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Motive der Dekadenz in Thomas Manns„Der Tod in Venedig“

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Academic year: 2021

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Växjö Universitet

Institutionen för Humaniora TYC161 Tyska uppsatskurs Betreuung: Dr. Bärbel Westphal HT 06/07

Motive der Dekadenz in Thomas Manns

„Der Tod in Venedig“

Daniela Thiel

Seminarievägen 24A:108 352 38 Växjö

076 2335406

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 3

-2. Dekadenz 4

2.1 Was ist Dekadenz? 4

2.2 Historischer Kontext der Dekadenz 6

2.3 Literarische Motive der Dekadenz 8

-3. Motive der Dekadenz in Der Tod in Venedig 11

3.1 Ortsschilderungen 11

3.1.1 München 11

3.1.2 Venedig 13

3.2 Figuren 17

3.2.1 Gustav von Aschenbach 17

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-1. Einleitung

Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig lässt sich als herausragendes Beispiel für einen Text der Dekadenzliteratur interpretieren. Das Motiv des Verfalls wird schon im Titel deutlich und Anspielungen auf Verfall und Niedergang lassen sich im Verlauf der Handlung, in den Schilderungen der Stadt und dem Verhalten der Figuren finden.

Von dem Augenblick an, da Aschenbach seinen Spaziergang durch den Englischen Garten unternimmt, bis zu seinem Zusammenbruch am venezianischen Strand hängt alles in einem Netz notwendiger Beziehungen zusammen.1

Diese Beziehungen ergeben sich aus der zunehmenden Schwäche des Protagonisten Gustavs von Aschenbach in der verseuchten Stadt Venedig, aber auch aus seiner sich gleichzeitig verändernden Auffassung von Kunst, ausgelöst durch die Liebe zum Jungen Tadzio. Hinzu kommt die Thematik des Künstlertums bezogen auf die Figur des Schriftstellers Aschenbachs, der sich vom disziplinierten Schaffenden zum herumstreunenden, von einem Jüngling inspirierten Künstler entwickelt und am Ende stirbt. Mit ihrer Veröffentlichung im Jahr 1912 kann die Novelle ebenfalls als Abgesang auf die vorangegangene literarische, aber auch historische Epoche gesehen werden. Um die Zuordnung von Der Tod in Venedig zur Dekadenzliteratur nachzuweisen, werde ich mich auf die Darstellung der Motive konzentrieren, die Hinweise auf Dekadenz geben.

Zunächst soll aber die Dekadenz als literaturwissenschaftlicher Begriff definiert werden und in den geisteswissenschaftlichen und historischen Kontext eingeordnet werden. Dabei sollen Merkmale vorgestellt werden, die als typisch für die Dekadenzliteratur bezeichnet werden können. Diese sollen dann im Text an verschiedenen Motiven nachgewiesen werden. So werden zunächst die Orte München und Venedig auf Verfallsmotivik untersucht. Danach stehen der Protagonist und die übrigen Figuren im Vordergrund, also neben Aschenbach der für ihn die Schönheit symbolisierende Tadzio und die Unheil verkündenden Boten, die an mehreren Stellen auftauchen. In einem letzten Kapitel soll ein Fazit über den Verlauf der Arbeit gezogen und die Bedeutung der Dekadenz für das Verständnis von Der Tod in Venedig bewertet werden.

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2. Dekadenz

2.1 Was ist Dekadenz?

Eine präzise Definition des Begriffs der Dekadenz zu formulieren ist schwer, da es unterschiedliche, häufig synonym verwendete Ausdrücke gibt, die die Strömung der dekadenten Literatur bezeichnen können. So kann man die Termini »fin de siècle« oder »Ästhetizismus« häufig ebenfalls unter der Bedeutung Dekadenz vorfinden. In dieser Arbeit soll aber der Begriff »Dekadenz« als Bezeichnung der um 1900 entstandenen Literatur aufgefasst werden, die Motive des Verfalls im Zusammenhang mit einem zunehmenden künstlerischen Verfeinerungsprozess thematisiert. Der Ausdruck »fin de siècle« soll die der Dekadenz eigene Atmosphäre zum Ausgang des 19. Jahrhunderts beschreiben, die – zumindest für die entscheidenden Autoren – geprägt war von Endzeitstimmung, Weltschmerz und Melancholie. Der »Ästhetizismus« ist eine weitere Erscheinung der Dekadenz, die sich durch eine starke Betonung des künstlerischen Aspektes auszeichnet. Dekadenzliteratur ist also bestimmt von zwei Tendenzen, der Darstellung von Verfall sowie der gleichzeitigen Verfeinerung der Nerven, mit der eine ansteigende künstlerische Produktion einhergeht. Sie zeichnet sich durch „die Betonung des Verfallsmoments“2 aus, die zur „Bevorzugung dekadenter Charakteristika wie Krankheit, Nervosität, Morbidität, Todessehnsucht, Wahnsinn und ähnlichen Kennzeichen“3 führt. Erschwerend für eine genaue Definition ist, neben dem Begriffspluralismus, dass das Auftreten der literarischen Dekadenz „wie kaum ein anderes mit Vorurteilen und Fehlurteilen belastet ist, die in die deutende und wertende Terminologie eingegangen sind“4. Eine negative Wertung ist schon im Begriff Dekadenz selbst enthalten, da er impliziert, dass es einen Übergang von einem besseren zu einem schlechteren Zustand geben muss. Aus diesem Grunde soll zunächst die Geschichte des Dekadenzbegriffes im Mittelpunkt stehen.

Der Begriff der Dekadenz wurde ursprünglich im Zusammenhang mit dem Untergang des römischen Imperiums verwendet. Im Zusammenbruch der von Rom regierten Welt sah man auch den Niedergang bestimmter politischer, kultureller und gesellschaftlicher Errungenschaften, der sich vorher durch unterschiedliche Zeichen angekündigt zu haben schien.

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Das Phänomen der Niedergangsstimmung lässt sich […] bereits bei zahlreichen Schriftstellern des antiken Rom nachweisen […], die im moralischen und politischen Verfall des Weltreiches erste Anzeichen für dessen späteren Untergang erkannten und ihre apokalyptischen Vorstellungen in prophetische Worte zu fassen verstanden.5

Auch im weiteren Verlauf der Geschichte meinte man einen immer wiederkehrenden Ablauf zu erkennen, der sich zyklusartig aus Aufschwung und Verfall zusammensetzt.

[…] zahllose […] historische Ereignisse oder Entwicklungen lieferten im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Anregungen zur Beschreibung eines feststehenden Gegensatzpaares, nämlich der vom Untergang bedrohten Gegenwart im Vergleich zu einer in der Vergangenheit oder im Jenseits liegenden vollkommenen Welt.6

Montesquieu sah im 18. Jahrhundert erstmalig den Staat als Verbindung von politischem und wirtschaftlichem Gefüge und moralisch-gesellschaftlichen Vorstellungen. Den Grund für den Untergang von Staaten führte er am Beispiel des antiken Rom auf enorme Gebietsexpansion und die Aufgabe grundlegender Prinzipien zurück. Rousseau sah dagegen das Phänomen des Verfalls als zeitgenössisches Problem. Er machte die fortschreitende Zivilisation und den technischen Fortschritt für die aus seiner Sicht degenerativen Tendenzen verantwortlich.

Rousseaus Plädoyer für mehr Innerlichkeit und subjektive Gefühle entgegen dem der reinen Ratio verschriebenen Fortschrittsglauben lieferte einen ersten Ansatzpunkt zu vergleichbaren Interpretationen hundert Jahre nach seinem Tod.7

Als Wegbereiter für die literarische Dekadenz gilt der französische Symbolist Charles Baudelaire, da er der Dekadenz eine weitere Bedeutungsnuance zuschrieb. Er bewertete die Sensibilisierung der menschlichen Nerven im Zuge des Degenerationsprozesses als positiv für die Kunst.

Die Dekadenz als literarische Strömung entwickelte sich etwa ab den 1890er Jahren und wurde gegen 1910 vom Expressionismus abgelöst. Im folgenden Abschnitt soll geklärt werden, warum die Dekadenzliteratur gerade zu dieser Zeit ihren Höhepunkt erlebte.

