt die Aufmerksamkeit, die sie sucht und fühlt sich wohl.

Leider nimmt die Liebesbeziehung ein schnelles Ende als sie, kurz vor der Entbindung gezwungen ist, einen anderen zu heiraten. Zu dieser Wahl ist sie gezwungen, weil sie als werdende Mutter einen Ehemann braucht. Das geschieht nur aus Not und weil sie durch gesellschaftliche Konventionen verpflichtet ist, ‟aber es gab keinen ANDEREN mehr: die Lebensumstände hatten sie zu einer Liebe erzogen, die auf einem nicht austauschbaren, nicht ersetzbaren Gegenstand fixiert bleiben musste”26. Durch diese Auskünfte versteht

man, dass ihr Liebesleben schon verblüht ist. Deshalb erinnert sie sich an diese Zeit mit solcher Melancholie und Unglück. Für ihren Mann fühlt sie nichts, er war ihr zuwider ‟aber man redete ihr das Pflichtbewußtsein ein (dem Kind einen Vater zu geben): zum ersten Mal läßt sie sich einschüchtern, das Lachen verging ihr ein bißchen”27 und sie glaubte,

24 P. Handke, 2003, s. 18. 25 P. Handke, 2003, s. 23. 26 P. Handke, 2003, s. 23-24. 27 P. Handke, 2003, s. 25.

(12)

dass er im Krieg sterben wird und es so nur eine vorübergehende Lösung wäre.

Zusammen mit ihrem Ehemann und dem Kind (Peter) fuhr sie nach Berlin und wohnt bei seiner Familie. Aber dort wird sie nur ‟geduldet” und als sich die Kriegsfront nährt und die ersten Bomben fallen, kehrt sie nach Österreich zurück. Im Elternhaus ist sie allein, sie kümmert sich um ihren Sohn und hilft in der Küche und auch auf dem Feld. Doch ein Mädchen ist sie nicht mehr, sie hat geheiratet und hat deswegen Verpflichtungen. Sie ist jetzt eine andere Frau und muss sich anpassen. Dazu schreibt Handke: ‟Die anderen lebten ihr eigenes Leben zugleich als Beispiel vor, aßen so wenig zum Beispielnehmen, schwiegen sich voreinander aus zum Beispielnehmen, gingen zur Beichte nur, um den zu Hause Bleibenden an seine Sünden zu erinnern”28. Ein normales Leben wie früher ist nicht

mehr möglich. Tägliche Taten so wie das Singen eines berühmten Liedes, oder ein Tanzschritt waren nicht willkommen. Die eigene Lebenslust gehörte nicht zur Welt der Frauen. ‟Meine Mutter hatte in der Stadt schon geglaubt, eine Lebensform gefunden zu haben, die ihr ein wenig entsprach, bei der sie sich jedenfalls wohl fühlte – nun merkte sie, daß die Lebensform der anderen, indem sie jede zweite Möglichkeit ausschloß, auch als alleinseligmachender Lebensinhalt auftrat”29. Laut V. Rauch wurden Frauen erstens durch

ihre Position im Haus definiert und zweitens durch ihren Charakter, der dem Geschlechtsideal entsprechen muss30.

Ihr Mann, dagegen, hat sie verlassen. Zurück in Berlin fand er eine neue Freundin und vergaß Maria Handke. Erst am Ende des Krieges fährt Handkes Mutter nach Berlin zurück, um ihren Mann an seine Pflichten zu erinnern. Schließlich kehren die beiden zusammen nach Kärnten zurück. Aber Maria Handke hat ‟das Kind mitgebracht, und lustlos befolgten beide das Pflichtprinzip”31. Die Ehe ist aber ein neues Elend, der

Ehemann ist Alkoholiker und die Ehefrau versucht immer wieder einen neuen Job für ihren Mann zu finden.

