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Der Evangelist ‒ Schlüssel zum Publikum: Die performative Kraft der Erzählinstanz in J. S. Bachs Johannes-Passion

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Examensarbete – Tyska

Kandidat

Der Evangelist ‒ Schlüssel zum Publikum

Die performative Kraft der Erzählinstanz in J. S. Bachs Johannes-Passion

The Evangelist – Key to the Audience:

The Performative Power of the Narrative Instance in J. S. Bach’s St.

John Passion

Författare: Kerstin Gandler-Årman

Handledare: FD Maren Eckart Examinator: FD Anneli Fjordevik Ämne/huvudområde: TYSKA Kurskod: TY 2007

Poäng: 15 hp

Ventilerings-/examinationsdatum: 2020-07-06

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Vid Högskolan Dalarna har du möjlighet att publicera ditt examensarbete i fulltext i DiVA. Publiceringen sker Open Access, vilket innebär att arbetet blir fritt tillgängligt att läsa och ladda ned på nätet. Du ökar därmed spridningen och synligheten av ditt examensarbete.

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Abstract:

In der vorliegenden Examensarbeit geht es um eine eingehende Analyse der Figur des Evangelisten in der Johannes-Passion von J. S. Bach. Mit Hilfe eines interdisziplinären und intermedialen Ansatzes soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung er als Erzählfigur für das Werk allgemein und für den Rezipienten im Besonderen hat. Wie wichtig sein Erzählbewusstsein im Hinblick auf ein zunehmend medialisiertes und säkularisiertes Publikum ist, soll dabei ebenso beleuchtet werden, wie die Kraft seiner Performativität - sein Potential als theatrale Figur. Der Blick auf eine aktuelle Inszenierung, in diesem Fall die gestreamte Fassung der Johannes-Passion von Peter Sellars in Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern aus dem Jahr 2019 sowie den Libretto-Text des Evangelisten ermöglicht das Untersuchen von Erzählweise, Kommunikationsstrategie und Spielart dieser spannenden und komplexen Erzähler- Figur. Der Fokus auf das epische Moment und die strukturell/dramaturgische Bedeutung des Evangelisten ist dabei bewusst gewählt, da sie mir für die praktische Vermittlung und Darstellung des Evangelisten als relevant erscheinen.

This degree thesis entails a thorough analysis of the Evangelist-character in the St.

John Passion from J. S. Bach. With the help of an interdisciplinary and intermedial approach, the question to be investigated is: which meaning does he have as a narrative figure for the work in general and for the recipient in particular? How important his narrative consciousness is in view of an increasingly medialized and secularized audience should also be illuminated, as well as the power of his performativity - his potential as a theatrical character. The look at a current production, in this case the streamed version of the St. John Passion from Peter Sellars in collaboration with the Berlin Philharmonic from 2019 as well as the libretto of the Evangelist, enables the exploration of narrative style, communication strategy and way of acting of this exciting and complex narrator figure. The focus on the epic moment and the structural/dramaturgical meaning of the Evangelist is deliberately chosen, because I deem them relevant to the practical mediation and presentation of the Evangelist.

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Nyckelord:

Evangelist, Johannes-Passion, J. S. Bach, Erzähler, Erzählbewusstsein, Figurenanalyse, Passionsrezeption, Video-on-Demand, Streaming, Sänger, Darsteller, Gefühlsbindung, Erlebnis, Vermittlung, performativ, Peter Sellars, Mark Padmore

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich bei all jenen bedanken, die durch ihre Unterstützung zur Umsetzung dieser Arbeit beigetragen haben. Besonderer Dank gilt meiner Betreuerin Dr. Maren Eckart, die mich mit wertvollen Anregungen und Impulsen bei der Entstehung dieser Studie wunderbar begleitet hat. Weiters möchte ich der Examinatorin Dr. Anneli Fjordevik und meiner Opponentin Mag. Tina Philipp-Rampa danken, die mit ihren umfassenden Beiträgen meine Opposition mitgestaltet und bereichert haben.

Zu guter Letzt noch herzlichen Dank an Birgit Brey für das Gegenlesen meiner Arbeit und ihre konstruktiven Anmerkungen und an Gabriela Zarzar Gandler für das Übersetzen von Titel und Abstract ins Englische.