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2.2 Historischer Kontext der Dekadenz

Da es in dieser Arbeit um die Dekadenz in Thomas Manns Tod in Venedig gehen soll, werden sich die Ausführungen zum historischen Hintergrund hauptsächlich auf die deutschsprachigen Länder konzentrieren. Die politische und wirtschaftliche Lage in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts kann als relativ instabil und unsicher beschrieben werden. 1871 wurde nach dem Sieg im deutsch-französischen Krieg das Deutsche Reich gegründet. „Durch den Sieg über Frankreich und die Reichsgründung schickte sich Deutschland unter Führung Bismarcks an, eine europäische Großmacht zu werden.“8 Aus Furcht vor einer weiteren Konfrontation mit Frankreich ging Bismarck Bündnisse mit anderen europäischen Staaten ein. So legte er den Grundstein für das komplizierte Bündnissystem, das 1914 zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte. Auch innenpolitisch und gesellschaftlich waren die Verhältnisse von entscheidenden Änderungen betroffen.

Gesellschaft und Wirtschaft wurden zu Ende des Jahrhunderts in den betreffenden Ländern durch die aufkommende […] Industrialisierung und der sich daraus ergebenden Konsequenz des ´Massenzeitalters` bestimmt, […].9

Der bürgerlich-liberale Individualismus wurde von „sozial- und wirtschaftspolitischen Korporationsbildungen“10 abgelöst. Dieser Trend ist wichtig für die Dekadenz, da die meisten Autoren, die dieser Richtung zugerechnet werden, adliger oder großbürgerlicher Herkunft waren und somit von diesem Wandel betroffen waren.

Die literarische Intelligenz, d.h. auch die Vertreter der literarischen Dekadenz, stammten meist aus dem alten Land- bzw. Stadtadel […] in seiner Verbindung mit dem Großbürgertum und aus dem ebenfalls sozial zurückgedrängten Bildungsbürgertum […].11

Den Vertretern der Dekadenz fehlte der ansonsten vorherrschende Fortschrittsglaube und „ohne eine Möglichkeit, das (traditionsverwurzelte) seelisch-spirituelle Lebensbedürfnis zu befriedigen“12, mussten sie erleben, dass ihre Vorstellungen vom Leben überholt waren.

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und 1900 gehörten“13. Die Bevölkerungszahlen nahmen kontinuierlich zu und die Industrialisierung hatte zu völlig neuen Arbeits- und Lebensbedingungen geführt. In den wachsenden Großstädten entstand die soziale Schicht des Proletariats. In diesem Zusammenhang kann der literarische Naturalismus genannt werden, der die neu entstehenden Probleme ansprach und kritisierte. Die Autoren der Dekadenz dagegen waren oft dem Vorwurf des Eskapismus ausgesetzt, da man ihnen vorhielt vor den sozialen Problemen in die Kunst mit rein ästhetischem Anspruch zu fliehen. Wichtig im Kontext der Dekadenz ist also das Entstehen einer Massengesellschaft im Zuge des rasanten technischen Fortschritts.

Ein Blick auf die philosophischen Strömungen am Ende des 19. Jahrhunderts ist interessant zum Verständnis für das zeitgenössische Umfeld der Dekadenz. Die bedeutendsten Namen sind in diesem Zusammenhang Schopenhauer, Nietzsche und Mach. Das Weltbild Arthur Schopenhauers, das in seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung zusammengefasst wird, ist von Pessimismus geprägt. Seiner Ansicht nach leidet der moderne Mensch unter einer Entfremdung von der Welt. Er ist gefangen in einem ewigen Willen etwas Unmögliches zu erreichen.

Alle Lebenserscheinungen werden durch den e i n e n Willen bestimmt, der als ein rastloses Über-Sich-Hinausgehen, als ein Wille zum Leben von Individuation zu Individuation eilt, ohne jemals befriedigt werden zu können.14

Das Leben ist demnach durch sinnloses Streben oder Langeweile gekennzeichnet. „Damit zeichnet Schopenhauer die Passivität vor“15, die „durch ein Leben in der Psyche ersetzt wird“16. Der wichtigste Kritiker der Dekadenz war Friedrich Nietzsche, der in Der Fall Wagner die Musik Richard Wagners aufgrund seiner verästelten Melodien kritisierte. „About no other subject was Nietzsche as sure of his unique expertise as about decadence.”17 Nietzsche beklagt die Hinfälligkeit und die Verfallserscheinungen, sieht in der Dekadenz aber auch eine gewisse Notwendigkeit, da er das menschliche Dasein in einem Kreislauf von Zerstörung und Neuerschaffen betrachtet.

Nietzsche nimmt also hinsichtlich möglicher Beziehungen zwischen literarischer Dekadenz und zeitgenössischer Philosophie eine Sonderstellung ein, insofern als er die Dekadenz eigens

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thematisiert, wenngleich in einem umfassenderen Sinne verstanden, und gegen sie polemisiert.18

Bei Nietzsche lässt sich auch die für die Dekadenz typische Sprachskepsis finden, die beispielsweise im Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal zum Ausdruck kommt. Ernst Mach bringt naturwissenschaftliche und philosophisch-literarische Denkschulen zusammen. Er sieht das Ich bzw. die menschliche Psyche zusammengesetzt aus bewussten und unbewussten Empfindungen. Nach Machs Theorie kann es keine wirkliche Erkenntnis geben, „da sich das Subjekt kein Objekt gegenüberstellt, sondern sich ihm anpasst und mit ihm verschmilzt“19. Wichtig für die Dekadenz ist in diesem Kontext, dass der körperliche und der seelische Verfall in engem Zusammenhang stehen. Außerdem können noch die Theorien Sigmund Freuds genannt werden, die die zunehmende Sensibilisierung und Individualisierung der Zeit um 1900 widerspiegeln. Elemente von Freuds Traumdeutung lassen sich beispielsweise im Werk von Arthur Schnitzler finden.

Im weiteren Verlauf sollen nun die genannten Merkmale der Dekadenz auf die Literatur konkreter übertragen werden. Dabei geht es darum Motive zu finden, die in literarischen Werken auf eine Zuordnung zur Dekadenz schließen lassen.

2.3 Literarische Motive der Dekadenz

Um Dekadenz-Motive in Thomas Manns Der Tod in Venedig nachweisen zu können, müssen zunächst allgemein literarische Motive vorgestellt werden, die eine Zuordnung zur dekadenten Literatur erlauben. Das Hauptmotiv der Dekadenz ist die Darstellung des Verfalls, der sich an verschiedenen Anzeichen erkennen lässt. Einhergehend mit den Verfallsmomenten lässt sich eine sehr starke Betonung des Ästhetischen feststellen.

Verfall in der Literatur lässt sich häufig an beschriebenen Personen oder Personengruppen festmachen. Diese werden als kränkliche, niedergeschlagene, müde oder in negativer Stimmung befindliche Menschen oder Gruppen dargestellt. Physische oder psychische Krankheit kann somit als dekadentes Motiv aufgefasst werden. Damit muss nicht eine akute Krankheit gemeint sein, sondern ebenso eine ´schwache` Konstitution. So wird beispielsweise Hanno Buddenbrook in Thomas Manns Buddenbrooks als immer kränkelndes Kind dargestellt, bei dem man sich nicht vorstellen kann, dass er im Stande ist das Geschäft der Familie weiterzuführen.

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Weinhold 1977:234

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Allerdings lässt sich an der Person des Hanno eine weitere typische Tendenz feststellen, nämlich der Drang zur Kunst, die in seinem Klavierspiel zum Ausdruck kommt.

Künstler und ihr Schaffen stehen häufig im Mittelpunkt der Dekadenzliteratur. Als Beispiel kann der Roman Der Weg ins Freie von Arthur Schnitzler genannt werden, in dem der Komponist Georg von Wegenthin dabei begleitet wird, wie er sich lange Zeit erfolglos bemüht eine eigene Oper zu erschaffen. Durch die den Verfall begleitende Sensibilisierung der Nerven ergibt sich ein stärkerer Drang zu ästhetischem Genuss und Verständnis. Daher spielen künstlerische Aspekte eine große Rolle und der Typ des Künstlers ist sehr wichtig für die Dekadenzliteratur.