Durch diese Ehe findet sie weder einen Lebenspartner noch Glück, ihre Welt besteht meistens aus vier Wänden und darin ist sie allein. Handke beschreibt sie als eine junge und trotzdem hoffnungslose Frau: ‟Sie war also nichts geworden, konnte auch nichts mehr werden […] schon erzählte sie von «meiner Zeit damals», obwohl sie noch nicht dreißig Jahre alt war”32. Handke, der so gut diese dreifachen Bilder der Mutter (Mädchen, Ehefrau,

28 P. Handke, 2003, s. 26. 29 P. Handke, 2003, s. 26. 30 V. Rauch, 2013, s. 14. 31 P. Handke, 2003, s. 27. 32 P. Handke, 2003, s. 28.

(13)

Hausfrau) kennt, erzählt davon, wie aus den ersten zwei nichts herauskäme. Das frohe Mädchen, das in der Schule studieren wollte und das im Ausland arbeitete ist weg; soeben weg ist die junge Frau, die vor der Kamera lächelt. ‟Sie wurde nichts”33. Nichts wurde auch

die Ehefrau. Doch ist sie immer noch verheiratet, aber mit einem Mann, den sie nicht liebt und der sie prügelt: ‟Wenn er betrunken war, wurde er FRECH, und sie mußte STRENG zu ihm werden. Dann schlug er sie, weil sie ihm nichts zu sagen hatte und er es doch war, der das Geld heimbrachte”34.

Das Leben in der großen Stadt ist schon vorüber, aus der (physischen) Verbindung mit dem Ehemann kamen einige Kinder hervor, aber auch mehrere Aborte. Handke

berücksichtigt diese Entwicklung, seine Beziehung hat mit seiner Geburt angefangen und mit ihrem Tod geendet. Am Ende, aber erkennt er, dass seine Mutter vielseitig war: ‟Sie vergessen dann die Person […] eine Kettenreaktion von Wendungen und Sätzen wie Bilder im Traum, ein Literatur-Ritual, in dem ein individuelles Leben nur noch als Anlaß funktioniert”35.

Ähnlich beschreibt auch Hans Höller den Stand der Dinge: ‟Sie wird sich in dieser Ehe nie verstanden fühlen, erst spät, als sie mit dem Sohn Bücher las, lernen, »von sich zu reden« und der Sohn wird so »allmählich etwas von ihr« erfahren”36.

Es ist auch Dank der Mutter, dass die Leser etwas über die ‟nichtexistierende” Beziehung zwischen dem Autor und seinem biologischen Vater erfährt. Somit bekommt Handke viele Auskünfte über die kurze Liebesbeziehung zwischen der Mutter und einem deutschen Soldaten. Aus eigener Hand wusste er als Kind kaum etwas über ihn. Sie erzählt ihm Kuriosa und Anekdoten in deren Leben37, aber erst nach dem Abitur trifft Handke seinen

biologischen Vater. Es ist das Verdienst der Mutter, dass er überhaupt eine Beziehung mit seinem Vater entwickelt: ‟In einem Café ihres Heimatortes traf er sich dann mit seiner ehemaligen Geliebten, die Mutter aufgeregt, der Vater ratlos”38 und sogar in diesem

Moment ist Handkes Mutter nicht frei, denn: ‟Der Ehmann hatte Wind von dem allem bekommen, schickte aber nur als Zeichen den jüngsten Sohn in das Café, wo das Kind […] sie ab und zu mit immer den gleichen Worten fragte, wann sie denn endlich nach

33 P. Handke, 2003, s. 32. 34 P. Handke, 2003, s. 27. 35 P. Handke, 2003, s. 33. 36 H. Höller, 2003, s. 81. 37 P. Handke, 2003, s. 23. 38 P. Handke, 2003, s. 24.

(14)

Hause gehe”39. Als Erwachsener aber, versteht Handke, dass er für die Mutter eine

Belastung war und dass sie nie Zeit für sich selbst hatte.

