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„Warheit kompt doch endlich ans liecht“

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Sara Alma Safije Sheikhi

„Warheit kompt doch endlich ans liecht“

Edition und Kontextualisierung zweier Gedichte aus der Sammlung Geitliche und Weltliche Poemata (1650) von Anna Ovena Hoyer (1584-1655)

Institutionen för moderna språk, tyska Examensarbete på magisternivå

Handledare: Bo Andersson Höstterminen 2020

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English title: „Warheit kompt doch endlich ans liecht“. A transcription and contextualisation of two poems from the collection “Geitliche und Weltliche Poemata“ (1650) by Anna Ovena Hoyer (1584-1655).

Abstract

Through a diplomatic transcription and contextualisation of two poems from Geitliche und Weltliche Poemata“ (1650) by Anna Ovena Hoyer (1584-1655) it is suggested that two contexts are highly relevant and fruitful for understanding the polemical nature of the Early Modern Era. The two examined contexts are anti-clericalism ̶ the negative stance towards Lutheran clergymen ̶ and the conditions for writing as a female in Early Modern times. By offering comments and providing information regarding these two contexts, it is demonstrated how they successfully explain and motivate how a lay uneducated poetess develops rhetorical strategies to express radical criticism of the discourse of Lutheran clergymen. Notably, the authors of the two poems, Werdenhagen and Hoyer, legitimise a morally superior poetess by constructing a feminine authority derived analogously from the story of Martha and Mariam in the Bible. Furthermore, Hoyer uses this claim of being a mouthpiece for godly wisdom to delegitimise the bookly and rational knowledge acquired in the universities by the Lutheran clergymen. By using the politically charged term “der gemeine Mann”, she appeals to the political defeats of the great majority of laymen in the Early Modern Era. In her polemic against the Lutheran clergymen, it is implied that the expected silent subservience of the laymen towards the clergymen is problematic, since the clergymen due to their blind faith in bookly knowledge are neither righteous nor Christian. Thus, it is suggested that the examined pieces of poetry could be understood as radical criticism of the Lutheran social model.

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Inhaltsverzeichnis

1.

Einleitung 1

2.

Fragestellung und Ziel 2

2.1 Fragestellung 2

2.2 Aufbau des Aufsatzes 2

3.

Methodik und Material 3

3.1 Theoretischer Hintergrund 3

3.1.1 Material 3

3.1.2 Die Frühe Neuzeit und Frühneuhochdeutsch 4

3.2 Methodik 5

3.2.1 Kontextualisierung und Auslegung 5

3.2.2 Literaturwissenschaftliche Ausgangspunkte 8

4.

Biographie der Dichterin und frühere Forschungsansätze 9

4.1 Biographie der Dichterin 9

4.2 Die Dichterin und ihre Dichtung in zeitgenössischer und späterer Forschung 11

5.

Editorischer Bericht 14

6.

Transkriptionen 16

6.1 Transkription von An den Chritlichen Leer 16

6.1.1 Erläuterungen zu An den Chritlichen Leer 18

6.2 Transkription von An die Herrn Titultrager 19

6.2.1 Erläuterungen zu An die Herrn Titultrager 27

7. Kontexte 33

7.1 Kontext: Die lutherische Ordnung und der Anti-Klerikalismus 33

7.2 Kontext: Gender und das Schreiben in der Frühen Neuzeit 36

7.2.1 Voraussetzungen des Schreibens in der Frühen Neuzeit 36

7.2.2 Die Fragestellung einer „weiblichen“ Tradition in der Frühen Neuzeit 37

7.2.3 Orte des Schreibens für Frauen in der Frühen Neuzeit 39

8. Kontextualisierung 40

8.1 Die Polemik der Gedichte 40

8.2 Die Errichtung von Autorität und Gender 41

8.3 Der Anti-Klerikalismus und ‚der gemeine Mann‘ 49

8.4 Schlussreflexionen 48

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9. Zusammenfassung 52 Literaturverzeichnis 54 Anhang

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1. Einleitung

Anna Ovena Hoyer (1584-1655) ist eine Dichterin der Frühen Neuzeit, die sich während ihrer langen Lebenszeit mit einer großen Vielfalt von Themen in ihrem Schreiben befasst hat. Die Frühe Neuzeit, und dementsprechend ihre Literatur, ist von gesellschaftlichen Veränderungen und den Nachwirkungen der Reformation geprägt. Diese gesellschaftlichen Veränderungen beziehen sich auch auf die Rolle der Literatur und das Medium des Buchdruckes. In dieser Epoche hat Hoyer lebt und gewirkt. Jedoch gibt es bisjetzt nur wenige Ansätze auf dem Forschungsfeld, die ihre Werke in Bezug auf die Epoche überhaupt behandeln. In dieser Untersuchung werden dementsprechend zwei Gedichte aus der umfangreichsten Sammlung ediert und kontextualisiert. Diese sind das einleitende Widmungsgedicht auf die Poetin von Johann Angelius von Werdenhagen (1581-1652) „An den Chritlichen Leer“ in der

Sammlung Geistliche und Weltliche Poemata (1650) und das Gedicht „An die herrn titultrager“ von Anna Ovena Hoyer aus demselben Werk. Die beiden Gedichte aus dem digitalisierten Exemplar befinden sich im Anhang. In früheren Analysen wird teilweise die geschichtlich unkritische Interpretation von der Dichterin als religiöser Schwärmerin

angenommen.1 Diese Interpretation stammt ursprünglich von der Auffassung, dass Hoyer als Ketzerin bezeichnet werden könnte und ist also daher zu verstehen. Auch wenn nicht zu verneinen ist, dass Hoyers Schreiben von ihrer tiefen Religiosität geprägt ist, gibt es auch andere wichtige Aspekte, die ebenso zu der Forschung beitragen können. Die Frühe Neuzeit, die teilweise eine völlig andere Einstellung zur Religion hatte als heutzutage, fordert

deswegen spezifische Vorkenntnisse, damit die Bedeutung der Religion angemessen verstanden werden kann. Infolgedessen darf die kontextuelle Untersuchung nicht auf den religiösen Aspekt begrenzt werden, sondern soll in einem ideengeschichtlichen

Zusammenhang gesehen werden. In der Kontextualisierung werden zwei Themen besonders hervorgehoben; die Konstruktion von Autorität und der Anti-Klerikalismus.

Hoyer, die den größten Teil ihres Lebens als selbstständige Witwe verbracht hat, war nicht schulisch gebildet, abgesehen von der häuslichen Bildung in ihrer Kindheit in Schleswig- Holstein. Ihre Texte weisen große sprachliche Begabung auf.2 Ihre Dichtung ist jedoch nicht in den klassischen Sprachen, sondern auf Hochdeutsch und Niederdeutsch verfasst worden.

1 Gründe für diese Auffassung werden in Abschnitt 4.2 diskutiert. Siehe auch das Nachwort zu dem Faksimliendruck.

2 Archibald, Brigitte Edith. Anna Owena Hoyers: A View of Practical Living. In Women Writers of the Renaissance and Reformation, Katharina M. Wilson (Hrsg.), 304-326. Athens, Georgia: University of Georgia Press, 1987, 304.

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Außerdem ist die allergrößte Sammlung gedruckter Werke, Hoyers Geitliche und Weltliche Poemata (1650), nicht im damaligen deutschen Gebiet oder in ihrem Exilort Stockholm gedruckt worden, sondern in Amsterdam, einem Ort, der in der frühen Neuzeit als

Schutzraum zensurierter und politisch brisanter Literatur diente. Diese einzigartige Position der Dichterin, als schreibende Witwe im religiösen Exil, wird als Leitfaden der kontextuellen Untersuchung dienen. Demzufolge ist das Ziel und angestrebte Leistung dieser Arbeit

dreifach; sie besteht erstens aus der Ausgabe der ausgewählten Gedichte, zweitens aus einer Untersuchung ihres Kontextes, und drittes aus der kritischen Diskussion der Aktualisierung von Kontexten. In dieser Diskussion wird motiviert, dass gewisse Kontexte, wie

Antiklerikalismus und Autorität, besonders wichtig sind, um den polemischen Charakter der Gedichte hervortreten zu lassen.

2. Fragestellung und Ziel

2.1 Fragestellung

Die Fragestellung dieser Untersuchung lautet: Welche Kontexte sind für die ausgewählten Gedichte relevant? Die Fragestellung wird mithilfe einer Textausgabe zusammen mit Material durchgeführt, das den kontextuellen Zusammenhang betrifft.

Das Ziel dieser Untersuchung ist es zu zeigen, dass die ausgewählten Kontexte des Anti- Klerikalismus und der Voraussetzungen für das weibliche Schreiben der Frühen Neuzeit für das Verständnis der beiden Gedichte wesentlich sind.