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1

Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG ... 2

1.1 VOM EREIGNIS ZUM ERLEBNIS ... 2

1.2 UNTERSUCHUNG UND ZIELSETZUNG ... 4

1.3 METHODE KOMPLEMENTÄRES ERFORSCHEN IM INTERMEDIALEN UND INTERDISZIPLINÄREN VERGLEICH .. 5

1.4 ZUM BEGRIFF PERFORMATIV“ ... 7

1.5 DAS ERLEBNIS-MODELL ... 8

2 ERZÄHLEN IM SPIEGEL DER ZEIT ... 10

2.1 DIE JOHANNES-PASSION VON J.S.BACH EINE KURZE EINFÜHRUNG ... 10

2.2 DIE VERÄNDERTE PASSIONSREZEPTION IN ZEITEN VON ZUNEHMENDER SÄKULARISIERUNG UND VIDEO-ON- DEMAND ... 12

2.2.1 Von der Glaubensvorlage zum theatralen Kunstgenuss ... 12

2.2.2 Vom analogen zum digitalen Erlebnis – die Zeiten von Video-on-Demand und Live- Streaming ... 14

2.2.3 Unter die Lupe genommen – zum Streaming bestehender Produktionen und den Folgen für den Darsteller ... 15

3 VOM VORTRAGENDEN ZUR DRAMATISCHEN FIGUR ... 17

3.1 DER EVANGELIST BEI BACH UMRISSE DER ERZÄHLFIGUR ... 17

3.2 DER EVANGELIST ALS BÜHNEN-FIGUR REZITATION ALS DRAMATISCHE CHANCE ... 18

3.3 DER SÄNGER ALS DARSTELLER ... 21

4 VON DER ABSICHT ZUR EINSICHT ... 22

4.1 NUR ERZÄHLEN? ... 22

5 EINSICHTEN VERMITTELN ... 27

5.1 DIE INSZENIERUNG VON PETER SELLARS GEEIGNETE PLATTFORM FÜR DEN AKT DES ERZÄHLENS ... 27

5.2 DIE PUPPEN TANZEN LASSEN ÜBER DAS ERZÄHLEN ZUR SZENISCHEN MACHT ... 28

5.2.1 Aufmerksamkeit sichern ... 28

5.2.2 Die Strategie – das Erzählmacht-Modell ... 30

5.2.3 Regisseur, Puppenspieler, Spielverteiler ... 31

5.2.4 Beobachten, Spiegeln, Teilhaben und Bezeugen ... 33

5.2.5 Moderieren ... 37

5.2.6 Die Beschädigung der Erzählinstanz durch Statusverlust ... 38

5.2.7 Der starke Performer – abschließende Betrachtung ... 40

6 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK ... 41

6.1 GESCHICHTEN ZEICHNEN UND IMPULSE GEBEN ... 41

6.2 VERSTÄRKTE REZEPTION DURCH THEATRALES SPIEL DIE ART DER VERMITTLUNG HEUTE ... 42

6.3 PASSIONSREZEPTION IM 21.JAHRHUNDERT DER AKTIVE REZIPIENT ALS KREATEUR ... 44

7 QUELLENVERZEICHNIS ... 46

7.1 PRIMÄRQUELLEN ... 46

7.1.1 Werk und Libretto: ... 46

7.1.2 Videoaufzeichnung ‒ Digital Concert Hall (Berliner Philharmoniker): ... 46

7.2 SEKUNDÄRLITERATUR ... 47

7.3 EINFÜHRUNGEN ... 50

7.4 FACHZEITSCHRIFTEN ... 50

7.5 INTERNETQUELLEN ... 51

7.6 NACHSCHLAGEWERKE ... 52

8 ANHANG ... 54

8.1 DAS LIBRETTO... 54

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1 Einleitung

1

1.1 Vom Ereignis zum Erlebnis

Erlebnis bedeutet für mich, die Seele mittels emotionaler Berührung

in Schwingung zu versetzen.

Ein Werk, das musikalisch in hohem Maße zu berühren vermag, ist die Johannes- Passion von J. S. Bach. Vor allem die Musik der wuchtigen Chorsätze und der emotionalen Reflexionen in den Arien machen es einem leicht, körperlich und atmosphärisch in den theatralen Kosmos dieses dynamischen Barockkomponisten einzutauchen. Allein die Rezitative des Evangelisten wollen einen in den auch heute noch meist konzertanten Aufführungen nicht so recht mitreißen und scheinen eher Transportstrecke von Musikerlebnis zu Musikerlebnis als trittsicherer Leitfaden durch die Leidensgeschichte Jesu Christi. Die Gestaltung dieses berühmten Erzählers wirkt oft mehr einer veralteten Tradition verhaftet als der Kommunikation mit dem Publikum. Das erzählerische Moment erschöpft sich dabei häufig in einer wenig differenzierten, dem Gesangsvortrag gänzlich untergeordneten, Wiedergabe historischer Ereignisse, ein darstellerisches Anliegen2 ist nicht erkennbar und die Interaktion mit dem Publikum nahezu nicht vorhanden. Neutralität scheint das Gebot der Stunde zu sein und nicht dramatische Erzählkraft.