Wie erwähnt ist sie mit ihrem Liebesleben eigentlich unzufrieden: von dem Mann, der sie geliebt hat, ist nichts mehr zu spüren und ihre Beziehung als verheiratete Frau funktioniert nicht. Der Umgang zwischen Handkes Mutter und Stiefvater ist sehr angespannt, weil der Stiefvater alkoholsüchtig ist und zweitens, weil die beiden nicht gut zueinander passen. Laut W. Mauser40 verängstigt die Ehefrau auch ihren Sohn, da sie zu Hause ‟Streit” macht

und sich mit dem Mann nicht versöhnen will. Als der Ehemann sie schlägt, wird sie erstmals zum Opfer, aber danach wird sie in den Augen des Sohnes auch schuldig: ‟Schläge, unter denen sie wegtauchte; sie redete nicht mehr mit ihm, stieß so die Kinder ab, die sich in der Stille ängstigten und an den zerknirschten Vater hängten. Hexe! Die Kinder schauten feindselig, weil sie so unversöhnlich war”41.

Doch ist die Figur der Ehefrau vielseitig, als Frau trägt sie auch die Verantwortung für ihre Kinder und das gibt ihr auch Kraft. Als Ehefrau ist sie auch sehr stark und unternehmungs-fähig. Dank ihres Entschlusses zieht die Familie aus dem Nachkriegsberlin nach

Österreich und sie ist verantwortlich dafür, dass die Familie eine Unterkunft bekommt. Dazu Höller: ‟Sie, die selber nicht lernen durfte, war früh vertraut mit seinem Wunsch, Schriftsteller zu werden, die erste Leserin seiner Texte”42 und, da sie logischerweise keine

fachkritische Kompetenz besitzt, hält sie Handke für moralisch und ästhetisch kompetent.

5.3) Die Hausfrau

Die Figur der Hausfrau ist diejenige, die Handke am besten kennt. Für ihn ist die Hausfrau auch die Mutter, weil die Pflicht der Kindererziehung ausschließlich ihr Teil ist. Genau dieses Wort, Mutter, kommentiert auch Handke: ‟Zu Hause war sie »die Mutter«, auch der Ehemann nannte sie öfter so als bei ihrem Vornamen”43 und Maria akzeptiert das, auch

weil dieses Wort ihre Beziehung mit dem Ehemann besser erklären kann. Damit besteht das Familienleben in zwei getrennten Sphären, eine private und eine öffentliche. Maria Handke beherrscht beide Rollen: Im öffentlichen Leben erweist sie sich als stark und unternehmungsfähig (manchmal redet sie sogar anstatt ihres Mannes, z.B. als sie für ihn

39 P. Handke, 2003, s. 24. 40 W. Mauser, 1982, s. 80. 41 P. Handke, 2003, s. 40. 42 H. Höller, 2003, s. 80. 43 P. Handke, 2003, s. 39.

(15)

eine Anstellung sucht), drinnen wird sie dagegen ‟die schwächere Hälfte, der ewige Verlierer”44.

Dazu meint Rauch: ‟Zwischen Männern und Frauen bestand auf jeden Fall eine klare Hierarchie. Die Frau hatte dem Mann hörig zu sein, ihre Position innerhalb der Familie war jener des Mannes nachgeordnet. Ideologisch begründet wurde diese Ordnung vor allem durch die christliche Religion”45. Im Text wird mehrmals darauf hingewiesen, dass Maria

Handke brutal geschlagen wurde. Es ist ein selbstverständlicher Teil des Alltagslebens. Und wenn der Mann seine Frau mit Schlägen gezüchtigt hatte, war offenkundig der Alltagsfrieden wiederhergestellt. Die Erzählung erweist sich so fast wie ein Drehbuch, wo die zwei Charaktere ihre Repliken vorlesen müssen: ‟Sie blieb immer wieder stehen, trat einen Schritt vor und wurde kurzerhand weitergestoßen, beide in verbissener Stummheit, bis sie endlich den Mund aufmachte und ihm den Gefallen tat: »Du Vieh! Du Vieh!«, worauf er sie dann richtig schlagen konnte”46.