2.2 Aufbau des Aufsatzes

Zuerst wird das Material für die Auslegung und Kontextualisierung präsentiert, dann die Begriffe ‚Frühe Neuzeit‘ und ‚Frühneuhochdeutsch‘ erklärt. Danach wird die Methodik des Kontextualisierens diskutiert. Um ein Grundverständnis für die Gedichte zu gewinnen, wird eine Biographie und übersichtliche Darstellung der Dichterin in früherer Literatur vorgelegt.

Darauf folgen der editorische Bericht, die Transkriptionen und die Kommentare. Danach wird die Kontextualisierung durchgeführt. Die Kontexte werden gründlich präsentiert, und führen schließlich zu einer kritischen Diskussion der Texte. Am Schluss wird die

Kontextualisierung kurz zusammengefasst und Vorschläge für kommende Forschung gegeben.

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3. Methodik und Material

3.1 Theoretischer Hintergrund

3.1.1 Material

Die primäre Literatur dieser Untersuchung und die Grundlage für die diplomatische Ausgabe ist das Digitalisat der Sammlung Geitliche und Weltliche Poemata.3 Dazu dient die

Faksimilie-Ausgabe von 1986, mit einem Kommentar von Barbara Becker-Cantarino als Komplement zum benutzten Digitalisat.4 Die zwei Versionen ergänzen einander, indem die Faksimilie-Ausgabe einerseits ein wichtiges Nachwort einhält, und das Digitalisat anderseits lesbarer ist. Beide Werke sind im Netz freigestellt; die beiden Gedichte sind im Anhang abgedruckt. Die Druckgeschichte bleibt recht unerforscht; es ist zum Beispiel nicht

festgestellt worden, wie der Druck finanziert worden ist. Wahrscheinlich wurde er teilweise dadurch ermöglicht, dass der Dreißigjährige Krieg zu Ende war und dass Hoyer, durch den von Königin Maria Eleonora freigestellten Zugang zum Witwengut Sittwick in Stockholm, eine „verbesserte wirtschaftliche Lage“ bekam.5 Jedoch gibt es keine Beweise, dass die Königwitwe Maria Eleonora oder die Königin Christina, die „Sektierer“ auch nicht, finanziell beigetragen haben.6 Es ist aber wahrscheinlich, dass die Gönner*innen Hoyers in Schweden sie unterstützt haben.7

Die Gedichte dieser Edition sind ausgewählt, weil die sich mit der dichterischen Autorität Hoyers befassen. Das erste Gedicht An den chritlichen Leer, ein Widmungsgedicht von Johann Angelius Werdenhagen, bietet es eine intressante Schilderung der Dichterin von einem Zeitgenossen und behandelt explizit die Autorität der Dichterin. Das zweite ausgewählte Gedicht, das von Hoyer selbst verfasst ist, behandelt auch die Autorität der Dichterin, jedoch impliziter als das Widmungsgedicht. Deswegen bieten die zwei Gedichte der Edition komplementäre Beiträge zu dem Bild der Dichterin.

3 Nach dem Erstdruck der Ausgabe (Amsteldam[!]: Ludwig Elzevier d.J., 1650), Exemplar der Herzog August Bibliothek. Die eingeskannten Gedichte, die hier reproduziert werden, befinden sich im Anhang. Der Umfang ist [2] Bl., 304 S : Kupfert., Noten ; 12°; die Digitalisierung von dem der Bibliothek zugehörigen Exemplar wurde durch dünnhaupt digital, Wolfenbüttel : Herzog August Bibliothek, 2008 durchgeführt.

4 Dasselbe Exemplar als Faksimilie wird wiedergefunden in dem 36. Band von Deutschen Neudrucken: Reihe Barock (Hrsg. und Nachwort Barbara Becker Cantarino). Tübingen, Max Niemeyer Verlag, 1986.

5 Nachwort zum Faksimilendruck, 27.

6 In der Frühen Neuzeit gabe es mehrere Sektierer, d.h. Gruppierungen von Religiösen ohne reichsrechtliche Anerkannung. Hoyer war persönlich in Kontakt mit mehreren solchen religiösen Radikalen, wie Teting und Lohmann. Diese haben oft versucht, ihre Ideen gedruckt zu bekommen.

7 Nachwort zum Faksimiliendruck, 32.

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4

Die Sekundärliteratur dieses Aufsatzes behandelt Kontexttheorie, die Frühe Neuzeit, Frauen und das Schreiben, und politische Ereignisse der frühen Neuzeit.

3.1.2 Die Frühe Neuzeit und Frühneuhochdeutsch

In diesem Abschnitt werden die Begriffe ‚Frühe Neuzeit‘ und ‚Frühneuhochdeutsch‘ kurz erklärt. Die Gedichte sind in der sogennanten Frühen Neuzeit gedruckt worden und weisen die typischen sprachlichen Merkmale dieser Epoche auf.8 Auch wenn unterschiedliche Definitionen des Frühneuhochdeutschen diskutiert werden, wird diese Epoche normalerweise nicht nur durch „reine“ sprachliche Merkmale definiert, sondern auch mithilfe von

Merkmalen historischer Umstände charakterisiert. Die Auswahl der historisch relevanten Umstände variiert kräftig in der Sekundärliteratur. Deswegen strecken sich die

Epochengrenzen ungefähr zwischen dem 14. Jahrhundert bis zum 18. Jahrhundert, doch gibt es große Variationen und auch Versuche zu weiterer Epochengliederung.9 Außer einer Vielfalt von interessanten sprachlichen Entwicklungen, die hier nicht aufgelistet werden, da sie eher zur diachronen Sprachforschung gehören, ist eine gewisse Normierung, vor allem durch Schulen und Kanzleien zu bemerken. Jedoch fehlen einheitliche Normen, weshalb große Variation in den Texten zu sehen ist.10 Die Entwicklung von der Idee der

Nationalsprache durch die Sprachgesellschaften im 17. Jahrhundert ist durch die Philologen des 19. Jahrhunderts wahrscheinlich übertrieben worden, denn, obwohl sehr bedeutende Personen, wie Opitz und Adelige an wichtigen Höfen, zu der Fruchtbringenden Gesellschaft gehört haben, gibt es auch wichtige poltisch-religiöse Faktoren, die eventuell die nationalen Bestrebungen besser charakterisieren können.11 Diese sind vor allem mit dem Wandel in den Ideen von dem Menschen in der Welt verbunden, die durch die Reformation und den

Humanismus aufgekommen sind.

Im deutschsprachigen Raum wurde diese Zeit sowohl von dem von der Reformation initiierten Niedergang der Papstkirche und des Kaisertums als auch von dem damit

verbundenen religiösen Konflikt und Neupositionierungen geprägt. Die schnelle Entwicklung

8 Diese sind, unter anderem, die fnhd. Diphthongierung und Monophthongierung, das Vorkommen der Virgel, große ortographische Variation und analytische Satzbildungen nach lateinischer Art, wie Futur I. mit

werden+Infinitiv. Vgl. Hartweg, Frédéric und Klaus-Peter Wegera. Frühneuhochdeutsch - Eine Einführung in die deutsche Sprache des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1989, 23.

9 Ibid.

10 Siehe ibid, 49-61.

11 Garber, Klaus. Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit: Gesammelte Studien. Paderborn: Fink, 2009, 598.

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gewerblicher Wirtschaft in den Städten kennzeichnet auch die Frühe Neuzeit.12 Die

Textproduktion steigt in der Frühen Neuzeit und findet neue Ausdrücke in den neuen Medien wie Zeitungen, Flugschriften und Erziehungliteratur.13 Die zwei Begriffe ‚Frühe Neuzeit‘ und

‚Frühneuhochdeutsch‘ können natürlich noch weiter diskutiert werden, aber hier dienen sie eher als Hintergrund und nicht als Ziel der Kontextualisierung. Die Kontextualisierung ist die eigentliche Methodik dieser Arbeit, und dazu bieten diese Begriffe nur den Rahmen für die Diskussion. In dem kommenden Abschnitt wird der Bezug zwischen Kontextualisierung und Auslegung erläutert.

3.2 Methodik

3.2.1 Kontextualisierung und Auslegung

Diese Untersuchung besteht aus der Edition zweier Gedichte, die im Hinblick auf zwei ausgewählte Themen kontextualisiert werden. In der Diskussion von dem Begriff

Kontextualisierung wird auf die Literaturwissenschaft Bezug genommen. Deshalb wird in diesem Abschnitt zuerst erläutert, wie Kontextualisierung und Auslegung anhand

literaturwissenschaftlicher Theorien verstanden werden können.