Nun ist Musik allein an sich ein körperlich erfassbarer Sinnesrausch. Das Erfahren einer schönen Stimme, harmonischer Vielfalt oder instrumentaler Glanzleistung sorgt für Gänsehaut. Kunstfertiges Ausführen ebenso kunstvoll komponierter Melodien ist beeindruckend und das Einfließen historischer Aufführungspraxis verweist auf Versiertheit und Ernsthaftigkeit im Umgang mit Schöpferwillen und kulturellem Hintergrund (Werktreue). All dies soll hier in keinster Weise geschmälert werden, da es unverzichtbar ist auf dem Weg zum Gesamtkunstwerk.

Aber gerade ein Werk wie die Johannes-Passion, das so stark von seiner biblischen

1 Um ein flüssiges Lesen zu gewährleisten, wird in der vorliegenden Arbeit ausschließlich das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind jedoch immer alle Geschlechter.

2 Vgl. Ritter 1999, S. 15.

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3

Geschichte geprägt und vorangetrieben wird und das auf Grund seiner problematischen Rezeptionsgeschichte3 oft Stoff für Diskussionen bietet, verlangt heute mehr als historisch unterfütterte Tradition und eine dieser verhafteten Interpretation. Musikalischer Gestaltungswille allein reicht nicht aus, um ein Publikum, das sich auf Grund veränderter Rezeptions- und Lebensgewohnheiten einem Überfluss von Angeboten ausgesetzt sieht und das dem „Event“ gerne den Vorzug vor dem „Innehalten“ gibt, bei der Stange zu halten.

„Ein individuell gestalteter Medienkonsum, die wachsende Vielfalt und Gleichzeitigkeit von Ereignissen sowie die Suche nach Identität im Kontext von vereinzelten und gleichzeitig digital vernetzten Lebenswelten haben Einfluss auf Inhalte und Formen des Erzählens.“4 Was die Film- und Fernsehdramaturgin Eva- Maria Fahmüller als Ursache für die „Suche nach zeitgemäßen Geschichten“5 auf Grund von „technische[n]“ und „gesamtgesellschaftliche[n] Veränderungen“6 ortet, lässt sich durchaus auch auf die Notwendigkeit der Suche nach zeitgemäßem Erzählen bereits vorhandener Geschichten übertragen. Die adäquate Vermittlung des Geschehens durch den Erzähler ist daher von essenzieller Bedeutung im Kampf um einen aktiven Rezipienten im 21. Jahrhundert.

Welche Macht die Figur des Erzählers letztendlich wirklich hat, um ein Publikum von heute mit seiner Geschichte zu fesseln, und welche Methoden er verwendet, um eine wirksame Darstellung zu Stande zu bringen und Brückenbauer zwischen Zuschauer und Werk zu sein, das gilt es in der folgenden Arbeit zu erforschen.

Denn wem, wenn nicht dem Evangelisten allein obliegt die Rolle des Präsentators der Rahmenhandlung in der Bach’schen Passion. Ganz allwissender Erzähler ist die deutliche Kommunikation sein „täglich Brot“ – bei ihm müssen Text und Musik als Partner an der Vermittlungsfront stehen. Um in einen relevanten Dialog mit den Zuschauern zu treten, sie in ihrem Alltag zu erreichen und für eine Wahrnehmung zu öffnen, gilt es, auch einen darstellerischen Willen zu entwickeln. „Das theatralische Spiel bringt eine Differenz in die alltägliche Wahrnehmung, es bringt

3Kaum ein biblisches Buch wurde in den letzten Jahren kontroverser diskutiert als das Johannesevangelium.“ (Cebulj 2017, S. 4).