Zusätzlich zur Haushaltsführung gab es auch andere Tätigkeiten, und zwar auch Arbeit, nur war Frauenarbeit nicht mit Männerarbeit gleichgestellt. So schreibt Paletschek: ‟Die Arbeit der Frauen in der «häuslichen» Sphäre leistete einen unverzichtbaren Beitrag zum Lebensunterhalt. Gleichzeitig war ein Großteil der Frauen immer außerhäuslich

erwerbstätig gewesen. In der ländlichen Gesellschaft waren Frauen zuständig für die Vorratshaltung, die Geflügel- und Kleintierhaltung, die Weiterverarbeitung tierischer oder pflanzlicher Produkte für den Eigenbedarf und den Verkauf - von der Butterherstellung über die Textilherstellung bis zum Bierbrauen”47.

Die Lebensbedingungen sind hart und sämtliche Mitglieder müssen zusammenarbeiten. Sogar die Kinder müssen Verantwortung tragen in Handkes Familie, gehen sie zusammen mit der Mutter, um um Mitleid zu betteln: ‟die Frau ging immer wieder mit dem inzwischen zweiten Kind zum Brotgeber und bat […] die Allerweltsgeschichte”48. In diesem Umstand

muss sie sich allein um die Familie kümmern, weil: ‟der Mann, Straßenbahn-Fahrer, trank, Straßenbahn-Schaffner, trank, Bäcker, trank”. Dazu antwortet sie auch auf den

Vorstellungsgesprächen ihres Mannes: jedes Mal, wenn er erlassen worden ist, da er trunksüchtig ist, muss sie sich die Mühe geben, eine neue Anstellung für ihn zu finden.

44 P. Handke, 2003, s. 32. 45 V. Rauch, 2013, s. 10. 46 P. Handke, 2003, s. 40-41. 47 S. Paletschek, 2001, s. 423. 48 P. Handke, 2003, s. 27.

(16)

In Wunschloses Unglück bekommt man auch eine Vorstellung davon, was dieses Elend bedeutet: die Rückenschmerzen bei Wäschewaschen, die rotgefrorenen Hände, wenn sie die Wäsche auf die Wäscheleine hängte, das Nasenbluten, wenn sie sich lange bücken muss. An sich, wie Handke kommentiert, war das nicht das schlimmste. Das schlimmste war, dass kein Ende abzusehen war 49. Tage und Monate gingen vorbei ohne Ende und

ohne Abwechslung.

Laut Handke ist sein Vater meistens abwesend (das heißt: physisch abwesend oder nicht in dem Zustand oder der Lage, um auf seine Söhne aufzupassen) und deswegen

entwickelt er eine elterliche Beziehung ausschließlich zu seiner Mutter. Die elterliche männliche Figur wird nie als ‟Mein Vater” bezeichnet. Weiter sagt Handke, dass dieser Mann die Ehe sogar vergessen hat und ein neues Leben in Berlin gestartet hat (siehe Kapitel 5.2). Diese Jahre werden als ‟Elend” zusammengefasst, frei von Liebe und nur mit Mitleid zwischen seiner Mutter und diesem Mann.

Diese Situation enthält irgendwie eine bittere Ironie, Handke hat zwei Väter, von denen einer abwesend ist und der andere eine ganz unväterliche Figur ist. Die Gewalt, die Handke beschreibt, gehört zum Alltäglichem - neutral und ohne Hass.

Alles was die Hausfrau bei ihrem Mann nicht findet (Gesellschaft, Verständnis, Liebe) sucht sie in der Literatur. Maria und Peter lesen zusammen und ihre Beziehung wird enger. Sie unterhalten sich über die Bücher, die sie zusammen gelesen haben. Obwohl die Frau keine Hochschule besucht hat, teilen sie die Liebe für die Literatur. Der

Schriftsteller erzählt: ‟Sie las Zeitungen, noch lieber Bücher, wo sie die Geschichte mit dem eigenen Lebenslauf vergleichen konnte. Sie las mit mir mit”50. Die Leserin vergleicht

ihr Leben mit dem der Hauptfiguren und in deren Beziehung gibt es auch Raum für literarische Diskussionen. Dass Handke die Meinung seiner Mutter schätzt, betont Hans Höller: ‟Sie, die selber nichts lernen durfte, war früh vertraut mit seinem Wunsch,

Schriftsteller zu werden, die erste Leserin seiner Texte”51.