Die Verwendung bestimmter Typen ist ein weiteres Merkmal für die Literatur des fin de siècle. Häufig anzutreffen sind, neben dem bereits genannten Künstler, der »ennui«, der keiner wirklichen Beschäftigung nachgeht bzw. nachgehen muss und sein Leben mit anderen Dingen füllen muss. Der so genannte Dandy pflegt einen ähnlichen Lebenswandel, der im Nichtstun und der Verführung junger Frauen besteht. Ein Prototyp des Dandys ist Schnitzlers Anatol, der sich in dem gleichnamigen Einakterzyklus die ganze Zeit mit unterschiedlichen Frauen vergnügt, ohne dabei glücklich zu werden. Das Befinden der geschilderten Figuren hängt oft von Stimmungen in bestimmten Räumen oder an bestimmten Orten zusammen, die häufig durch Farben charakterisiert werden.

Bisher wurden vor allem Motive genannt, die sich auf Personen beziehen. Doch auch die Schilderung von Orten und Schauplätzen trägt zur dekadenten fin de siècle-Stimmung bei. Städte sind oft im Verfall begriffen, werden aber dennoch nicht als hässlich beschrieben. Bei Naturschilderungen lassen sich häufig Herbstmotive finden oder die Natur erscheint bedrohlich oder ebenso ´müde` wie die Figuren. Die sensibilisierten »Decadents« nehmen diese Atmosphäre auf und reagieren entsprechend. Dekadente Figuren finden sich in einer als chaotisch empfundenen Wirklichkeit wieder, in der sie sich nicht wieder finden können und sich daher von ihr entfremden.

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3. Motive der Dekadenz in Der Tod in Venedig

Die für die Dekadenz wichtigen Motive wurden herausgearbeitet und sollen nun für Thomas Manns Der Tod in Venedig nachgewiesen werden. Dekadenz-Motivik spielt eine wichtige Rolle für die zunächst 1912 als Serie in dem Magazin Die Neue Rundschau veröffentlichte Novelle. Schon der Titel legt nahe, dass der Text das Ende eines Lebens thematisieren wird, also ein zentrales Motiv der Dekadenz im Mittelpunkt zu stehen scheint. „[…] Tod in Venedig shows Aschenbach´s social and emotional decline […].”20 Die Nennung von Venedig lässt vermuten, dass die Stadt den Schauplatz der Erzählung bildet und weckt beim Leser unter Umständen bestimmte Assoziationen. So soll die Analyse auch mit der Untersuchung der Ortsschilderungen beginnen, da sie die Grundlage für die Dekadenz-Atmosphäre darstellen.

3.1 Ortsschilderungen

Die Stimmung Aschenbachs ist stark abhängig von den Orten, an denen er sich befindet. Zu Beginn ist er in München, wo er während eines Spaziergangs den Drang verspürt die Stadt zu verlassen. Seine Reise nach Venedig bringt ihn an einen Ort, der Stark vom Verfall geprägt ist, wie die Beschreibungen der Stadt verdeutlichen. Um die Reise Aschenbachs nachzuvollziehen, wird zunächst München als Ausgangspunkt der Handlung im Mittelpunkt stehen, bevor der Schauplatz Venedig auf Dekadenzmotive untersucht wird.

3.1.1 München

Die Anfangspassage, die Gustav von Aschenbach in seiner Heimat München zeigt, gibt eine Ahnung vom Ende des Protagonisten. München erscheint, obwohl offensichtlich Frühling ist, herbstlich und müde. „Der Englische Garten, obgleich nur erst zart belaubt, war dumpfig wie im August […].“21 Aschenbach spaziert bezeichnenderweise an einem Friedhof vorbei, der als Vorausdeutung für seinen späteren Tod gesehen werden kann. Die Beschreibung des Münchener Friedhofes ist geprägt von Abschied und Regungslosigkeit.

Zufällig fand er den Halteplatz und seine Umgebung von Menschen leer. Weder auf der gepflasterten Ungererstraße, deren Schienengeleise sich einsam gleißend gegen Schwabing erstreckten, noch auf der Föhringer Chaussee war ein Fuhrwerk zu sehen; hinter den Zäunen

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Euchner 2005:197

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der Steinmetzereien, wo zu Kauf stehende Kreuze, Gedächtnistafeln und Monumente ein zweites, unbehaustes Gräberfeld bildeten, regte sich nichts, und das byzantinische Bauwerk der Aussegnungshalle gegenüber lag schweigend im Abglanz des scheidenden Tages. (8)

Der Friedhof weist als Zeichen eindeutig auf das Todesmotiv der Dekadenz hin, zumal Aschenbach „sich müde fühlte“ (7) und das Wetter ebenfalls zu der düsteren Atmosphäre beiträgt. Schon hier findet sich die erste Anspielung auf die griechische Mythologie in dem „byzantinischen Bauwerk“ (8). Durch den Rückgriff auf die Antike erhält die Szene den Anstrich von längst Vergangenem und Ewigem. Zudem wird ein erster Hinweis auf das spätere antike Schönheitsideal, mit dem Tadzio beschrieben wird, gegeben.

Auch die Natur scheint im Verfallsprozess mit einbegriffen zu sein. So befindet sich die Hauptfigur in einem Szenario mit „sinkender Sonne“ (7) und befürchtet, dass „über Föhring Gewitter drohte“ (7). Sogar die Sonne als scheinbar einzige Lichtquelle in dieser Szene befindet sich im Sinken und vermittelt somit ein Bild der Vergänglichkeit. In dieser Umgebung nimmt Gustav von Aschenbach den Fremden wahr, der ihm bedrohlich vorkommt und in ihm „eine Art schweifender Unruhe, ein jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne“ (9) weckt. Ein Tagtraum von einer „Art Urweltbildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen“ (10) überfällt ihn, der als Vorzeichen für die spätere Cholera in Venedig gesehen werden kann, da sowohl der im Traum vorkommende Tiger als auch die Krankheit aus Asien kommen. Nach diesen verwirrenden Gedanken geht der Schriftsteller weiter an den „Zäunen der Grabsteinmetzereien“ (10) entlang. Das Todesmotiv repräsentiert durch den Friedhof bildet also weiterhin den Hintergrund. Währenddessen wird ihm klar, dass er München verlassen wird, obwohl das unerledigte Arbeit mit sich bringt. Der Lärm der ankommenden Straßenbahn am Schluss des ersten Kapitels symbolisiert das Ende seiner Wanderung durch die stille, erstarrte und versunkene Friedhofsumgebung, die seinen Entschluss sich auf Reisen zu begeben hervorgebracht hat.

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Aschenbach mit seinem Entschluss eine Reise anzutreten, nicht nur seinen Abschied von München vollzieht.

3.1.2 Venedig

Die erste Station Gustavs von Aschenbach auf seiner Reise ist die Stadt Pola, von der aus er auf eine Insel in der Adria überschifft, auf der er sich aber schnell unwohl fühlt.

Allein Regen und schwere Luft, eine kleinweltliche, geschlossene österreichische Hotelgesellschaft und der Mangel jenes ruhevoll innigen Verhältnisses zum Meere, das nur ein sanfter, sandiger Strand gewährt, verdrossen ihn, ließen ihn nicht das Bewußtsein gewinnen, den Ort seiner Bestimmung gefunden zu haben; […]. (20)

Er begibt sich wieder in den „Kriegshafen“ (21) Polas zurück, „um sogleich […] das feuchte Verdeck eines Schiffes zu besteigen“ (21). Die Tatsache, dass Pola als Kriegshafen bezeichnet wird, fügt sich ebenfalls in das dekadente Stimmungsbild ein, da indirekt Tod und Gewalt angesprochen werden. Zudem ist es ein Hinweis auf die gespannte politische Situation vor dem Ersten Weltkrieg. Von seiner Zwischenstation Pola aus reist er schnell weiter in Richtung Venedig.

Seine Ankunft in Venedig gestaltet sich anders als gedacht, auch hier empfängt ihn ein düsteres, niederdrückendes Ambiente, obwohl die Schönheit der Stadt nicht zu übersehen ist.