4 Fahmüller 2017, S. 11.

5 Ebd., S. 11.

6 Ebd., S. 11.

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4

die Verhältnisse zum Tanzen. Denn nun ist nicht mehr die Frage zentral, was etwas bedeutet, sondern warum etwas so ist, wie es ist.“7

Das warum?, das wie?8 und das für wen?9 der szenischen Vorgänge laufend neu zu ergründen und nicht einfach nur ein vorgefertigtes was? auf die Bühne zu stellen,10 muss dem Sänger dieser Rolle ein Anliegen im Ringen um eine glaubwürdige Interpretation sein. Konstantin Stanislawski sah das Stellen von Fragen als essenziell für das Mobilisieren der Phantasie und die Erstellung „ein[es] immer genauere[n] Bild[es] des gedachten, imaginären Lebens“.1112 „Jeder Einfall der Phantasie muss genau begründet und fest fundiert sein“.13

Es ist notwendig, die seinem Erzählen innewohnenden Handlungsabsichten und die damit einhergehende performative Dynamik zu eruieren, um die für die Erzählstrategie wichtigen Entscheidungen treffen und Situationen herstellen zu können.14 Erst ein Bewusstsein für die einzelnen Schritte ermöglicht die tänzerische Sicherheit auf dem Erzählparkett und hinterlässt einen Abdruck in der Wahrnehmung der Zuschauer.

1.2 Untersuchung und Zielsetzung

Die vorangegangenen Überlegungen werfen Fragen nach der theatralen Befähigung der Erzählerfigur bzw. ihrem dramatischen Potential im Allgemeinen und dem des Evangelisten im Speziellen auf. Wie seine „praktische“ Kommunikation mit dem Publikum aussehen kann und was ihn über die reine Vermittlung von Geschichte und Handlung hinaus interessant macht, ist genauso zu untersuchen, wie sein Einfluss auf die Bühnenverhältnisse (Figurenhierarchie) und seine kreative Freiheit beim Erschaffen der Ereigniskette.15 Überlegungen darüber, ob und wenn ja, was ihn von den anderen Figuren unterscheidet, in wie weit sich ein Erzähler emotional

7 Stegemann 2009b, S. 49.

8 Vgl. W-Fragen nach Stanislawski (Stegemann 2007; Stanislawski-Reader S. 49 ff.).

9 Vgl. ebd. S. 77.

10 Vgl. Ebert 1998a+c, S. 47 f. und S. 77-82.

11 Stegemann 2007: Stanislawski-Reader. S. 49.

12Ebd.

13 Ebd.

14 Vgl. Stegemann 2009a, S. 13 und Ebert 1998c, S. 77-82.

15 „Insgesamt wird somit deutlich, dass der Prototyp des Narrativen generell immer als eine Kette von Ereignissen verstanden wird, die einander bedingen und durch einen Kausalzusammenhang miteinander verknüpft sind. […] Diese Sukzession der sich gegenseitig bedingenden Ereignisse, eingebunden in eine gewisse ästhetische Form, bildet damit die Grundvorraussetzung [sic!] einer jeglichen Narration.“ (Heiser 2014, S. 220).

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an dem Geschehen beteiligen soll oder ob er eine Verpflichtung zur Neutralität hat, ob er Vermittler oder Verwalter ist, Bindeglied oder Gegenpol und welche Rolle er als Zeuge einer Begebenheit spielt, interessieren mich nicht nur als Publikum, sondern auch als Schauspielerin und Sprachcoach für Sänger - denn ohne Fragen und das Suchen nach Antworten ist eine relevante Darstellung16 unmöglich. Erst die Analyse versetzt den Sänger in die Lage, Worte in Emotionen umzusetzen, sie zu inhaltlich zusammenhängenden Phrasen zu verknüpfen und zu logischen Gedankenbogen zu formen, all das mit dem Ziel, in der Rollengestaltung Authentizität zu erlangen.

In letzter Konsequenz legen die Erkenntnisse über die theatralen Stärken und Schwächen der Erzählfigur die Verantwortung des Darstellers des Evangelisten offen, der einem komplexen (epischen, performativen17 und repräsentativen) Figurenverständnis Rechnung tragen und sich der Reichweite seiner darstellerischen Handlungen für das Werk in seiner Gesamtheit bewusst werden muss. Das Ziel dieser Arbeit ist es somit zu vermitteln, wie wichtig der Aufbau eines Erzählbewusstseins in der Gestaltung dieser Rolle für Vermittlung und die kommunikative Kompetenz des Darstellers ist. Dies ist unumgänglich für die Entwicklung einer eigenen Haltung18 im Sinne einer konsequenten dramatischen Figur und ausschlaggebend für Rezeptionsfähigkeit und Erlebnis des Publikums.