Obwohl der schleiermacherische Ansatz, dass man durch die Auslegung eines Textes die

„richtige“ Bedeutung wiedererkennen könne,schon lange umstritten ist,14 lebt sein Gespenst immer noch in dem Verständnis von Text und Kontext als einer Art Begriffspaar. Denn nur wenn der werkimmanente Ansatz, dass das Ziel einer Auslegung, die Bedeutung eines Textes hervorzubringen wäre, angenommen wird, kann auch ‚Text‘ und ‚Kontext‘ unproblematisch behandelt werden. Der ‚Text‘ wird nach dieser klassischen Auffassung als das textimmanente Werk-an-sich verstanden, wobei ‚Kontext‘ undefiniert bleibt. Diese Trennung und der Mangel an Definition sind in der Kontextualisierung von einem editierten Text nicht akzeptabel, die sich mit der Überbrückung oder Darstellung der Voraussetzungen des Texts im Kontext wissenschaftlich beschäftigt. Weil der/die Leser*in sich per Definition nie völlig in „dem“

historischen Kontext des Textes befinden kann, muss der/die Editionsphilolog*in immer annehmen, dass eine Auslegung diese Differenzen beleuchten soll, und dafür ist die klassische

12 Hartweg und Wegera. Frühneuhochdeutsch - Eine Einführung in die deutsche Sprache des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, 6.

13 Ibid, 85.

14 Steinmetz, Ralf-Henning. Sinnfestlegung und Auslegungsvielfalt. In Litteraturwissenschaft (erweiterte Ausgabe). (Hrsg. Helmut Brackert und Jörn Stückrath), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1995, 476.

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Trennung Text/Kontext nicht genügend. Allerdings wurde diese Trennung schon von der Rezeptionsästhetik bezweifelt, da gezeigt wurde, dass der/die Leser*in an sich ein Teil von der Bedeutungserzeugung eines Textes ist. Dieser Gedankengang wurde dann von dem Dekonstruktivismus radikaler entwickelt, indem die Existenz fester „unabhängiger“

Bedeutungen verneint wurde. ‚Kontext‘ wird dadurch alles, was der Text zum ‚Text‘ macht.

Da diese Definition die Interaktion zwischen den beiden Begriffen besser beschreibt, wird sie auch zum Zwecke dieser Untersuchung angenommen. Jedoch muss sie erstmal modifiziert werden, denn nicht alle Kontexte können untersucht werden und deren Auswahl sollte nicht beliebig sein. Die Frage von Bedeutung(en) wird dementsprechend eine Frage von

Kontexteauslegungen.15 Demgemäß werden die Möglichkeiten der Bedeutung durch Kontextualisierung realisiert und erscheinen als Auslegungsvielfalt. Des Weiteren heißt es, dass keine Auslegung dieses Bedeutungspotenzial erschöpfen kann, einfach weil eine Chance besteht, dass nicht alle (relevanten) Kontexte in einer Auslegung untersucht werden können.

Deswegen wird hier der Ansatz präzisiert, so dass es heißt: Alle Kontexte sind möglich, jedoch sind nur manche davon fruchtbar. Die Fragestellung, inwiefern gewisse Kontexte für eine Auslegung relevant sind, ist deswegen nur im Nachhinein zu beantworten. Eine andere Formulierung wäre, dass ein relevanter Kontext ein solcher ist, der die Voraussetzung einer Lektüre sein kann, der zu einer intressanter Kontextualisierung führt. Demnach kann der Text (der noch nicht gelesen ist), als ein immer dekontextualisiertes Objekt verstanden werden, und jede mögliche Lektüre ist mit einer möglichen Auslegung verbunden. Das Ziel einer

kontextualisierten Ausgabe wird dadurch, dem/der Leser*in Voraussetzungen und Motivationen für Kontextualisierung(en) anzubieten.

‚Kontexte‘ werden in dem weitesten Sinne verstanden als alle textuellen und nicht-textuellen Zeichen und Ereignisse, die zu einer Auslegung beitragen können. „Nicht-verbale“ Umstände, wie zum Beispiel historische Umstände, sind demnach auch ein Teil vom Kontext, indem sie möglicherweise die Interpretation beeinflussen.16 Der/die Interpret*in gestattet gewisse Voraussetzungen zu Lektüren durch seinen/ihren bewussten Umgang mit Kontexten, und der/die Leser*in akzeptiert oder lehnt diese durch seine/ihre Interpretationen ab. Diese Lektüre ist deswegen nicht unbedingt diejenige, die eventuell von dem/der Interpret*in

„intendiert“ worden ist, denn die Lebenswelt des/der Leser*in ist ja auch ein Kontext.17.

15 Ibid, 477.

16 Rosenblatt, Louise M. The Reader, the Text, the Poem: The Transactional Theory of the Literary Work (Neuauflage). Carbondale: Southern Illinois University Press, 1994, 78.

17 Ibid, 11.

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Aufgrunddessen befindet sich auch die editionsphilologisiche Arbeit also innerhalb des beschriebenen hermeneutischen Zirkels, denn schon in der Transkription entsteht eine Auslegung, in welcher Lektüren sich ermöglichen.18

Die Motivation für die ausgewählten Kontexte ist nötig, damit gezeigt wird, dass sie nicht willkürlich sind. Ein Kontext ist an sich nicht ein pars pro toto, eine angemessene und entsprechende Erklärung eines gewissen Zeitpunkts in der Geschichte, denn wie oben verdeutlicht, ist auch die Interpretationsmöglichkeit des/der Leser*in kontextuell relevant.

Anhand dieser Analyse, wird verstanden, dass die Auswahl von Kontexten in einer kontextualisierenden Auslegung nie ein Beweis dafür ist, welche Kontexte historische Bedeutung schaffen.19 Die nicht-willkürliche Auswahl der untersuchten Kontexte muss sich dagegen immer auf eine hypothetische Auswahl beziehen, eine Auswahl, die an sich von den Ergebnissen früherer Untersuchungen, ̶ wenn solche vorhanden sind ̶ motiviert werden kann. Diese Begründung bedeutet ferner, dass die Aufgabe der kontextualisierten Ausgabe es ist, Voraussetzungen für historische Reflexionen (nicht Rückschlüsse) dem/der Leser*in anbieten zu können. Diese Voraussetzungen sind die Vermittlungen sachlicher Kenntnisse.

Dennoch liegt es in dem methodologischen Verfahren, dass die Hypothesen eventuell

verworfen werden müssen. Denn es ist wohl möglich, dass hypothetisch ausgewählte Aspekte zu dem Ansatz einer Auslegung nicht immer relevante Bedeutungsergebnisse leisten. Weil diese Hypothesen nicht grundlos ausgewählt worden sind, sondern anhand sachlicher

Informationen, sind diese aber nicht völlig willkürlich. In dieser Untersuchung stammt diese Information aus der Sekundärliteratur zur Frühen Neuzeit. Die Übermittlung von sachlicher Information ist deswegen ein Kern dieser Untersuchung. Kommentare in der Ausgabe sollen deswegen danach streben, die selbstständige Lektüre zu ermöglichen durch die Beleuchtung sprachlicher und zeitbedingter Dunkelheiten.20 In dem Sinne ist Kommentierung eine kritische wissenschaftliche Bedingung, um überhaupt von einer Ausgabe zu sprechen, denn diese ist für die „Schaffung sachlicher Voraussetzungen für das adäquate Textverständnis“

zuständig.21 Was Kommentare nicht immer behandeln können, sind solche Dunkelheiten, die sich zum Beispiel aufgrund künstlerischer Intentionen ergeben. Diese Ausgabe ist eine diplomatische Transkription, und hat deswegen den Zweck, den Text dem/der heutigen

18 Kondrup, Johnny. Editionsfilologi. Kopenhagen:Museum Tusculanum, 2011, 24.

19 Anhand dieser Begründung lehnt die Analyse den sogenannten „Neuhistorismus“ ab.

20 Henrikson, Paula. Textkritisk utgivning: råd och riktlinjer. Stockholm: Svenska Vitterhetssamfundet, 2007, 93.

21 Roloff, Hans-Gert. Fragen zur Gestaltung von Kommentaren zu Textausgaben der Frühen Neuzeit. In Probleme der Edition von Texten der Frühen Neuzeit: Beiträge zur Arbeitstagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. 130-139. Tübingen: Niemeyer, 1992, 131.

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Leser*in zugänglicher zu machen. Deswegen ist der Text an Stellen auch kommentiert worden, und die Kommentare beziehen sich sowohl auf die sprachlichen Dunkelheiten des Textes als auch auf die sachlichen Undeutlichkeiten, die vorkommen. Dies ist vor allem durch den Mangel an Editionen der Gedichte Anna Ovena Hoyers zurückzuführen, was bisjetzt sprachlich-kulturelle Untersuchungen moderner Leser*innen nur schwer durchführbar gemacht hat. Eine Motivation ist deswegen, eine zugänglichere Ausgabe von einigen Gedichten zu präsentieren, die als Grundlage für kommende Erforschungen ihrer Dichtung dienen können. In diesem Aufsatz wird untersucht, wie sich zwei übergreifende Kontexte ̶ der Anti-Klerikalismus und Konstruktionen der Weiblichkeit in der Frühen Neuzeit ̶ in den Gedichten aktualisieren und deswegen für das Verständnis wesentlich werden. Diese zwei Kontexte sind als Hypothesen ausgewählt, weil wegen des polemischen Hinweises des einen Gedichtes an eine Bannschrift von Geistlichen und der einzigartigen Position der ungebildeten und nicht-adeligen Dichterin angenommen werden kann, dass die Kontexte relevant sind.