So sah er ihn wieder, den erstaunlichsten Landungsplatz, jene blendende Komposition phantastischen Bauwerks, welche die Republik den ehrfürchtigen Blicken nahender Seefahrer entgegenstellte: […]. (25)

Es ist nicht sein erster Besuch; beim letzten Mal musste er die Stadt verlassen, da ihm das Klima nicht bekommen war. „He has visited this history-saturated city many times, but this journey will be his final one.”22 Interessant ist die Anziehungskraft, die die Stadt auf Aschenbach ausübt, während sie gleichzeitig durch eine unheimlich-düstere Atmosphäre geprägt ist. Nach seiner Ankunft besteigt er eines der berühmten Kennzeichen der Stadt, eine venezianische Gondel, die ein wichtiges Argument zur Zuordnung der Novelle zur Dekadenzliteratur darstellt. Das für Venedig typische Fahrzeug erinnert Aschenbach an einen Sarg und lässt ihn die Fahrt mit einer unguten Ahnung antreten.

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Das seltsame Fahrzeug, aus balladesken Zeiten ganz unverändert überkommen und so eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge es sind, - es erinnert an lautlose und verbrecherische Abenteuer in plätschernder Nacht, es erinnert noch mehr an den Tod selbst, an Bahre und düsteres Begängnis und letzte, schweigsame Fahrt. (26)

Im weiteren Verlauf der Handlung wird die Gondel quasi tatsächlich zu seiner Bahre in den Tod. Schließlich wird die Rückfahrt zum Hotel über die venezianischen Kanäle zu einem „beschämende[n], komisch-traumartige[n] Abenteuer“ (47). Ironischerweise wird sein Leichnam höchstwahrscheinlich später mit einer Gondel abtransportiert. Somit wird das venezianische Fahrzeug wirklich zum Sarg. In Zusammenhang mit der Bedeutung der griechischen Mythologie kann außerdem eine Anspielung auf den Fluss Hades festgestellt werden, den man laut mythologischem Verständnis nach seinem Tod überqueren musste, um in die Unterwelt zu gelangen. Zudem korrespondiert die Beschaffenheit der Gondel mit seiner persönlichen Befindlichkeit, die von zunehmender Schwäche und Müdigkeit geprägt ist.

Und hat man bemerkt, daß der Sitz einer solchen Barke, dieser sarkschwarz lackierte, mattschwarz gepolsterte Armstuhl, der weichste, üppigste, der erschlaffendste Sitz von der Welt ist? (26)

Als Symbol für Venedig weltbekannt weisen die Gondeln auf das Todesmotiv des Textes hin. „At the cemetery and in the gondola, though, such symbols connote the antithesis of life and death […].“23 Die Gondeln können also als Hinweis auf Aschenbachs Tod gelesen werden, der sich auch in den weiteren Beschreibungen Venedigs erahnen lässt.

Whereas ships and boats generally represent a voyage through life, in Aschenbach´s case, the ship and the gondola do not carry him to the harbour of eternal life […], but rather to the realm of the dead.24

Im Sinne der Dekadenz können die Gondeln als Erinnerung an den drohenden Tod gesehen werden, der die Stadt heimsuchen wird, während die Menschen unwissend die Schönheit Venedigs genießen. Die ständigen Hinweise des Erzählers auf die Gondeln können als Beleg dafür gesehen werden, dass sie wichtig sind für das Verständnis der Novelle. „By repeating them, Mann intensifies their effect.“25

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Venedig scheint von zwei Aspekten geprägt zu sein; zum einen von der unterschwellig immer vorhandenen Krankheit, zum anderen von ihrer Undurchsichtigkeit, hervorgerufen durch die spezielle Architektur. Passend zum Charakter der Figur Aschenbachs verhält sich auch das Flair Venedigs. „The Venetian lagoon, Venetian politics, and Venice itself, […], correspond to Aschenbach´s art, life, and essence.”26 Die bedrohliche Seuche, die die Stadt langsam einzunehmen scheint, wird hauptsächlich durch Geruchswahrnehmungen angedeutet und scheint aus dem undurchsichtigen Gewirr der Gässchen und Kanäle zu stammen. Häufig nimmt Gustav von Aschenbach „den fauligen Geruch der Lagune“ (35) wahr, der das unheimliche Zeichen der sich verbreitende Krankheit ist.27 Dadurch dass die Cholera nur durch Geruchsandeutungen bemerkbar ist, wird die Unsichtbarkeit und damit die Gefahr unterstrichen. Nach Mach können körperliche und geistige Gefühle nicht mehr getrennt werden. Dafür ist die Geruchsempfindung Aschenbachs ein gutes Beispiel, da er den Geruch bewusst wahrnimmt, das dadurch ausgelöste Unbehagen aber nicht rational deuten kann, sondern nur eine unbestimmte Unruhe bei sich feststellt. Angezogen durch die Schönheit Tadzios verliert sich Aschenbach also immer mehr in „der kranken Stadt“ (82). Venedigs Zweideutigkeit, einer „Mischung von Glanz und Sordidität“28 verführt Aschenbach und besiegelt sein Schicksal. Die Stadt ist „von schöner Fassade und dahinter lauerndem dunklen Geheimnis, wie sie den inneren Vorgängen Aschenbachs entsprechen“29. Für Aschenbach ist eine Reise zum Ursprung der Krankheit in Asien nicht nötig, „um sich sein Schicksal zu erfüllen“30

Außerdem erfährt die bedrohliche Situation, in der sich die Stadt befindet, eine Steigerung, da Aschenbach immer wieder durch das undurchsichtige Gewirr „des Labyrinths“ (62) irrt. Venedig scheint in unendlichen kleinen Winkeln verschachtelt, die der Protagonist in seiner zunehmenden Schwäche nicht mehr durchschaut.

Auf den Spuren des Schönen hatte Aschenbach sich eines Nachmittags in das innere Gewirr der kranken Stadt vertieft. Mit versagendem Ortssinn, da die Gäßchen, Gewässer, Brücken und Plätzchen des Labyrinthes zu sehr einander gleichen, […]. (82)

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In Venedig hat die Cholera anscheinend den idealen Platz für ihre Ausbreitung gefunden. So scheint es „als ob die Seuche eine Neubelebung ihrer Kräfte erfahren, als ob die Tenazität und Fruchtbarkeit ihrer Erreger sich verdoppelte hätte“ (74). Zudem geht mit dem äußerlichen auch der moralische Niedergang einher.

[…] und die gewerbsmäßige Liederlichkeit nahm aufdringliche und ausschweifende Formen an, wie sie sonst hier nicht bekannt und nur im Süden des Landes und im Orient zu Hause gewesen waren. (74)

Dennoch ziehen gerade der Verfall und der über der Stadt schwebende Tod Aschenbach magisch an. „Nur dieser Ort verzauberte ihn, entspannte sein Wollen, machte ihn glücklich.“ (50) Typisch für das Zusammenspiel der dekadenten Motive ist die immer wieder durchscheinende Schönheit der norditalienischen Stadt, die die Krankheit und die Gefahr überdeckt.

Nicht nur die Stadt an sich, sondern auch der Strand und das Meer üben nennenswerten Einfluss auf Aschenbach aus. Er fühlt sich vom Meer angezogen, auch wenn er weiß, dass es ihn mit dem „verführerischen Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts“ gefährdet. „The fact that Aschenbach mistakes the boundless and undivided for nothing is characteristic of him, […].“31 Das Meer, das Aschenbach an das Nichts erinnert, kann im Sinne der Dekadenzliteratur als Verbindung zum Nihilismus angesehen werden.

Für den Dekadenten erweist sich sowohl eine ideelle als auch eine sensuell-faktische Weltauslegung als unzulänglich; er existiert also, wie es scheint, innerhalb eines vollständigen Nihilismus.32

Der Strand, an dem Aschenbach sitzt und sowohl das Meer als auch Tadzio beobachtet, steht für die neu gewonnene Freiheit, die er sich nimmt, um Ruhe und Muße nachzugehen. Somit unterstreicht das von ihm geliebte und gefürchtete Meer seine Entwicklung in Richtung Verfall, sowohl körperlich als auch geistig. Bezeichnenderweise tritt der physische Tod am Ende am Strand ein.