6) Post-mortem Beziehung, die Entmenschung der Mutter

Wie Handke erkennt, ist es schwer ein zusammenfassendes Bild dieser Beziehung zu geben. Es scheint ihm unmöglich, eine übliche Biografie über seine Mutter zu schreiben, weil der Text keine bloßen Phrasen enthält, sondern wichtige Teile eines Lebenslaufes,

49 P. Handke, 2003, s. 45. 50 P. Handke, 2003, s. 46. 51 H. Höller, 2003, s. 80.

(17)

die als Erklärung für ihre Beziehung steht und als Form privater Trauer dient52. Er fühlt

sich der gerade verstorbenen Mutter sehr nahe: ‟Höchstens im Traumleben wird die Geschichte meiner Mutter kurzzeitig faßbar: weil dabei ihre Gefühle so körperlich werden, daß ich diese als Doppelgänger erlebe und mit ihnen identisch bin”53. Die Beziehung, die

durch diese Worte deutlich wird, ist etwas anders als der traditionelle Umgang zwischen Mutter und Sohn.

Somit scheint es Handke unmöglich, eine üblich-traditionelle Biografie über seine Mutter zu schreiben. Ein Brief der Mutter zeigt deutlich, wie sie mit ihrem eigenen Leben

unzufrieden ist, sie schreibt bezeichnenderweise von: ‟die tierische Primitivität meiner Familie”54. Ganz offenkundig erlebt sie nichts anders als ein Leben voller Not, Pflicht und

Hausarbeit. Wohl deshalb schreibt Handke, dass in dieser Gegend, viele Frauen heimliche Trinkerinnen waren55. Für manche war Alkohol und die momentane Pause von der

Alltäglichkeit der einzige Weg, diese Bedingungen zu ertragen. Das Ergebnis dieses Zustands für Maria Handke ist, dass sie sich missverstanden fühlt. ‟Um eine Eigene Geschichte und eigene Gefühle betrogen, fing man mit der Zeit, wie man sonst von

Haustieren […] sagte, zu »fremdeln« an: man wurde scheu und redete kaum mehr” 56 oder

wurde man als Spinner betrachtet. An gleicher Stelle vergleicht der Schriftsteller Maria Handke mit einem verwilderten Pferd. Er spricht ebenso von ‟tierischer Primitivität”, die den Entmenschlichungsprozeß fortsetzt. Ganz krass beschreibt Handke das Leben der Mutter: ‟Ein Naturschauspiel mit einem menschlichen Requisit, das dabei systematisch entmenscht wurde”57. Am Ende sind der zerbrochene Körper der Mutter und die Erzählung

des Schriftstellers die einzigen Zeugen für diesen Kampf.

Das Thema der menschlichen Maschine kommt auch in einem der letzten Briefen vor: ‟Ich rede mit mir selber, weil ich sonst keinem Menschen etwas sagen kann. Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich eine Maschine”58. Es ist eine Art psychischer Krankheit, die sie aus

der Gesellschaft ausgeschlossen hat. Nur der Umgang mit dem Sohn (Briefwechseln) dient als imaginäre Verbindung zwischen ihrem Inneren und der Umwelt. Als sie sich zum Selbstmord entscheidet, geschieht ihr letzter Kontakt mit dem Sohn per Brief; sie übergibt dem Sohn das Testament und versucht ihn zu trösten.

52 P. Handke, 2003, s. 33-34. 53 P. Handke, 2003, s. 35. 54 H. Höller, 2003, s. 81. 55 P. Handke, 2003, s. 38. 56 P. Handke, 2003, s. 37. 57 P. Handke, 2003, s. 43-44. 58 P. Handke, 2003, s. 59.