3.2.2 Literaturwissenschaftliche Ausgangspunkte

Die hier behandelten Gedichte von Hoyer gehören literatursystematisch (das heißt, zeitgemäß) gesehen zum Barock, einer literarischen Epoche, die sich unter anderem durch den Beginn der Regelpoetik (vor allem durch Martin Opitz) und ein nationalsprachliches Bewusstsein

charakterisieren lässt.22 Jedoch wird diese Einteilung nicht als theorethische Annahme der Kontextualisierung dienen, denn es ist wohl möglich, dass der Begriff aufgrund seiner Weite und moderner Herkunft eher abschwenkend von den mannigfaltigen Ergebnissen der

Kontextualisierung wirken. Hingegen werden die Aspekte der Regelpoetik und die Merkmale der Zeit aus der Perspektive der Literaturforschung in die kritische Diskussion als Ausblicke hineingebracht. Dies ist auch für die anderen Begriffe gültig, die verwendet werden, um die Frühe Neuzeit oder die literarischen Epochen der Frühen Neuzeit zu beschreiben, wie

‚Spätmittelalter‘, ‚Humanismus‘, ‚Gegenreformation‘ und so weiter. Andreas Keller meint, dass diese Begriffsverwirrung eine Schwäche in der Forschung zur Literatur der Frühen Neuzeit sei, da sie die eigentlichen besonderen Aspekte der einzelnen literarischen Werke überdeckt.23 Ferner argumentiert er, dass das literarische „epochale Grundmuster“ der Frühen Neuzeit eher der Dialog sei, da Texte sich in Bezug und als Antworten auf andere Texte stellen.24 Anhand dieser Argumentation lässt sich verstehen, dass Dialogizität ein fruchtbarer

22 Krasser, Helmut. Barock. Der Neue Pauly Online, 2006.

23 Keller, Andreas. Frühe Neuzeit: Das rhetorische Zeitalter. Berlin: Akademie Verlag, 2008, 13.

24 Ibid, 17.

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Ausgangspunkt für die Analyse des Schreibens ist. Darüber hinaus argumentiert er, dass die Dialogizität zum Ausdruck komme, indem sie, zum Beispiel in der inspirierten Dichtung, sich an einen „nicht sehenden Leser (Adressat)“ wendet.25 Damit ist gemeint, dass der/die

Leser*in zu einem Teil von dem Dialog wird, der durch die rhetorischen Mittel des Texts entsteht. Da die untersuchten Texte von Hoyer im Sinne einer solchen Beschreibung

rhetorisch-polemisch sind, muss ein einfacher Begriffsapparat zur Polemik gewonnen werden.

Dazu wird die Charakterisierung von Jürgen Stenzel dienen. Der Polemiker wird nach ihm

‚polemisches Subjekt‘ benannt, der Angegriffene des polemischen Subjekts das ‚polemische Objekt‘; deren Fragestellung das ‚polemische Thema‘ und die Adressat*innen die

‚polemische Instanz‘.26 Diese theoretische Beschreibung ist bei der Untersuchung

frühneuzeitlicher Texte angemessen, da diese häufig Dialogizität und demzufolge rhetorische Züge aufweisen. Dadurch ist der Begriffsapparat im Stande, das Spezifische der Literatur zu beleuchten. Insgesamt ist das Modell einfach, jedoch effektiv, um einen polemischen Kontext im Rahmen einer Edition übersichtlich zu untersuchen. Da die Dichterin recht unerforscht ist, wird in dem kommenden Abschnitt eine Darstellung spezifischer Informationen zu ihrer Person vorgestellt, damit ein ausreichendes Vorverständnis für die Auslegung gewonnen wird.

4. Biographie der Dichterin und frühere Forschungsansätze

4.1 Biographie der Dichterin

Anna Ovena Hoyer ist im Jahr 1584 in Koldenbüttel in Schleswig-Holstein-Gottorf als Tochter von Hans und Wennecke Owens geboren.27 Beide Eltern waren vermögend und haben ihr ein bedeutendes Erbe hintergelassen. Als Kind ist sie von ihrem Onkel erzogen worden, von dem sie allerdings keine organisierte schulische Ausbildung bekam, sondern sie hat wahrscheinlich ihre Sprachkenntnisse durch Katechismusunterricht und private Lektüre erworben. Mit 15 Jahren ist Anna mit dem Staller Hermann Hoyer verheiratet worden. Der Staller war ein Amt in der Frühen Neuzeit. In dem Herzogstum Schleswig hat Hermann es in Eiderstedt ausgeübt.28 Der Staller war im Auftrag des Landesherrn sowohl für die

25 Ibid, 83.

26 Andersson, Bo. Jacob Böhmes polemischer Konflikt mit Gregorius Richter. In

Offenbarung und Episteme: Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert, Wilhelm Kühlmann und Friedrich Vollhardt (Hrsg.), 33-46. Berlin: De Gruyter, 2012, 34.

27 ’Ovena’ ist ein latinisiertes Patronym von ‚Owens‘. Namen spielen in Hoyers Dichtung eine bedeutende, doch bis jetzt noch nicht untersuchte Rolle.

28 Feddersen, Friedrich. Beschreibung der Landschaft Eiderstedt : mit einer geschichtlichen Einleitung und statistischen Nachrichten. Altona: Schlüter, 1853, 52.

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Finanzverwaltung als auch die lokale Rechtsprechung zuständig. Er war aber nicht adelig.29 Gemeinsam hatte das Ehepaar Hoyer sechs überlebende Kinder. Sie wohnten auf

Hoyersworth und der Ehemann hatte häufig Auseinandersetzungen mit Anabaptisten und anderen religiösen Non-Konformisten, die von den Obrigkeiten nicht geduldet wurden. Nach dem Tode Hermann Hoyers im Jahr 1622 musste Anna sowohl mit den nachgelassenen Schulden des Mannes als auch seinem Milchbetrieb klarkommen. Als Anabaptisten und andere Dissidenten 1623 aus ökonomischen Gründen vom Herzog Friedrich I. von Schleswig- Holstein geduldet wurden, kam Anna auch in Kontakt mit deren Schriften, unter anderem mit solchen von Johann Arndt, Kaspar Schwenckfeld, Valentin Weigel und David Joris. Im gleichen Jahr besucht der Mediziner Nicolaus (Knutzen) Teting, der von der Geistlichkeit aus Flensburg weggetrieben worden war, auf Einladung Annas Hoyersworth.30 Diese formten zusammen eine private Gemeinde, die im kommenden Jahr einen Hausbesuch von den Inspektoren des Herzogs bekam. Teting wurde aus Husum verwiesen und hat danach in Hamburg verweilt. Dort hat Anna ihn auch weiter besucht, und sie überlebte in den kommenden Jahren sowohl eine Flut in Tönning als auch die Pest in Hamburg. Zwischen 1623-1630 hat sie mehrere kleine Gedichte und Satiren sowohl auf Niederdeutsch als auch auf Hochdeutsch veröffentlicht. Um das Jahr 1632 musste sie unter finanziellem Druck

Schleswig-Holstein verlassen und ist nach dem Verkauf von Hoyersworth an die

Herzoginwitwe Augusta, die Mutter des Schleswig-Holstein-Gottorf regierenden Fürsten Friedrich III., schließlich nach Västervik in Schweden umgezogen, wo sie sich ein Einkommen durch einen Milchbetrieb besorgt hat. Wegen Unterstützung von der

Königinwitwe Maria Eleonora von Brandenburg bekommt sie in Stockholm einen Landbesitz namens Sittwick im Jahr 1649. Die Sammlung Geitliche und Weltliche Poemata erscheint bei der Buchdruckerei von Elsevier in Amsterdam. Diese Buchdruckerei hat 1650 23 Bücher gedruckt, deren Inhalt facettenreich war; Philosophie, politische Kommentare und Dichtung sind vorkommende Themen.31 Es ist nicht festgestellt worden, wie der Druck finanziert worden ist und wie das Manuskript tatsächlich nach Amsterdam gelang. Da Descartes 1649- 1650 in Stockholm verweilt hat, und unter anderen seine Passiones Animae auch 1650 bei Elsevier gedruckt wurden, ist nicht auszuschließen, dass die Manuskripte auf demselben Weg

29 Kuschert, Rolf. Von Stallern, Pfennigmeistern, Deichgrafen, Rat- und Lehnsmännern. Ämter im alten Eiderstedt. In Mitteilungsblatt der Gesellschaft für Tönniger Stadsgeschichte. Nr. 3, 1983, 12-19. Tönning:

Gesellschaft für Tönninger Stadtgeschichte e.V., 15

30 Roe, Adah Blanche. Anna Owena Hoyers, a poetess of the seventeenth century. Pennsylvania: Bryn Mawr College, 1915, 29.