1.3 Methode ‒ komplementäres Erforschen im intermedialen und interdisziplinären Vergleich

Warum das Erzählbewusstsein so wichtig ist, dem versucht diese Studie mit Hilfe eines interdisziplinären Ansatzes beizukommen. Dabei erscheinen vor allem erzähltheoretische, dramaturgische und schauspieltechnische Aspekte interessant, da sie relevant für die Figurenanalyse sind. Als Ausgangsmaterial für Fragestellungen und die Untersuchungen rund um den Evangelisten werden die

16 Der Begriff Darstellung wird in dieser Arbeit nur in der Bedeutung von „theatraler Darstellung“ verwendet.

„Theatrale Darstellung wird häufig, nicht zuletzt auch im lexikalischen Definitionsgebrauch mit Rollendarstellung […] verbunden, ja zuweilen auf sie reduziert.“ (Kurzenberger 2005, S. 55).

17Siehe nachfolgende Begriffsdefinition (1.4).

18Vgl. Stegemann 2010, S. 87.

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gestreamte Inszenierung der Johannes-Passion von Peter Sellars19 und das Libretto20 der Johannes-Passion herangezogen. Das Loslösen des Bibeltextes21 aus dem gesamtdramaturgischen Zusammenhang des Oratoriums ist dabei ebenso bewusst gewählter methodischer Ansatz, wie auch das Fokussieren auf Spielweise und Kommunikationsstrategie des Evangelisten in der gestreamten Vorstellung. Auf das Regiekonzept von Peter Sellars wird nur eingegangen, wenn es für die Beobachtung der Figur von Interesse ist.

Da „Vermittlung […] erst stattfinden [kann; Anp. d. Verfasserin], wenn die Ermittlung abgeschlossen ist“,22 werde ich mich in meiner Arbeit anfangs auf den Theatertext23 konzentrieren und meine Beobachtungen dann auf die praktische Ausführung im Zuge der gestreamten Aufführung ausdehnen. Der Blick auf eine konkrete Inszenierung, ermöglicht eine umfassendere Beobachtung der Figur und das Einflechten wichtiger Aspekte die veränderte Rezeption betreffend.

Durch das Isolieren des epischen Momentes24 wird der Fokus auf das Spektrum der erzählerischen Aufgaben des Evangelisten gerichtet. Die Analyse geschieht ohne Berücksichtigung der Musik Bachs (mit Ausnahme von drei Stellen, wo sie die Figur des Erzählers stark beeinflusst) und großenteils ohne Rücksicht auf theologische und inhaltlich-interpretatorische Zusammenhänge, da vorerst allein die situative Motivation für die Gestaltung der Rollenfigur interessant erscheint.Auch auf den Themenkomplex Antijudaismus im Werkskontext wird in dieser Arbeit nicht eingegangen, da er auf diesen wenigen Seiten nicht Gegenstand der Untersuchung ist. Ich werde darüber hinaus die unterschiedlichen Aspekte von Darstellung in Musiktheater und Schauspiel sowie sängerspezifische Ansprüche beim Erarbeiten der Rolle des Evangelisten nur streifen.

19 Ursprünglich 2014 uraufgeführt wurde in der vorliegenden Examensarbeit die aktualisierte, gestreamte Fassung der Aufführung vom 16. März 2019 analysiert. Siehe Quellenverzeichnis.

20 Siehe Anhang.

21 Für die Analyse ist es nötig, den Text in noch kleinere Segmente/„Abschnitte“ zu zerlegen, um herauszufinden, wo die Übergänge und Schnittstellen der einzelnen Ereignisse bzw. Geschehnisse zu finden sind. (Vgl. Ritter 1999, S. 15). „Die ›Abschnitte‹ ermöglichen die Erfahrung von Anfängen, Abschlüssen, Zäsuren, Wendepunkten innerhalb der ›durchgehenden Linien‹ von Handlungen und den Einblick in den Mikrokosmos einer großen Form.“ (Ebd., S. 15).

22 Heinz 2014, S. 101.

23 „Auch Vorlagen wie eine Opernpartitur oder eine Choreografie werden heutzutage als Ausgangspunkte von Inszenierungen mit dem Begriff des ›Theatertextes‹ erfasst.“ (Kiesler 2019, S. 67). In meiner Arbeit ist der Begriff gleichzusetzen mit dem Text des Librettos der Johannes-Passion.

24 Mit epischem Moment sind hier die Teile des Librettos gemeint, in denen die Passionsgeschichte im Wortlaut der Bibel erzählt wird.