(18)

Damit ist der letzte Schritt im Umgang von Schreiber (Handke) und Schreiberin (die

Mutter) vollzogen. Handke sieht darin die Mutter wie eine Schriftstellerin: ‟Die Briefe waren so dringlich, als hätte sie versucht, sich selber dabei in das Papier zu ritzen. In dieser Periode war das Schreiben für sie […] eine vom Willen unabhängiger Atmungsvorgang”59.

7) Handke als Ich-Erzähler

Handkes Erzählung Wunschloses Unglück stellt eine Mischung aus persönlicher Biografie der Mutter und individueller Beschreibung sozialer Verhältnisse dar. Mauser meint dazu: ‟daß der Autor hier einen Ich-Erzähler Elemente aus der Biographie der Mutter auswählen und so erzählen läßt, wie die erinnernde und zugleich verarbeitende Phantasie des Autors es zuläßt, wünscht, befürchtet, erhofft, für wahrscheinlich hält”60.

Ein zentrales Erzählelement ist zweifellos die Mutter-Sohn-Beziehung. Der Autor verwendet eine Reihe von warm-emotionalen Wörtern, die eine tiefe Bindung an die Mutter signalisieren. Von daher ist seine Reaktion auf die Nachricht vom Selbstmord schockierend und unverständlich: ‟DAS WAR ES. DAS WAR ES. DAS WAR ES. SEHR GUT. SEHR GUT. SEHR GUT. Und während des ganzen Fluges war ich außer mir von Stolz, daß sie Selbstmord begangen hatte”61. Ähnlich, sagt Heinschink, ‟man spürt nichts

von einer persönlichen Betroffenheit des Erzählers […] ganz im Gegenteil – schreibt der Ich-Erzähler von einem ‟unpersönlichen Wohlgefühl”, das ihn überkommt”62. Natürlich

besteht der Widerspruch nur an der Oberfläche. In Wirklichkeit sieht er den Freitod der Mutter als das Ende eines elenden Lebens und einer tiefgreifenden Hoffnungslosigkeit. Und dazu ein Gefühl der Freiheit, dass die Mutter nicht mehr leiden muss.

Auch die langandauernde Krankheit der Mutter macht ihm zu schaffen, weil er darin wieder den deutlichen Prozess der Entmenschlichung vor Augen hat: ‟Wie in einem Zoo lag da die fleischgewordene animalische Verlassenheit”63, weshalb es Handke schwerfällt,

sich der Mutter am Krankenbett zu nähern. Hier zeigt sich ein besonderer Zwiespalt: Auf der eine Seite wächst der physische Abstand zwischen ihnen, andererseits fühlt Handke sich der Mutter zunehmend nahe. Mit seinen eigenen Worten: ‟Seit dieser Zeit erst nahm ich meine Mutter richtig wahr. Bis dahin hatte ich sie immer wieder vergessen, empfand höchstens manchmal einen Stich bei dem Gedanken an die Idiotie ihres Lebens. […] ihr

59 P. Handke, 2003, s. 55. 60 W. Mauser, 1982, s. 79 61 P. Handke, 2003, s. 62. 62 H. Heinschink, 2012, s. 15. 63 P. Handke, 2003, s. 52.

(19)

Zustand war so handgreiflich erfahrbar, daß ich in manchen Augenblicken ganz daran teilnahm”64.

Auch Mauser sucht nach dem Zweck der Schreibweise: ‟Doch es ist die Frage, ob diese Reflexionen über die Erzählweise, die offenbar die Aufgabe haben, die Verbürgtheit des Berichts zu bekräftigen, im wörtlichen Sinne zu verstehen sind. Zunächst fällt auf, daß der Erzähler (der Autor?) seine Absicht, das Leben der Mutter zu erkunden, auf

ungewöhnliche Art begründet”65. Das Erzählen dient als Balsam für die Seele und sollte