31 Davies, David William. The World of the Elseviers, 1580–1712. Der Haag: Springer, 1954, 105.

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vermittelt wurden.32 Die Geitliche[n] und Weltliche[n] Poemata wurden im Jahr 1651 von den Behörden in Schleswig-Holstein als häretisch bezeichnet und Exemplare wurden

konfisziert und öffentlich verbrannt. Man glaubt, dass die „Stockholmer Handschrift“, die im Jahr 1854 der Königlichen Bibliothek in Stockholm geschenkt wurde, von dem ältesten Sohn Caspar bei dem Tode Annas um 1655 niedergezeichnet worden ist.33

4.2 Die Dichterin und ihre Dichtung in zeitgenössischer und späterer Forschung Schon in der Nord-Fresische[n] Chronick, darin von denen dem Schleßwigischen Hertzogthum incorporirten Fresischen Landschafften wird berichtet. Mit Fleiß zusammen geschrieben durch M. Antonium Heimreich (1666) wird der Name der Dichterin zusammen mit kritischen Worten kurz erwähnt.34 Eine der ersten Schilderungen Hoyers ist wahrscheinlich die von Johann Heinrich Feustking in Gynaeceum Haeretico Fanaticum (1704). In diesem Buch werden Dichterinnen, Prophetinnen und „Schwärmerinnen“ aufgelistet und von dem Autor aufgrund deren angesagter Zerstörung der Kirche heftig kritisiert. Diese Art von Büchern, in denen weibliche Leistungen aufgelistet werden, war seit dem Mittelalter ein beliebtes Genre.35 Feustkings Buch ist polemisch geschrieben worden, und der lutherische Pfarrer Feustking repliziert das Buch Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie vom Anfang des Neuen Testaments biss auf das Jahr Christi 1688 (1700) von dem Theologen Gottfried Arnold, einem Vertreter des radikalen Pietismus. Adelisa Malena hat betont, dass zumindest zwei wichtige Motive Feustkings Auseinandersetzung mit Arnolds Schriften zu Grunde liegen; erstens der aus Feustkings Sicht in dem Buch vorkommende Ausgleich von nicht-klerikalen Bewegungen mit dem Heiligen Amt (des instutionalisierten orthodoxen Luthertums), der als eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung und der Machtverteilung von Feustking verstanden wurde, zweitens die viele von Arnold erwähnten öffentlich engagierten Frauen, welche Feustking als Nachfolgerinnen der das Christentum verderbenden „Schwärmerey“ empfand.36 Seine Beschreibung von Anna Ovena Hoyer beschränkt sich aber nicht auf die Bezeichnung

32 Um eine vollständige Liste aller Buchdrucke im Jahr 1650 bei dem Elsevier in Amsterdam zu finden, siehe das Buch von Willems, Seite 278-281 in dem Digitalisat von Les Elzevier: histoire et annales typographiques.

33 Becker-Cantarino, Barbara. Anna Ovena Hoyers. Dictionary of Literary Biography, Vol. 164: German Baroque Writers, 1580-1660, 1996.

34Heimreich, Anton. Nord-Fresische Chronick, darin von denen dem Schleßwigischen Hertzogthum

incorporirten Fresischen Landschafften wird berichtet. Mit Fleiß zusammen geschrieben durch M. Antonium Heimreich. Digitalisat von der Bayerischer Staatsbibliothek 2014 von dem Original aus Schleßwich, 1666, 26.

35 Alenius, Marianne. The history of Nordic women’s literature. Om alla slags berömvärda kvinnopersoner.

Kvindelitteraturhistorie på nettet, 2012. https://nordicwomensliterature.net/se/2011/01/04/om-alla-slags- beromvarda-kvinnopersoner/ (2020-12-01)

36 Es werden auch andere mögliche Erklärungen für die Motivation von Feustking erwähnt in Malena, Adelisa.

Sectirische und begeisterte Weibes-Personen. on the Gynaeceum Haeretico Fanaticum by J. H. Feustking (1704).

In L'Atelier Du Centre De Recherches Historiques. Nr. 4, 2009.

(16)

12

„Schwarm=Geist“, sondern er meint, dass Hoyer sogar das „Heil. Ministerium“ als Unfug gesehen habe.37 Was von Feustking vor allem als unerhört beschrieben wird, ist, dass Hoyer sich gegen „alle Ministeria“ wendet.38 Er regiert also auf ihren Anti-Klerikalismus, verstanden als die negative Einstellung gegenüber der lutherischen Geistlichkeit. Laut Arnold andererseits war es aufgrund des Ruhms der Dichterin ̶ nicht der schlechten Eigenschaften, die Feustking ihr ein paar Jahre später zuschreiben würde ̶ ,dass es dazu kam, dass sie „von den Priestern auß Holstein vertrieben“ sich windete, und danach in Schweden „von der Königin und viel=en grossen hoch geehrt worden“ war.39 Diese polemische Auseinandersetzung, wo es tatsächlich um einen Konflikt zwischen der kanonischen Geschichtsschreibung und der Positionierung der Dichterin geht, prägt auch die spätere Forschung. Noch eine negative Schilderung von Hoyer findet man in Johann Christoff Adelungs Geschichte der menschlichen Narrheit (1787) wieder.

Der Verfasser erwähnt auch den lateinischen Beitrag in der umfassenden Schilderung norddeutscher Denker Cimbria literata, sive, Scriptorum ducatus utriusque Slesvicensis et Holsatici (1744, posthum herausgegeben) vom dänischen Literaturhistoriker Johannes Moller.

Die Schilderung ist zum groβen Teil sachlich. Diese Biografie enthält vermutlich die umfassendste Bibliographie der Dichterin.40 Die Darstellung wird beendet mit einem positiven Kommentar von Professor Otto Sperling d.J. (1634-1715), der mit Moller korrespondiert hat.

Dagegen bleibt die Frage der Verbindung zwischen Sperling und Hoyer bisjetzt unerforscht, obwohl schon festgestellt worden ist, dass Sperling sich intensiv mit der Sammlung biographischer Schilderungen gelehrter Frauen, und vor allem Poetinnen, beschäftigt hat. Das Manuskript, mit einem Inhalt von 1399 Frauen, ist nie publiziert worden, jedoch wurde es häufig zitiert oder als Quelle für nachfolgende Biographien verwendet.41 Da Sperling mit mehreren der Frauen Kontakt gehabt hat, ist es wohl möglich, dass er eventuell in eine direkte Beziehung mit der Autorin kam. Dennoch ist eine solche Verbindung noch nicht aufgezeigt worden.

37 Feustking, Johann Heinrich. Gynaeceum Haeretico Fanaticum., 1704, 356.

38 Ibid, 359.

39 Arnold, Gottfrid. Gottfrid Arnolds Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie : von Anfang des Neuen Testaments biss auff das Jahr Christi 1688. T. ¾. Gottfrid Arnolds Fortsetzung und Erläuterung oder dritter und vierdter Theil der unpartheyischen Kirchen- und Ketzer-Historie, besthend eine Beschreibung der noch übrigen Streitigkeiten im XVIIden Jahrhundert., 1700, 797.

40 Siehe S. 263-265 in Moller, Johannes. Johannis Molleri Flensburgensis Cimbria literata sive Scriptorum ducatus utriusque Slesvicensis et Holsatici, quibus et alii vicini quidam accensentur, historia literaria tripartita:

Adoptivos sive exteros, in ducatu utroque Slesvicensi et Holsatico vel officiis functos publicis, vel diutius commoratos, complectens (Band 1). Kopenhagen: G.F. Kisel, 1744.

41 Göransson, Elisabet. Letters of a learned lady: Sophia Elisabeth Brenner's correspondence, with an edition of her letters to and from Otto Sperling the Younger. Stockholm: Almqvist & Wiksell International, 2006, 79.