Man kann also festhalten, dass der Schauplatz Venedig erheblich zu der dekadenten fin de siècle-Stimmung beiträgt und wichtige Motive der Dekadenz spendet. Schon München als Ausgangspunkt der Handlung kreiert eine von Verfall geprägte Atmosphäre. Das bestimmende Motiv ist die Krankheit der Stadt Venedig,

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Euchner 2005:201

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in der sich Aschenbach aufgrund seiner in München auftretenden, unbestimmten Reiselust befindet. Nun ist es an der Zeit die Person Aschenbachs in diesem Zusammenhang zu analysieren und auch die weiteren Figuren in die Betrachtung mit einzubeziehen.

3.2 Figuren

Wie bereits vorher bemerkt, wird Dekadenz oft an einzelnen Figuren festgemacht. Diese sind demnach für die Analyse relativ entscheidend, gerade bei dem hier vorliegenden Text ist die Handlung vom Charakter des Protagonisten geprägt. Dekadente Literatur ist bestimmt durch die Tendenz „vom Dinglichen weg zu einer individualistischeren Lebenshaltung“33. Daher treten häufig Motive wie Krankheit und körperliche Schwäche bei den Figuren auf. Auch Gustav von Aschenbach zeigt im Verlauf der Novelle immer mehr Anzeichen von Krankheit und Verfall, an denen er letztendlich stirbt. Aber auch Tadzio und die an wichtigen Stellen auftretenden ´Boten`, die auf unterschiedliche Weise vor der tödlichen Krankheit warnen, die Venedig befallen hat, sind mit Dekadenz-Motiven belegt. Aus diesem Grunde wird zunächst die Hauptfigur Aschenbach im Mittelpunkt stehen, bevor die übrigen Charaktere analysiert werden.

3.2.1 Gustav von Aschenbach

Im folgenden Abschnitt soll geklärt werden, inwieweit Gustav von Aschenbach als „textbook decadent“34 verstanden werden kann. Dabei sollen sein sich veränderndes Verhalten als Künstler und seine körperlichen Verfallserscheinungen als Parameter dienen. Das erste Kapitel zeigt Aschenbach in seiner gewohnten Umgebung in München, gibt Aufschlüsse über seine aktuelle Situation und legt die Antriebe für seine Abreise dar. Für die Hintergründe zu seiner Person ist besonders das zweite Kapitel von Belang, da dort seine Herkunft und sein bisheriges Leben zusammengefasst werden. Ab dem dritten Kapitel kann man sein Schicksal in Venedig und die Wirkung der Stadt auf Aschenbach mitverfolgen. Die wichtigsten Tendenzen, die ihn als Protagonisten einer Dekadenznovelle klassifizieren, sind sein Künstlertum und seine zunehmende Müdigkeit, die von einer scheinbar immer da gewesenen körperlichen Schwäche begleitet werden. So soll zunächst seine

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Kunz 1997:50

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Künstler-Persönlichkeit im Mittelpunkt stehen, bevor seine wachsende körperliche und psychische Schwäche in Bezug zur Dekadenz gesetzt werden sollen.

3.2.1.1 Der Künstler

Schon zu Beginn der Novelle wird deutlich, dass Gustav von Aschenbach an einem entscheidenden Punkt in seinem Leben angelangt ist. Sein heimatliches Umfeld und seine alltäglichen Beschäftigungen scheinen zu einer nicht mehr erträglichen Ermüdung geführt zu haben.

Zu beschäftigt mit den Aufgaben, welche sein Ich und die europäische Seele ihm stellten, zu belastet von der Verpflichtung zur Produktion, der Zerstreuung zu abgeneigt, um zum Liebhaber der bunten Außenwelt zu taugen, […]. (10)

Hinzu kommen Zweifel an seinem künstlerischen Schaffen, das sein Leben bisher bestimmt hat. Die Tatsache, dass Aschenbach ein Künstler ist, trägt wesentlich zu seiner Zuordnung als literarische Figur der Dekadenz bei, denn der Künstler gilt als Prototyp des Décadents. Dekadente Strömungen decken nicht nur den Bereich des Verfalls ab, sondern man ist „berechtigt, Dekadenz zugleich mit Aszendenz zu verbinden“35, verstanden als besonders produktives künstlerisches Schaffen. Seine bisherige Art zu arbeiten entspricht allerdings nicht der dekadenten Lebensführung. Schließlich wird gerade im zweiten Kapitel deutlich, dass er von einer starken Disziplin getrieben wird, die man seiner väterlichen Herkunft zuschreiben kann. Dennoch sieht er sich immer mehr konfrontiert mit einer völlig anderen Auffassung von Kunst, nämlich dem

[…] sich täglich erneuernden Kampf zwischen seinem zähen und stolzen, so oft erprobten Willen und dieser wachsenden Müdigkeit, von der niemand wissen und die das Produkt auf keine Weise, durch kein Anzeichen des Versagens und der Laßheit verraten durfte. (11)

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Empfinden charakterisiert auch seine Bewunderung für Tadzio. „Das Kunstwollen hat Charakter und Benehmen bis ins Innerste geformt.“38 Er vollzieht also in seinem Schaffen eine Wendung vom diszipliniert auf das Ergebnis längerfristig hinarbeitenden Wirken zum leidenschaftlichen Ausdruck seiner Gefühle. Vielmehr soll „der Augenblick […] zeitenthobene Totalität gewinnen“39. Nicht mehr das auf das Papier gebrachte Werk zählt, sondern seine Empfindungen werden zu seinem künstlerischen Ziel. War er sonst „uniquely unaware that there is more to life than work“40, stellt Aschenbach das genussvolle Leben im Laufe der Handlung immer mehr in den Mittelpunkt, wobei der Inhalt dieses Daseins die Ästhetik der Kunst ist.

[…] an die Stelle einer Aktivität nach außen tritt eine Aktivität nach Innen, die sich in der fortwährenden Stimulierung seelischer Regungen und in der Konstruktion der fiktiven Gegenwelt äußert.41

Mit der Länge seines Venedig-Aufenthaltes wächst auch seine Fähigkeit bzw. seine Schwäche Muße zu genießen und sich der Kunst hinzugeben ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu bekommen. So ist sein Drang zur Selbstdisziplin seit der Abreise aus München verloren gegangen.

Wann immer und wo es galt, zu feiern, der Ruhe zu pflegen, sich gute Tage zu machen, verlangte ihn bald – und namentlich in jüngeren Jahren war dies so gewesen – mit Unruhe und Widerwillen zurück in die hohe Mühsal, den heilig nüchternen Dienst seines Alltags. (50)

Statt sich wie Zeit seines Lebens zur Arbeit zu zwingen, gibt er seinen Wünschen nach, die in Ruhe und der Betrachtung von Tadzio bestehen.

Er saß dort, der Meister, der würdig gewordene Künstler, […] an dessen Stil die Knaben sich zu bilden angehalten. Wurden, - er saß dort, seine Lider waren geschlossen, […] und seine schlaffen Lippen, […], bildeten einzelne Worte aus dem, was sein halb schlummerndes Hirn an seltsamer Traumlogik hervorbrachte. (83)

(20)

power“43 feststellen kann, sollte man auf der anderen Seite seine neue Art der Betätigung berücksichtigen. Sein Verständnis von Kunst hat sich vom selbstdisziplinierten Schaffen zum exzessiven Schwelgen in ästhetischen Genüssen gewandelt. Man kann also die Dekadenz-Tendenzen des Protagonisten mit „his renewed artistic creativity“44 verbinden.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass Aschenbach durch den Aufenthalt in Venedig sein künstlerisches Schaffen grundlegend ändert vom durch Disziplin geprägten Streben zum leidenschaftlichen. Damit begibt er sich auf den Weg des typisch dekadenten Künstlers. Die andere Tendenz der Dekadenz, nämlich das Abnehmen seiner Kräfte und sein körperlich-gesundheitlicher und moralischer Verfall, sollen in einem weiteren Abschnitt analysiert werden.

3.2.1.2 Aschenbach´s ´Verfall`

Schon der Titel Tod in Venedig lässt ein tragisches Ende des Protagonisten erwarten, eine Vermutung, die bereits in den ersten Sätzen genährt wird. So ist von „zunehmender Abnutzbarkeit seiner Kräfte“ (7) die Rede, die einen täglichen Mittagsschlaf nötig macht. Zudem wird eine permanente Müdigkeit angedeutet (vgl. S. 7), durch die sein künstlerisches Schaffen gebremst wird. Der Konflikt zwischen seiner Kunst und der wachsenden Müdigkeit wird immer belastender im Laufe des Textes.