etwas Ruhe bringen. Dass er sehr berührt ist, erfährt der Leser schon von Anfang an: ‟Ja, an die Arbeit machen: denn das Bedürfnis, etwas über meine Mutter zu schreiben, so unvermittelt es sich auch manchmal noch einstellt, ist andererseits wieder so unbestimmt, daß eine Arbeitsanstrengung nötig sein wird, damit ich nicht einfach, wie es mir gerade entsprechen würde, mit der Schreibmaschine immer den gleichen Buchstaben auf das Papier klopfe”66. Das Schreiben sollte dem Verarbeitungsprozess des Schriftsellers helfen,

mit dem Freitod seiner Mutter umgehen zu können, damit der Ich-Erzähler zwischen dem Geschehenen und sich selbst Abstand bekommen konnte67.

Ob ihm das tatsächlich gelingt, ist ungewiss. Weil Handke hier als Ich-Erzähler zwischen Phasen, wo er sehr empfindlich und bewusst ist, und Phasen, wo er mehr abwesend und wie betäubt scheint. Die Erinnerung an seine Mutter ist so tief in der Seele verwurzelt, dass sie sich auch in der täglichen Routine zeigt: ‟Einmal ist mir beim Brotschneiden das Messer abgerutscht, und mir kam sofort wieder zu Bewußtsein, wie sie den Kindern am Morgen kleine Brotstücke in die warme Milch geschnitten hatte”68.

8) Zusammenfassung und Ausblick

Durch seine lange Karriere als Schriftsteller ist Peter Handke zu einem der bekanntesten österreichischen Verfasser geworden. Seine Geschichte ist eine Mischung aus Erfolg und Kontroversen; schon in den 70er sah man in ihm ein ‟Enfant terrible“, eine Art Schreckfigur bis auf den heutigen Tag. Nicht geringer werden die Widersprüche, als Peter Handke 2019 den Literaturpreis für Literatur erhält. Besonders scharf kritisiert man seine Stellungnahme für Milosevic in den 1970er Jahren. Typisch für Handke ist, dass er von seiner Meinung keinen Deut abrückt.

64 P. Handke, 2003, s. 53. 65 W. Mauser, 1982, s. 78. 66 P. Handke, 2003, s. 11. 67 H. Heinschink, 2012, s. 20. 68 P. Handke, 2003, s. 66.

(20)

Zweifellos ist Wunschloses Unglück ein einflussreiches Werk, nicht zuletzt auch im Ausland. Der Relation zwischen Peter und seiner Mutter Maria wird hier darstellt: biografische Textabschnitte wechseln mit sachlichen Elementen ab. Als Leser entdeckt man auch viele Aspekte von den Lebensverhältnissen der Frauen in Kärnten. Manchmal treten die Härten dieser kleinbäuerlichen Gesellschaft in den Vordergrund, manchmal dagegen bilden sie einen Hintergrund für Maria Handkes Leben. Das Leben seiner Mutter entwickelt sich im Laufe der Erzählung als eine dreifache Figur. Nicht nur in ihrer Rolle als Mutter, sondern auch den Entwicklungsprozess zwischen Mädchen, Ehefrau und

Hausfrau. Es sind die brutalen Umstände ihrer Lebensverhältnisse, die Handkes Mutter schließlich zerbrechen lassen. Von allen ihren Träumen bleibt nur ein Nichts. Träume, die unmöglich erschienen und aus denen am Ende nichts in Erfüllung ging. Schließlich

mündet diese totale Hoffnungslosigkeit in den Selbstmord. Zeuge ihrer Handlung ist allein ihr Sohn …

(21)

Literaturverzeichnis: 1) Primärliteratur:

P. Handke; Wunschloses Unglück; Suhrkamp Basis Bibliothek; Ulm; 2003. 2) Sekundärliteratur:

R. Aguigah; Die Verantwortung des Schriftstellers in Deutschlandfunk Kultur;

https://www.deutschlandfunkkultur.de/literaturnobelpreis-fuer-peter-handke-die-verantwortung-des.1005.de.html?dram:article_id=465399; 10/12/2019.

F. Czeike; Frauenbildung; https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Frauenbildung; letzte Änderung am 16/01/2020.