(17)

13

Sonst dominieren die negativen Beschreibungen von Anna Ovena Hoyer in der Literatur. Die spätere Schilderung von Adelung ist eine in der Reihe; dort wird das Buch von Feustking zitiert und damit die negative Beschreibung befestigt.42 Adelung geht einen Schritt weiter und meint, dass man die Texte, die „in Reimen abgefaßt“ waren, nicht als Poesie „nennen“ könne.43 Ferner wird behauptet, dass sie Anhängerin der Lehre „von der Seelenwanderung des Pythagoras und der morgenländischen Religionen“ gewesen und deswegen nicht bereit gewesen sei, Tiere zu töten. Daraus macht Adelung eine große Nummer, um zu zeigen, wie defizient Hoyer gewesen sein soll.44 Interessanterweise zitiert Adelung trotzdem eine große Anzahl ihrer Gedichte. Hier findet man sogar Teile wieder, die in den Geitliche[n] und Weltliche[n] Poemata nicht vorkommen. Er listet auch diese (und Jahreszahlen von den Neudrucken des Werks; Adelung zitiert wahrscheinlich nicht aus dem Originaldruck).45 Diese Auflistung ist auch nicht in der späteren Forschung gründlich untersucht worden. In dem Werk Ein Zweyfaches Zweyhundert- Jähriges Jubel-Gedächtnis (1723), einer Festschrift, veröffentlicht zum Festtag der Reformation 1722, liegt der Fokus des lutherischen Verfassers und ehemaligen Kircheninspektor Johann Melchior Kraffts auf Hoyers vermuteter Vorstellung, dass sie Jesus als rein geistig, statt fleischlich-geistig, vorgestellt hat.46 Mit den späteren Biografien setzt sich meist negative Bilder von Hoyer durch, die stark von der Darstellung von Hoyer als einer unvernünftigen Schwärmerin geprägt sind. Andere wichtige Beiträge zur Erforschung von Hoyers Gedichten sind erst im 20. Jh. erschienen, und wahrscheinlich haben die Digitalisierung und die damit verbesserte Zugänglichkeit zu ihren Werken sowie ein erneutes Interesse an der Frauengeschichte als Impulse gedient. Im Jahr 1915 erschien die Dissertation Anna Owena Hoyers - A Poetess of the Seventeenth Century, die auch das einzige Werk ist, das ihre Tätigkeit als Ganzheit behandelt. Eine der wichtigsten Leistungen dieser Monografie ist es, dass vorgeschlagen wird, wie Hoyer ihre Gedichte benutzt hat, um unter anderem Verfall, Besoffenheit und Unrechte im Namen der Christenheit zu kritisieren.47 Unterstrichen wird ebenso die praktische Art des Schreibens, in welcher die Namen von denjenigen, die Hoyer kritisieren auch nicht verborgen bleiben.48 Die Charakterisierung von Roe, dass Hoyer eine

42Adelung, Johann Christoph. Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden (Band 4). Leipzig: Weygand, 1787, 193.

43 Ibid, 196.

44 Ibid, 197.

45 Ibid, 209.

46 Krafft, Johann Melchior. Ein zweyfaches zweyhundertjähriges Jubel-Gedächtnis[…]. Hamburg: JW Fickweiler, 1723, 165-176.

47 Roe. Anna Owena Hoyers, a poetess of the seventeenth century, 64.

48 Ibid, 81.

(18)

14

didaktische Poetin gewesen sei und nicht eine lyrische, bleibt recht unbegründet.49 Jedoch fehlt es an Editonen und Versuchen zu Kontextualisierungen, auch in späteren Werken, wie in „A view of a practical living“ von Brigitte Edith Archibald in Women Writers of the Renaissance and Reformation (1990).50 Eine der wichtigsten Forscher*innen zu Hoyer, die es geleistet hat, ihre Dichtung in einer gesellschaftlichen und genderbewussten Perspektive zu präsentieren, ist Barbara Becker-Cantarino. In Becker-Cantarino (1988) wird die Dichtung und die Biografie von Hoyer im Licht der weiblichen Möglichkeit zur Mündigkeit und Behauptung dargelegt.51 Sie war auch für die Herausgabe des Faksimiliendruckes im Jahr 1986 zuständig, in dem ein informatives Nachwort zu finden ist. Insgesamt ist Becker-Cantarino diejenige Forscherin, die mit ihren Untersuchungen die früheren Schilderungen der Dichterin in Frage gestellt hat. Der Mangel an Kontextualisierungen beherrscht jedoch weiter das Gebiet, und es liegt keine komplette moderne Ausgabe ihrer Gedichte vor.

5. Editorischer Bericht

Das editorische Ziel dieser Arbeit ist es, zwei ausgewählte Texte einem/einer modernen Leser*in zugänglich zu machen und gleichzeitig so nahe an den Original-Manuskripten zu bleiben, wie es für das Verständnis möglich ist. Dadurch werden an Stellen nicht immer alle typografischen Merkmale, wie Leerzeichen, Zeilenabruch und Initialen wiedergegeben. Die Edition der Gedichte richtet sich nach dem Digitalisat von den Geitliche[n] und Weltliche[n]

Poemata. Es handelt sich um die Digitalisierung eines Exemplars in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Der vollständige editorische Bericht lautet auf folgende Weise:

- Die Schrift in dieser Ausgabe wird in Times New Roman wiedergegeben. Antiqua wird in den Originaltexten bei Fremdwörtern verwendet. In den Transkriptionen wird Antiqua durch kursiv gekennzeichnet.

- Die unregelmäßigen Abstände zwischen Wort und Virgel werden durch ein regelmäßiges Muster ersetzt, damit es lesefreundlicher wird: Wort, Virgel, einfacher Leerschlag.

49Ibid, 127.

50 Siehe Archibald, Brigitte Edith. Anna Owena Hoyers: A View of Practical Living. In Women Writers of the Renaissance and Reformation, Katharina M. Wilson (Hrsg.), 304-326. Athens, Georgia: University of Georgia Press, 1987.

51 Becker-Cantarino, Barbara. Der lange Weg zur Mündigkeit: Frau und Literatur (1500-1800). Stuttgart:

Metzler, 1987, 220-232.

(19)

15

- In Texten der Frühen Neuzeit variieren die Abstände, in dieser Ausgabe nicht. Die Abstände zwischen Wörtern und Satzzeichen sind nach dem heutigen Standard normalisiert, damit immer ein Leerschlag dem Satzzeichen folgt.

- Groβ- und Kleinschreibung, sowie Getrennt- und Zusammenschreibung und Interpunktion, bleiben ohne Ausnahmen unverändert.

- Um manche phonetisch- rhetorische Qualitäten beizubehalten, sind die zwei graphischen Varianten von <s>, d.h. <ſ> und <s>, wie im Original wiedergegeben. Dasselbe gilt für die alten Umlautgrapheme <uͤ>,<aͤ>,<oͤ>.

- Typische Ortographie der Zeit bleibt unverändert. Die Schreibung von Vokalen und

Konsonanten (bspw. <u>,<v>; <i>,<j>), Diphthongen (bspw. <ey>,<ei>, <ů>), und Umlauten (<uͤ>) bleiben unverändet.

- Die Texte in dieser Ausgabe sind mit Zeilenzählung versehen, die jede fünfte Zeile markiert.

In den Erklärungen wird diese Zählung benutzt, um Referenzen zu den jeweiligen Zeilen bequem zu machen.

In dem kommenden Abschnitt werden die Transkriptionen von dem Widmungsgedicht An den chritlichen Leer von Johann Angelius Werdenhagen und das Gedicht An die Herrn

Titultrager von Anna Ovena Hoyer präsentiert. Die Orginalseiten der jeweiligen Gedichte befinden sich im Anhang. Nach jedem Gedicht folgen Kommentare, die manche Worte oder Zeilen beleuchten. Diese Kommentare werden danach in der nachfolgenden

Kontextualisierung mithilfe der Kontexte weiter in Betracht genommen.

(20)

16

6. Transkriptionen

6.1 Transkription von An den Chritlichen Leer

”An den Chritlichen Leer”, S.2

[2]

An den Chritlichen Leer.

5

D

Jes Buch dűrch eine Fraw bechribn/

Wird man gwiß darumb mehr beliebn/

Weiln dergleichen nie geehen/

Von Frawn o geitreich ausgehen:

Mann wolls nur leen und betrachtn/

10 Und auff der Sptter Red nicht achtn/

Die da agen: es ey nicht fein/

Das ein Fraw ein Scribent will ein:

Chritus ja meit Mariam preit/

Ob chon Martha ihm Kocht und Speit/

15 Weiln ie erwehlt das bete Theil/

Jn dehm ie geucht der Seelen Heil:

Wie diee Fraw auch hat gethan/

Als darvon diß Buch zeugen kan/

Das auch die Weißheit nicht zuholln

20 Von Welt-gelehrten und Hohen-Schuln/

Sondern vom Heyligem Geit allein Mus erbeten und gelernet ein/

GOtt woll das ich niemand wol chmn Von Frawn guth Exempel zu nehmn:

(21)

17

25 Wollt nur Leer diß perlegirn/

Und darnach darvon iudicirn/

Der Heyliger Geit dich illutrir, Und dich zum Reich Gottes recht fhr.