As the novella progresses, Aschenbach seems more and more like a ghost. He is powerless and pretentious […].45

Die Novelle zeichnet also innerhalb relativ kurzer erzählter Zeit den körperlichen Verfall eines erfolgreichen Künstlers nach, der aber schon sein ganzes Leben die Anlagen zu diesem Niedergang in sich zu tragen scheint.

To begin with, Aschenbach´s childhood, schooldays and perhaps all of his youth were quite abnormal in one sense, however one chooses to define normality. Some physical disability severly limited social contracts, even to the point where the young Aschenbach was too frail for school and was instructed by private tuition.46

(21)

nüchterner Gewissenhaftigkeit mit dunkleren, feurigeren Impulsen“ (13) hat zu seinem speziellen Charakter geführt. Er ist ein Künstler geworden, der sich durch seine starke Disziplin auszeichnet. Auffällig ist, dass im Zusammenhang mit seinen literarischen Werken Adjektive wie stark, straff, mächtig oder ordnend benutzt werden (vgl. S. 13). Seine körperliche Verfassung dagegen wird als „zur ständigen Anspannung nur berufen, nicht eigentlich geboren“ (14) beschrieben. Dem Wissen darum einem Geschlecht anzugehören, „das früh sein Bestes zu geben pflegt und in dem das Können es selten zu Jahren bringt“ (14), begegnet er mit seinem Lieblingswort „Durchhalten“ (14). Er scheint immer gegen den Wunsch nach Muße und Erholung anzukämpfen, die er als Niederlage verstehen müsste. Seine „zarten Schultern“ (14) haben ihn offensichtlich mobilisiert nicht vor seiner körperlichen Konstitution in die Knie gehen zu müssen. Die Erfahrung der Schwäche als Kind hat dazu geführt, dass er seinen körperlichen Zustand nicht über sein Leben bestimmen lassen will. Der Erzähler sieht Aschenbach aber nicht allein mit diesem Problem, sondern führt den Erfolg seiner Arbeit darauf zurück, dass auch das Publikum unter diesen Schwächen zu leiden habe. Demnach ist der Protagonist nur eine extreme Form einer zeitgenössischen Entwicklung. Womöglich ist „Aschenbach´s Germany […] ripe for radical change“47. Allerdings kann das nur für das gehobene Bürgertum gelten, wenn man Aschenbach versteht „as a representative of a bourgeoisie that sought feudal protection against the proletarian it exploited“48.

Schon der Familienname Aschenbach kann als Hinweis auf sein Schicksal gesehen werden werden, „explaining that “Aschenbach“ suggests a fluid carrying ashes”49. Außerdem kann das Bild der Asche als Vorzeichen für seinen späteren Tod gedeutet werden. Fasst man den zweiten Teil des Namens nicht nur als häufige Endung für deutsche Nachnamen auf, kann man darin etwas Flüchtiges, Endloses erkennen, das aber nicht wie ein Fluss kraftvoll fließt. Möglicherweise kann sogar ein Verweis zu den Kanälen Venedigs gezogen werden, die später zu dem fürchterlichen Gestank, einem Anzeichen der Krankheit, beitragen. Außerdem wurde Aschenbach aufgrund seiner schriftstellerischen Leistungen geadelt. Damit kann er der typisch dekadenten Gesellschaftsklasse zugeordnet werden, nämlich dem gehobenen Bürgertum und Adel.

(22)

Trotz seiner körperlichen Schwäche als Kind kann Aschenbach ein Leben ohne Einschränkungen führen.

[…] it should be noted immediately that Aschenbach´s disability was never an extreme […]. […] it has been possible for Aschenbach from his early years onward to slip into the dangerous habit of assuming that his life-style, interests, motives and so on were voluntarily chosen by himself, and not conditioned in large part by his unspecified physical frailty.50

Die Erfahrung von Schwäche hat bei ihm einen Drang zu ständiger Arbeit ausgelöst, der während seines Aufenthaltes in Venedig beständig schwindet. Schon bei seiner Ankunft zeigen sich erste Regungen seine sonstige Disziplin auszuschalten.

Lau angerührt vom Hauch des Scirocco, auf dem nachgiebigen Element in Kissen gelehnt, schloß der Reisende die Augen im Genusse einer so ungewohnten als süßen Lässigkeit. (27)

Der davon ausgehenden Gefahr ist er sich allerdings bewusst, da er sich ermahnt „auf den Vollzug seines Willens ein wenig bedacht“ (27) zu sein. Der Wille im dekadenten Sinne Schopenhauers ist kein Erfolg versprechendes Streben nach einem Ziel mehr, sondern ein Leiden durch den Versuch etwas Unerreichbares zu erlangen. Aschenbachs Zwang seinen am Vortag beschlossenen Willen durchzusetzen und sein in Heimlichkeit freudig aufgenommenes Scheitern repräsentieren den sinnlosen Willen des Menschen.

Bis zu seinem halbherzigen Aufbruchversuch aus Venedig scheint er gegen die Versuchung, sich dem lässigeren, weniger von der Disziplin bestimmten Leben hinzugeben, anzukämpfen.

Er liebte das Meer aus tiefen Gründen: aus dem Ruheverlangen des schwer arbeitenden Künstlers, der von der anspruchsvollen Vielgestalt der Erscheinungen an der Brust des Einfachen, Ungeheueren sich zu bergen begehrt; aus einem verbotenen, seiner Aufgabe gerade entgegengesetzten und eben darum verführerischen Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts. (38)

Er weiß, dass er eigentlich in Venedig bleiben möchte, zwingt sich aber zum letzten Mal in seinem Leben gegen seine inneren Wünsche aufzubegehren und Konsequenz zu bewahren. „Nun musste er fortfahren, zu wollen, was er gestern gewollt hatte.“ (44) Als er den Bahnhof betritt, um Venedig zu verlassen, fühlt er sich „zerissen“ (46) durch den „Streitfall zwischen innerer Neigung und körperlichem Vermögen“ (46). Doch mit

(23)

seiner Rückkehr ins Hotel hat er sich sozusagen seinem Schicksal ergeben und genießt das Leben in vollen Zügen. Den Gedanken sich vor der Krankheit zu schützen oder zu fliehen zieht er nicht in Erwägung. Er lässt „in seliger Muße die Tage verinnen, mühelos, kampflos und ganz nur der Sonne und ihren Festen geweiht“ (50). Damit gibt er sich dem Lebensstil hin, vor dem er sich immer bewahren musste, der ihm aber insgeheim zusprach.

Der wohlige Gleichtakt dieses Daseins hatte ihn schon in seinen Bann gezogen, die weiche und die glänzende Milde dieser Lebensführung ihn rasch berückt. (50)

Mit seiner veränderten Lebensführung geht auch der Niedergang seiner körperlichen Kräfte einher, die ihn immer schneller verlassen. Somit besiegelt er mit der Verlängerung seines Aufenthaltes in Venedig überspitzt gesagt sein eigenes Ende.

Als Aschenbach sich einmal Entspannung gönnt, und der Willenszwang, unter dem er steht, nachläßt, machen sich tiefere, bislang verdrängte Kräfte in ihm frei und nehmen Rache. Mit schrecklicher Schnelligkeit setzt der Verfall ein.51

Immer häufiger sind die Beschreibungen von Aschenbachs körperlichem Zustand mit Begriffen wie schlaff, hängend oder alternd belegt, machen also eine Degeneration deutlich. Seine kaum noch vorhandene Energie verwendet bzw. verschwendet er darauf Tadzio und seiner Familie nachzulaufen. Diese Touren durch die Stadt rauben ihm seine letzte Kraft. Er ist seinen Gefühlen zum ersten Mal in seinem Leben ausgeliefert, da er sie erstmalig zulässt. Das Zusammenspiel aus verworrenen Träumen, die ihn „entnervt, zerrüttet und kraftlos“ (80) zurücklassen, seinem physischen Verfall und seiner immer verzweifelter werdenden Liebe zu Tadzio treibt ihn in den sicheren Tod. Sein Versuch sich durch den Besuch beim Frisör zu verjüngen führt lediglich zu einer Maskierung, die sein rasantes Altern vertuscht. Die extreme Künstlichkeit seiner Maskerade bildet einen weiteren Aspekt der Dekadenz-Motivik in Der Tod in Venedig.