M. Degenhardt; die Bedeutung von Sprache in Peter Handkes ‟Wunschloses Unglück”; GRIN Verlag; München; 2005.

S. Feigl; Factsheet: 150 Jahre Frauenrechte in Österreich;

https://bmsk2.cms.apa.at/cms/site/attachments/0/2/0/CH3434/CMS1466406589664/factsh

eet_150_jahre_frauenrechte.pdf; Wien; 2016.

C. Fetscher; Ein Symptom politischer Verirrungen in der Tagesspiegel;

https://www.tagesspiegel.de/kultur/nobelpreis-von-handke-ein-symptom-politischer-verirrungen/25316460.html; 10/12/2019.

H. Heinschink; Negationen. Die Darstellung des Suizids in ausgewählten Werken der

Literatur zwischen 1970 und 2010; Wien; 2012.

P. Henning; Peter Handke: Vom Revoluzzer zum sanften Erzähler; letzte Änderung am 25/11/2017.

D. Holzinger und M. Brandner; Publikumsbeschimpfung von Peter Handke in Literatur und ihrer Zeit; 1994.

K. Kastberger; Handke Online; https://handkeonline.onb.ac.at/node/11; 06/12/2020. D. Kowalczyk; Ketten der Vergangenheit. Das Mutterbild in Peter Handkes Erzählung

"Wunschloses Unglück"; Krakow; 2006.

M. Martens; Ich würde es nicht verurteilen in Frankfurter Allgemeine; 25/10/2019. W. Mauser; Peter Handke: „Wunschloses Unglück“ – erwünschtes Unglück?; Freiburg;1982.

S. Paletschek; Kinder-Küche-Kirche; München; 2001.

S. Peschel; Debatte um Literaturnobelpreis für Peter Handke: Berechtigte Wut oder

(22)

https://www.dw.com/de/debatte-um-literaturnobelpreis-

f%C3%BCr-peter-handke-berechtigte-wut-oder-monstr%C3%B6se-unterstellung/a-51536180; 06/12/2020.

V. Preljevic;

https://www.derstandard.de/story/2000110471923/wiederholungstaeter-handke; 30/10/2019.

V. Rauch; Arbeitsmarktpolitik und die Erste Frauenbewegung in Österreich 1916 bis 1920; Wien; 2013.

P. Weiß; Die Grenzen des biographischen Körpers. Zu Peter Handkes Wunschloses

References

Related documents

Wir haben uns in diesem Aufsatz mit dem Theaterstück Mutter Courage beschäftigt und haben es als Beispiel dafür analysiert, wie Bertolt Brecht, anhand seines Konzepts des

proportion of the seeds to germinate but, even after 33 weeks of stratification 70-80% of the seeds collected in 2001 remained ungerminated (Fig. 1), despite being tested at different

Im zwölften Bild befürwortet der Doktor, dass die Andorraner nichts machen sollen, wenn Andri zur Hinrichtung gebracht wird („Nur keine Aufregung. Wenn die Judenschau vorbei ist,

Das ist das, was ich heute zu meinen früheren Theorien zu sagen habe. Ich hoffe, Sie fühlen, daß das kein Geist der Skepsis und der Unsicherheit ist. Eine Wahrheit, die in

Tusken schreibt weiter, dass Sinclairs eigene Züge die Persona darstelle, 87 dem man zustimmen kann, weil Sinclair im Text noch ein Stück auf dem Weg zum Inneren,

In der Studie von Washburn (1997) kommt in der CLIL-Gruppe ein grö- ßerer Anteil von positiven CS vor (vgl. Insofern muss angenommen werden, dass die CLIL-Gruppe der

Tre artiklar tar upp brister i samhället för personer som drabbats av stroke samt hur denna grupp till följd av detta upplever minskad delaktighet på grund av svårigheter att

Slutsats: För att stödja patienterna i deras egenvård kan sjuksköterskan vara medveten svårigheterna, ge grupp- och individanpassad utbildning, stärka tilltro till