A M E N.

I. A. W.

(22)

18 6.1.1 Erläuterungen zu An den Chritlichen Leer

5 bechribn FWB: ’beschrieben’ Bedeutung: ›schriftlich fixiert‹.

6 beliebn Werdenhagen schreibt hier, was auch in fast allen Gedichten von Hoyer der Fall ist, im Knittelvers, einer Form, die im 17. Jahrhundert von dem Alexandriner, nach dem Stil von Opitz vorgeschlagen, herausgefordert und immer ungewöhnlicher wurde.52 Die Bezeichnung

‚Knittelvers‘ ist in dem 17. Jahrhundert pejorativ, denn die Form war im 17. Jahrhundert im Aussterben.53

7 Weilnweil

8 geitreich FWB: ’geistreich’ Bedeutung: ›vom heiligen Geist erfüllt, im Sinne der christlichen Lehre gebildet, fromm‹ oder ›von Geist, Esprit zeugend; talentiert, begabt, geistreich‹

9 betrachtn FWB: ’betrachten’ Bedeutung: ›sich etw. / (vereinzelt) jn. (in der Regel als handlungsverpflichtend) vor Augen, präsent halten, etw. / jn. dauerhaft im Bewußtsein halten‹

auch ›meditieren; in geistlicher Übung etw. (Glaubensgegenstände) visionär schauen und erkennen‹.

16 Seelen Heil Siehe die Bibelstelle Lukas 10,38-42.

19 zuholln zu holen 23 chmn Scham

25 perlegirn PONS: ‚perlegere‘ Bedeutung: ›durchlesen‹.

26 iudiciren PONS: ‚iūdicāre‘ Bedeutung: ›beurteilen‹.

27 illutrir PONS: ‚lūstrāre‘ Bedeutung: ›erleuchten‹.

30 I.A.W Johann Angelius von Werdenhagen (1581-1652) war unter anderem Politiker für die Hanse und das Schwedische Reich und der Verfasser vieler Schriften. In seinem späten Leben war er in Amsterdam wohnhaft, wo er um 1632 in Schriften Kritik an dem an

Hochschulen vorherrschenden klerikalen aristotelischen Rationalismus (der Scholastik) und der instutionalitierten Religion gerichtet hat. Stattdessen hat er affectus und pieta als

Leitwörter einer alternativen Frömmigkeit und Wissenschaft vorgeschlagen.54

52 Lilja, Eva. Svensk metrik. Stockholm: Svenska akademien, 2006, 224.

53 Wagenknecht, Christian. Deutsche Metrik. Vierte Auflage. München: C.H. Beck, 1999, 40.

54 Eickmeyer, Jost. Ein Politiker als Böhmist: Johann Angelius Werdenhagen (1581–1652) und seine Psychologia Vera J[Acobi] B[Öhmii] T[Eutonici] (1632). In

Offenbarung und Episteme: Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert, Wilhelm Kühlmann und Friedrich Vollhardt (Hrsg.), 67-92. Berlin: De Gruyter, 2012, 72.

(23)

19 6.2 Transkription von An die Herrn Titultrager

„An die Herrn Titultrager“ s. 67-73

[67]

Schreiben von

I. O. T. A.

An die

Herrn Titultrager von Hohen Schulen/

M.F.I. und M.F.D.P.

Auff das Bchlein wieder Nicol. Te.

O

Ihr verkehrte Pfaffenknecht/

Fritz Hannen und Fritz Dame O Schlangen art/ Ottern gechlecht/

Ja Satans eigener ame

Wie drfft ihr euch o keck und frey Der warheit wiederetzen?

Und mit ewer Schulfucherey/

So mannig Seel verletzen?

[68]

Dem g’meinen Mann nehmt ihr das liecht/

Setzt ihm auff ewer brillen/

Bildt ihm ein er hab ein geicht/

Klar auß ewren Potillen.

Weh’ euch die ihr das recht verkehrt/

Daß gute be nennet/

Daß ihr nicht eyt von Gott gelehrt/

Man klar dabey erkennet.

Und welches geites kinder ihr/

Ist cheinbar hie zuehen.

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20

Das bet in ewrem buch ich phr/

Ist chelten/ lstern/ chmehen/

Die Schrifft verkehren freventlich/

Das Geitlich fleichlisch deuten.

Blindt eyt ihr warlich/ das ag’ ich/

Wollt dennoch ander leiten.

Habt in euch nicht das ware liecht/

Verteht nicht Geitlich achen.

Fleichlich ihr eyt/ fleichlich ihr richtt/

Ewr thorheit muß man lachen.

Jn den Schulen habt ihr tudirt, Das kan niemand verneinen/

Da kein heilger gefunden wird/

Noch oll man von euch meynen/

Daß ihr die heiligten allein/

Die Gott ja hat gechaffen;

Betriegt die leut mit ewrem chein/

O Jhr fleichliche Pfaffen.

Wer hat zu lehren euch geant?

Wer hat euch promoviret?

Hats Gott getan? ey eyts bekant/

Wer hat euch doch vociret?

Mich dncktfurwarihr eyt vexiert/

Es merckens chon die kinder/

Daß ein Blinder den Blinden fhrt/

Ein Sünder lehrt die Sünder.

[69]

Sagt mir/ das fragen teht ja frey/

Solt von den Hohen chulen/

Da man lernet all’ Bberey/

Gaaten gehn und Bulen/

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21

Freen/ auffen/ dergleichen mehr/

Das ihr nicht drfft bekennen/

Die ware Weißheit kommen her/

Nach der ihr euch lat nennen:

Ehrwrdig/ hoch=und wolgelehrt?

Ja wol/ ohn allen zweiffel:

Wer das glaubet der it verkehrt/

Es bildt euch ein der Teuffel;

Der Pfaffen frißt/ Soldaten cheißt/

Des geit hat euch gealbet/

Denn wie die Kuh’/ daß prichwort heit/

Leufft/ alo ie auch kalbet.

Der Probt gibt genug zu vertehn Daß er fleißig geleen;

Man kans am lincken aug ihm ehn/

Wie andchtig er g’ween;

Hat auch des nachts wol bey der leucht Nicht gechont einer augen/

Man ichts ie ind ihm itzt noch feucht/

Solt Er dennoch nicht taugen?

Ohn zweiffel ja/ wer agt das nicht?

Keiner kan es verneinen/

Daß die Welt nach dem anehn richtt/

Die nur fein prchtig cheinen Im langen Prieterlichen kleid/

Haben ein groß anehen:

Wann ie in ihrer Ehrbarkeit/

Da auff dem Hltzlein tehen.

Den chalckbedeckt ihr Pfaffen Rock/

Fein artig ie agiren

Wann ie da tehn im holen block/

Das Maul den leuten chmieren/

[70]

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22

Ltern ohn schew die Wahrheit frey/

Keiner darff wiederprechen:

Er mag auch gleich eyn wer er ey/

Sie wissens bald zurechen:

Die Furnehmten auff ihrer eit/

Willig auff ihr begehren

Sind/ zu vertreiben olche Leut/

Die gutes thun und lehren:

Auff daß man ihre thorheit nicht Zum ben mge deuten;

Oder ihr chlalckheit komm’ ans liecht/

Und kunt werd’ allen leuten.

Aber ihr Herren thut gemach/

Man muß es dennoch wagen/

Zu traffen euch in dieer ach;

Und frey die warheit agen.

Ja/ oltens auch die kinder thun/

Das Weiber=volck imgleichen/

So muß es doch geagt eyn nun/

Der Warheit mt ihr weichen;

Gebt euch gutwillignur darein/

Sie wird doch Meiter bleiben/

Und bald durch ihren hellen chein Ew’r finternuß vertreiben/

Und euch zu chanden machen gar/

Mit ewerm Kuckuck Meyer.

Sein Kram hat auch kein gute wahr/

Nur faul und tinckend Eyer;

Die er im Eydertetchen land Vermeynte zu verkauffen/

Und do er nicht ein’ Kauff=leut fand/

Mut ers wiederumb verlauffen.

Mit dem Kuckuck er fliegen kam/

Ließ ich in Tnning nieder/

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23

Auch mit dem Kuckuck abcheidt nam/

Floh hinweg mit ihm wieder.

[71]

Solten diee recht’ Prieter eyn Und von Gott ordiniret/

Die o verlauffen ihr gemein?

Heit das nicht leut vexieret?

Noch oll glauben ein jedermann/

Sie eyn des Herrn Geanten:

Wer ie nicht will dafur ehn an/

Sondern nennt ie Vaganten/

Die lauffen kommen ungeant/

Denelben ie abchaffen;

Damit friedlich in Stt und Land Bleiben die Herrn Gotts affen.

Habt guten muth ein’ kleine zeit/

Er wird euch bald vergehen;

Die ihr o ehr habt außgechreit Werden dennoch betehen.