Der dekadente Ästhetizismus kann in diesem Sinne als Künstlichkeit verstanden werden und stellt das Zentrum der Dekadenz dar.52

Als er schließlich seinen finalen Gang zum Strand antritt, fühlt er sich „leidend“ (85) und hat „mit gewissen, nur halb körperlichen Schwindelanfällen zu kämpfen“ (85).

51

Eichner 1961:32

(24)

Sein Herabsinken im Sterben ist Sinnbild und Zusammenfassung seiner Entwicklung in der Novelle.

Die Figur Gustav von Aschenbachs birgt also mit seiner Entwicklung als Künstler sowie seiner schwindenden Gesundheit zwei wichtige Aspekte, die die Zuordnung der Novelle zur Dekadenzliteratur unterstreichen. Sein körperlicher Verfall ist offensichtlich und geht einher mit seiner veränderten Auffassung von Kunst, die von der überlegten Produktion zum leidenschaftlichen Erleben übergeht. Ein wichtiger Aspekt ist dabei das Objekt von Aschenbachs Liebe, der Junge Tadzio, der im nächsten Abschnitt im Mittelpunkt stehen soll.

3.2.2 Tadzio

Tadzio kann sich der Leser nur durch die Augen Aschenbachs nähern, da nur seine Beobachtungen des Jungen geschildert werden. Auch bei ihm lassen sich zahlreiche Motive der Dekadenz auffinden. In seiner Figur verschmelzen ein weiteres Mal die Aspekte Schönheit und Krankheit. „This interplay between love and death is embodied in the figure of Tadzio, […]“53

Die Wirkung Tadzios wird besonders gut in einer Szene deutlich, die sich am Strand abspielt. Aschenbach sitzt eigentlich am Strand, um dort zu arbeiten, verliert sich aber in den Betrachtungen Tadzios.

Aber nach einer Viertelstunde schon fand er es schade, die Situation, die genießenswerteste, die er kannte, so im Geiste zu verlassen und durch gleichgültige Tätigkeit zu versäumen. Er warf das Schreibzeug beiseite, er kehrte zum Meere zurück; und nicht lange, so wandte er, abgelenkt von den Stimmen der Jungend am Sandbau, den Kopf bequem an der Lehne des Stuhles nach rechts, um sich nach dem Treiben und Bleiben des trefflichen Adgio wieder umzutun. (39)

Tadzios Schönheit bringt Aschenbach dazu sich von seiner Arbeit ablenken zu lassen, die bisher immer oberste Priorität in seinem Leben hatte, und sich dem Meer zuzuwenden, von dem Gustav von Aschenbach weiß, dass es eine gefährliche Wirkung auf ihn hat.

Für seinen Bewunderer ist Tadzio bereits in dem Moment, als er ihn zum ersten Mal sieht, „vollkommen schön“ (32). Seine Vollkommenheit steht aber auch in engem Zusammenhang mit seiner körperlichen Schwäche, die Aschenbach häufig anmerkt.

(25)

War er leidend? Denn die Haut seines Gesichtes stach weiß wie Elfenbein gegen das goldige Dunkel der umrahmenden Locken ab. (33)

Er ist nicht „the athletic, well-muscled ideal of male beauty“54, sondern „tending toward the feminine ideal of beauty”55. Seine ausschließlich weiblichen Bezugspersonen scheinen ständig um ihn besorgt zu sein, sorgen sich um ihn und kümmern sich um sein Wohlergehen.

Aber schon schien man besorgt um ihn, schon riefen Frauenstimmen nach ihm von den Hütten, stießen wiederum diesen Namen aus, der den Strand beinahe wie eine Losung beherrschte […]. (41)

Besonders wichtig in diesem Zusammenhang sind seine schlechten Zähne. Laut Freud steht ein Traum von ausfallenden Zähnen für den Tod. Eine Verbindung, die auch Aschenbach in dieser Situation erkennt.

Er hatte jedoch bemerkt, daß Tadzios Zähne nicht recht erfreulich waren: etwas zackig und blaß, ohne den Schmelz der Gesundheit und von eigentümlich spröder Durchsichtigkeit, wie zuweilen bei Bleichsüchtigen. Er ist sehr zart, er ist kränklich, dachte Aschenbach. Er wird wahrscheinlich nicht alt werden. (42)

Der Junge erscheint gerade in Kontrast zu seinem Kameraden Jaschu schwächer, ein Eindruck, der besonders durch den Kampf zwischen den beiden Freunden am Schluss der Novelle entsteht.

Jener Stämmige, im Gürtelanzug und mit schwarzem pomadisiertem Haar, der »Jaschu« gerufen wurde, durch einen Sandwurf ins Auge gereizt und geblendet, zwang Tadzio zum Ringkampf, der rasch mit dem Fall des schwächeren Schönen endete. (86)

In dem Ausdruck „des schwächeren Schönen“ (86) wird die Polarität der Dekadenz klar, der „Fall“ (86) Tadzios weist ebenfalls auf das Verfallsmoment hin. Ebenso wie bei Aschenbach scheint auch der Name des Jungen symbolische Wirkung zu haben, da er „etwas zugleich Süßes und Wildes hatte“ (41). Die Wiederholung der Anmerkungen Aschenbachs zu Tadzios schlechter Gesundheit, wie „bläuliches Geäder“ (52) oder „[…] doch schien er blässer heute als sonst […]“ (60) zeigen, wie diese Tatsache zu der Faszination Gustavs von Aschenbach beiträgt. Die bläulichen Adern weisen auf Tadzios Adel hin und ordnen ihn somit in die gleiche

54

Marson/Hughes 1979:23

(26)

gesellschaftliche Klasse ein wie Aschenbach. Durch seinen Adel und seine offensichtliche körperliche Schwäche wird er zu einer typischen dekadenten Figur.

Tadzio stellt das passive Objekt dar, da er aufgrund der Erzählperspektive immer nur als der Geschilderte auftreten kann. Auf Aschenbachs Verhalten hat er aber eine entscheidende Wirkung und provoziert durch sein schönes, aber auch schwächliches Aussehen einen Wandel in Bezug auf die Künstlernatur seines Beobachters.

Tadzio is the medium by which Aschenbach finally attains awareness of the difference between the beauty of literature and the sensual beauty of living, breathing human beings.56

In ihm treffen sich quasi die Pole der Dekadenz, der Verfall und die Schönheit. Schließlich besteht „der Grundzug dekadenter Lebensweise darin […], die Außenwelt durch […] sinnliche Rezeption zu erfahren“57. Diese Kunstauffassung übernimmt Aschenbach durch die Betrachtung von Tadzios Schönheit. Auch die Passivität von Tadzio in seiner Beziehung zu Aschenbach kann als typisches Dekadenzphänomen verstanden werden. Allerdings kann diese Inaktivität auch angezweifelt werden, da Tadzio einige, kaum bemerkbare Reaktionen gegenüber Aschenbach zeigt. „He is expert in modest dropping and lifting of the eyes.”58 Die Handlungen, die Tadzio nahezu unbemerkt vollzieht, führen also dazu, dass sein Verehrer immer weiter in seiner Bewunderung bestätigt wird.

In diesem Kontext sollte einem weiteren Aspekt der Dekadenz Beachtung geschenkt werden, nämlich dem Zufall. Tadzios Auftauchen wird häufig als zufällig beschrieben als läge ein unsichtbarer Zusammenhang zugrunde, in dem „alles Zufällige bedeutsam wird“59. Beispielsweise erscheint Tadzio an dem Morgen, an dem Gustav von Aschenbach eigentlich abreisen sollte, just in dem Augenblick, als sein Bewunderer den Raum verlassen will, im Speisesaal (vgl. S. 45). Die zufälligen Fügungen scheinen die „endgültige Verstrickung“60 und somit Aschenbachs Tod zu besiegeln.