Es helffet ewr vertreiben nicht Daß ihr ie abgeondert.

Warheit kompt doch endlich ans liecht/

Wird dadurch nicht gemindert.

Gott teht allzeit auff ihrer eit/

Let ie nicht untertrcken:

Weiß ie/ wens euch wer noch o leit/

Mit g’walt herfur zuzcken.

Er fürdert der gerechten ach/

Die ihr meynt zuvertreiben;

Ewr thun muß durch ie an den tag/

Kan nicht verborgen bleiben.

Heran ihr Pfaffen all heran/

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24

Lat euch zur Schulen fhren Von Herrn Tetinge und Lohmann/

Lernet weißheit tudiren/

Und gebt euch unter Gotts gewalt/

In ihrer Lehr beyzeiten;

Sont wird ich ewer anehn bald Verlieren bey den Leuten.

[72]

Diee beid werden euch gewiß Alo Examiniren/

Daß jedermann/ glaubet mir diß/

Ewern betrug wird phren.

Einer zum andern agen dann In den bald knfftign tagen/

Seht/ lieber eht die Pfaffen an/

Wie ie itzt ind gechlagen.

Ihr eigen ruth hat ie verletzt/

Die ie andern gebunden:

Ihr eigen Schwertt das ie gewetzt/

Hat ie gantz berwunden:

In die grub ie gefallen ind Die ie andern gegraben.

Gott lob/ itzt icht/ der nicht it blindt/

Wie ie gelehret haben.

Dann wird Ew’r gantze Prieterchafft Fallen b’r einen hauffen/

Verliehren ihr anehn und krafft/

Den Pfaffen Rock verlauffen/

So wollen frlich ingen wir Vnd unerm Gott danckagen/

Wenn berwunden it das thier/

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25

Das fromme pflegt zuplagen.

Hallelujah in üßem thon/

Der Her ey hochgelobet:

Da liegt die Hur zu Babylon/

Die o ehr hat getobet.

Der Her bekehr noch in der zeit/

Wo berung it zu hoffen;

Weil noch eine Barmhertzigkeit Und gnadenthr teht offen.

Gott laß euch ewer blintheit ehn/

Erffne ewer augen:

Geb’ euch ew’r thorheit zu vertehn/

So ihr begehrt zu taugen:

[73]

Wnsch und bitt diß von hertzen ich.

Wo nicht/ o it verhanden

Der bald an auch wird rchen ich/

Und machen euch zuchanden:

Wird ehen laen eine macht/

Im zorn euch bald zerstren.

Diß it geagt/es nehm’ in acht/

Der Ohren hat zu hren.

VV.

I.

Z.

H.

B.

E.

B.

VV. I. Z. H. B. E. B. V. B. E. B. H. Z. I. VV.

B.

E.

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(30)

26 B.

H.

Z.

I.

VV.

VVeil Ihr Zeit Habt Bekennt Ewer Boßheit/

Vnd Beert Euch Bald/Hohe Zeit Its VVarlich.

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27 6.2.1 Erläuterungen zu An die Herrn Titultrager

3 I. O. T. A. Abkürzung von ”Johann Ovens Tochter Anna“; der Buchstab ‚Jota‘ aus dem Griechischen, eventuell Anspielung an die Bibelstelle Matthäus 5,17-19: „IR olt nicht wehnen/ das ich komen bin/ das Geetz oder die Propheten auffzulen/ Ich bin nicht komen auffzulen/ ondern zu erfllen. Denn ich age euch warlich/ Bis das Himel und Erde zurgehe/ wird nicht zur=gehen der kleinet Buchtab [nb: Jota]/ noch ein Ttel vom Geetze/

bis das es alles ge=chehe. Wer nu eines von dieen kleineten Gebotene aufflet/ und leret die Leute alo/ Der wird der kleinet heien im im Himelreich. Wer es aber thut und leret/

Der wirdgros heien im Himelreich.“55

6 M.F.I. und M.F.D.P. Initialen von (Magister) Friedrich Johannes, Pastor in Flensburg, und (Magister) Friedrich Dame (1567-1635), Probst in Flensburg. Friedrich Johannes, Friedrich Dame und Habacuc Meyer (Probst zu Tönning) haben Nicolaus Teting (Knuzten) beurteilt.

Das „Bchlein“ ist Dames Schrift gegen Teting. Im Jahr 1625 veröffentliche Friedrich Dame in Rostock eine Schrift, Abgetrungene Relation deß Colloquii […], wo Teting (Knutzen), Lohmann und ein paar andere als Schwärmer erklärt worden sind. Noch weitere Schriften sind hinzugekommen, und die Flensburger haben wahrscheinlich eine längere Zeit mit den Anhängern der „Enthusiasten“ gerungen auch nach der Flucht von Teting nach Hamburg.56

„Enthusiasten“ sind keine einheitliche Gruppe Menschen der Frühen Neuzeit, es sind eine lutherische Bezeichnung und ein Schlagwort, das ebenso wie „Fanatiker“ benutzt wurde, um religiöse Freidenker*innen zu dämonisieren. Verwiesen wurde

„[…] gerne auf Etymologien hin: Enthusiasmus, von en-theos, von einem Geist oder Gott gefüllt;

Fanatismus, von fanatici, im antiken Griechenland Priester von Besessenheitskulten. Solche Herleitungen bieten Bilder von einem von Geistern oder Dämonen bewohnten Menschen an, der nicht

mehr „Herr im eigenen Haus“ ist.“57

9 Pfaffenknecht FWB: ’pfaffenknecht’ Bedeutung: ›abwertende Bezeichnung der Evangelischen für die (katholischen) Kaiserlichen (im schmalkaldischen Krieg).‹

55 Eigenhändige Transkription von der Lutherübersetzung der Bibel von 1545.

56 Holberg, Ludvig. Almindelig Kirke-Historie fra Christendommens første Begyndelse til Lutheri Reformation, med nogle Anmærkninger over de udi Historien omtalte Cyclis og Aars-Beregninger. Andeen Deel[... ]Tredie Oplag. (Herr Ludwig Baron af Holbergs almindelige Kirke-Historie[...] Fortsat af J. L. K[oehler] oversat paa Dansk og forøget med den Danske Kirke-Historie [von A. Rejersen]. Kopenhagen: Friedrich Christan Pelt, 1765, 646.

57 Scheer, Monique. Protestantisch fühlen lernen: Überlegungen zur emotionalen Praxis der Innerlichkeit. In Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Vol. 15, 2012: S. 179-193.

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Damit wird insinuiert, dass die „Pfaffen“ nicht richtige lutherische Christen sind. Der schmalkadische Krieg wurde von 1546 bis 1547 zwischen dem katholischen Kaiser Karl V.

und dem protestantischen Schmalkadischen Bund geführt.58

10 Fritz Hannen und Fritz Dame Magister Friedrich Johannes und Friedrich Dame.

13 keck FWB: ’kek’ Bedeutung: ›unverschämt‹

15 Schulfucherey Grimm: ‚schulfüchserei‘ Bedeutung: ›schulmäsziges, pedantisches wesen, wertlose gelehrsamkeit‹

17 dem g’meinen Mann Dieser Begriff ist ein komplexes Schlagwort der Reformationszeit und wird in der Kontextualisierung weiter behandelt.

20 Potillen FWB: ’postille’ Bedeutung: ›Predigtreihe zu fortlaufender Erklärung biblischer Schriften‹

21 gelehrt In dem ganzen Gedicht wird mit dem Reim gelehrt-verkehrt gespielt, der auf das Sprichwort „Die gelerten, die verkerten“ anspielt. Das Sprichwort ist analog mit dem

hebräischen Sprichwort aus Pesachim, 112: „Wohne in keiner Stadt, deren Vorgesetzte Gelehrte von Profession sind.“59

29 lstern FWB: ’lästern’ Bedeutung: ›jn. (oft: Gott oder eine andere religiöse Person, auch:

einen Hoheitsträger) lästern, schmähen; jm. übel nachreden, jn. verleumden, verunglimpfen, in seiner Ehre antasten; jn. verhöhnen, verspotten; etw. (z. B. eine Ware) in seinem Wert schmälern, kritisieren‹

58 Schmalkaldischer Krieg, The Oxford Companion to German Literature. Garland, H., & Garland, M. (Hrsg.).

(1997) 2005. https://www-oxfordreference-

com.ezproxy.its.uu.se/view/10.1093/acref/9780198158967.001.0001/acref-9780198158967-e-4723. (2020-12- 02)

59 Gelehrter. Deutsches Sprichwörter-Lexicon von Karl Friedrich Wilhelm Wander. 2008.

http://woerterbuchnetz.de/cgi-

bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=Wander&mode=Vernetzung&lemid=WG00467#XWG00467 (2020-11-20)

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