(27)

des Knaben Rede zur Musik.“ (52) An dieser Stelle kann auch auf die Sprachskepsis der Dekadenz hingewiesen werden, die die Sprache als wichtigstes Kommunikationsmittel in Frage stellte. Schließlich „steht die Dekadenz in der Tradition des europäischen Nihilismus und bildet ihren Höhepunkt“61. Trotz dieser Fremdheit scheint Tadzio mit seiner schwachen Konstitution an Aschenbachs eigene Jugend zu erinnern. Zudem kann seine Jugendlichkeit Aschenbachs Alter kontrastieren.

Aschenbach constantly contrasts Tadzio with himself and tries to assimilate himself to him, as is most obvious in the rejuvenation scene, when he depends on the hotel coiffeur to make him appear younger.62

Tadzio scheint also der Auslöser zu sein für Aschenbachs Wunsch nach Verjüngung, eine Entwicklung, die zu einer Entfremdung von seiner realen Umgebung führt; ebenfalls ein Kennzeichen für Dekadenzliteratur.

Der Dekadente kann nicht mehr im erkennenden und moralisch handelnden Bezug zu Welt und Mitmensch beide als vertrautes Gegenüber erfahren, an denen er im theoretischen, emotionalen und praktischen Austausch seine Persönlichkeit entwickelt, wie es beispielsweise Goethes Wilhelm Meister vergönnt war.63

Aschenbachs „highest degree of estrangement from his environment”64 trifft auf die brutale Realität der Cholera, die schließlich auch zu seinem physischen Tod führt, dem das Ende seines bisher geführten Lebens vorausgeht. Am Schluss erscheint Tadzio „als Hermes psychagogos, Führer der Seelen ins Totenreich“65.

Tadzio ist der entscheidende Auslöser für den Wandel in Aschenbachs Ansichten als Künstler und betont durch seine morbide Schönheit wichtige Aspekte der Dekadenz in der Novelle. Er verkörpert die Polarität von Schönheit und Verfall in der dekadenten Wahrnehmung der Welt. Zudem ist er mit seiner schwächlichen Gesundheit ein Bote des Todes in Der Tod in Venedig. Die anderen Boten, die auftauchen, stehen dagegen eher für die dunkle, hässliche Seite des Sterbens, da sie von Aschenbach als unheimlich und abstoßend beschrieben werden.

(28)

3.2.3 Die ´Boten`

Weitere Träger der Dekadenz sind die scheinbar zufällig auftauchenden Boten, „der Münchener Wanderer, der Gondolier, der Bänkelsänger und andere“66. Gemeinsam haben alle, dass sie in Aschenbach Abneigung und Unbehagen hervorrufen und schon früh auf ein drohendes Unglück hindeuten. Auch wenn Gustav von Aschenbach aus seiner Perspektive den Zusammenhang zwischen den so genannten Boten nicht erkennen kann, sind dem Leser die Hinweise auf die nahende Gefahr klar. Der erste Bote ist der Auslöser für Aschenbachs Reiselust, es ist der Fremde, den er bei seinem Spaziergang in München sieht. Sein Äußeres und seine Fremdheit stoßen ihn ab und provozieren das Verlangen zu verreisen in ihm.

Mochte nun aber das Wanderhafte in der Erscheinung des Fremden auf seine Einbildungskraft gewirkt haben oder sonst irgendein physischer oder seelischer Einfluß im Spiele sein: […]. (9)

Schon hier „lauert […] das nicht Geheure hinter dünner Wand“67. So animiert „der erste der Dionysos- und Todesboten“68 allein durch sein Auftreten Aschenbach zu seiner unheilsvollen Reise, auf der er in dem Mann, bei dem er seine Überfahrt von Pola nach Venedig bezahlen muss, den nächsten Boten trifft. „He is the one who – like Charon – has the power to decide whom he will deliver and who has to stay behind."69

Eine weitere unheimliche Begegnung mit einem falschen Jüngling trifft Aschenbach noch persönlicher, da dieser auf seine spätere künstliche Verjüngung vorausdeutet.

Wandererfiguren und Gangesvision verkörpern das erste Versagen der geistigen Disziplin Aschenbachs, […], der falsche Jüngling an Bord den Verfall des seinerseits noch später auch zur kosmischen Kunst Greifenden.70

Es ist gerade die durch die Maskierung ausgelöste Falschheit, die Aschenbach aufregt. So gelangt man zu der für die Dekadenz wichtigen Künstlichkeit, die der Protagonist durch seine eigene Maskerade am Ende selber erreicht. Symbole wie die rote Krawatte lassen sich in der Verjüngungsszene wieder finden. „He even wears a red tie and a straw hat, just like his annoying model on the ship.”71

(29)

Hinzu kommt die „abscheulich zweideutige Art“ (25), die das Verhalten des vermeintlichen Jungen kennzeichnet. Diese Zweideutigkeit ist ebenfalls Element der Dekadenz, der Verbindung des Schrecklichen mit dem Schönen. Eindeutig abscheulich ist auch das Verhalten des Gondoliers, der Aschenbach zum Hotel fährt und nicht den gewünschten Weg einschlägt. Dieser Mann mit seiner „brutale[n] Physiognomie“ (28), der bezeichnenderweise einen sich auflösenden aus der Form geratenen Hut trägt, passt zu der an einen Sarg erinnernden Gondel.

Deutlich im Zusammenhang mit der Krankheit, die Venedig befallen hat, steht der Sänger, der eines Abends vor dem Hotel auftritt; schließlich trägt er schon ihren Karbolgeruch. Außerdem ist auch sein Auftreten von eigentümlicher Fremdheit geprägt. Aschenbach verortet seine mögliche Herkunft in Neapel, wo die Cholera einen ihrer Ausgangspunkte in Italien gefunden hat. Durch seine falschen Beteuerungen, dass man sich wegen der Krankheit keine Sorgen zu machen brauche, und sein künstlich-unheimliches Auftreten, das mit seiner Zweideutigkeit an den geschminkten Alten auf dem Schiff erinnert, schürt er die Befürchtungen Aschenbachs. Zudem gibt er einen Hinweis auf den dekadenten Hang zum Nihilismus.

In this case, the instruments are the death-implying devices and their application as such can be traced back to the Baroque age, when one of the prevalent themes for poets and painters of that time was the concept of vanitas.72

Nach dem Auftritt der Musiker bekennt Aschenbach für sich selber seine Liebe zu Tadzio und gibt somit seinen bisherigen Lebenswandel endgültig auf.

Die endgültige Wahrheit über die Cholera erfährt Gustav von Aschenbach allerdings nicht von einem der Todesboten, sondern zunächst teilweise von einem „Schwätzer“ (62) beim Frisör und letztendlich in einem Reisebüro von einem im Kontrast zu den anderen Figuren völlig unspektakulärem Engländer. In Folge dessen wird der mittlerweile äußerlich dem unechten Jüngling ähnelnde Aschenbach selber zu einer Art Todesbote, indem er die dramatischen Tatsachen verschweigt.

(30)

4. Fazit

(31)

5. Literaturangaben

5.1 Primärtext

Mann Thomas (2004): Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Frankfurt a.M.

5.2 Sekundärquellen

Bernheimer, Charles (2002): Decadent subjects. the idea of decadence in art, literature, philosophy, and culture of the fin de siècle in Europe. Baltimore Eichner, Hans: Thomas Mann (1961): Eine Einführung in sein Werk. Bern.

Euchner, Maria (2005): “Life, Longing und Liebestod: Richard Wagner in Thomas Mann´s ´Tristan` and ´Tod in Venedig`. In: The Germanic Review. 80; 3, S. 18 –213. Kunz, Ulrike (1997): Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit.: ästhetischer

Realismus in der europäischen Décadenceliteratur um 1900. Hamburg

Marson, E.L./Hughes Kenneth (1979): The Ascetic Artist: Prefigurations in Thomas Mann´s Tod in Venedig. Bern/Frankfurt a.M./Las Vegas

Reed, Terence James (1983): Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Text, Materialien, Kommentar mit den bisher unveröffentlichten Arbeitsnotizen Thomas Manns.

München/Wien

Shookmann, Ellis (2003): Thomas Mann´s Death in Venice: A novella and its critics. Rochester

References

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