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Inhaltlich formgebend liegt der Arbeit ein „Erlebnis-Modell“ zu Grunde (siehe Kapitel 1.5), das basale Gedanken zum Thema Darsteller, Publikum und Erlebnis grafisch darstellt. Dieses Modell kann auch als konzeptuelle Erklärung zum Titel

„Der Evangelist ‒ Schlüssel zum Publikum“ gesehen werden und bildet gleichzeitig den thematisch übergeordneten Gestaltungsraster der Analyse.

1.4 Zum Begriff „performativ“

Bevor nun in Kapitel 1.5 das Erlebnis-Modell dargestellt wird, sei hier noch ein kurzer Exkurs zum Begriff „performativ“ eingefügt. Da er in dieser Arbeit nicht nur titelgebend („die performative Kraft der Erzählinstanz“) ist, sondern auch im Text immer wieder angewandt wird, ist es wichtig, kurz zu definieren, was unter diesem Terminus auf den vorliegenden Seiten zu verstehen ist:

Performativ ist hier ausschließlich im Kontext von Aufführungen und den damit verbundenen Handlungen25 gemeint. „Der Begriff des P.en bezeichnet in diesem Sinne den Aufführungscharakter von Handlungen, die in Anwesenheit anderer, also öffentlich vollzogen werden. Er bezieht sich insofern auf die theatrale Dimension menschlichen Handelns.“26 Inszenierung, Darstellung, Wahrnehmung der Zuschauenden und deren Interaktion in Form einer Aufführung/Performance sind essentielle Bestandteile von Theatralität.27

Da im Sinne einer relevanten Figurenanalyse der Fokus auf die Zusammenarbeit von Publikum und Darsteller im Rahmen einer Vorstellung gerichtet sein muss, werde ich mich in dieser Studie auf die drei letztgenannten konzentrieren und sie deshalb auch als integrativen Bestandteil des nachfolgenden Erlebnis-Modelles behandeln.

25 Vgl. Fischer-Lichte 2005b, S. 238.

26 Ebd., S. 238.

27 Vgl. ebd., S. 241.

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1.5 Das Erlebnis-Modell

Erst wenn von beiden Seiten, Darsteller und Zuschauer, aufrichtiges Interesse daran besteht, Teil eines Bühnen-Ereignisses28 zu sein, wird die Aufführung zum Erlebnis.

Das folgende Modell versucht, die Wichtigkeit einer Beziehung zwischen Publikum und Darsteller (Bonding29) für das Erlebnis auf einfache Weise grafisch darzustellen.

Was der Darsteller aus der theoretischen Abstraktion an Absichten erkannt hat, vermittelt er über die praktische Kommunikation als Einsicht durch Interpretation der Rolle. Das Publikum nimmt diese Einsicht/Interpretation über die aktive Rezeption auf. Die Wahrnehmung des Zuschauers wird von Rezeptionsgewohnheiten und Erwartungen beeinflusst und kann durch geschicktes

28Ereignis […] bezeichnet im Allgemeinen ein Geschehen von öffentlicher Bedeutung, d.h. ein Vorkommnis, das nicht allein den jeweiligen Urheber betrifft, sondern weitere Kreise zieht. Die deutsche Etymologie verweist auf die enge Relation des Begriffs zum Sehen und zur Wahrnehmung: E. ist, was ins Auge fällt. […] Im engeren Sinne bezieht sich der Begriff des theatralen E.ses auf die Aufführung als solche, d.h. auf die zeitlich und räumlich begrenzte, in körperlicher Ko-Präsenz vollzogene […] Interaktion von Akteuren und Zuschauern. […]

Im weiteren Sinne schliesst [sic!] der Begriff des theatrlen E.ses auch die Vorgeschichte und das Nachwirken einer Aufführung mit ein.“ (Sauter 2005, S. 92 ff.).

29 Bonding ist hier mit dem Wort Gefühlsbindung (nach Fahmüller) gleichzusetzen - siehe nächste Seite. Mein Modell ist von ihrem Zitat inspiriert.

Abbildung 1

Der Evangelist als Schlüssel zum Publikum – Grafik: Kerstin Gandler-Årman

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Bonding (Gefühlsbindung30) mit dem Darsteller gesteigert werden – so wird aus dem dargebotenen Ereignis ein Erlebnis.

Das Erlebnis-Modell ist als Auftakt für die folgenden Analysen und als roter Faden durch die Arbeit zu sehen. Als skizziertes Gedankenmodell erklärt es sowohl den strukturellen Aufbau der Arbeit als auch den Titel Der Evangelist – Schlüssel zum Publikum, indem es die Figur-Zuschauer-Beziehung in den Mittelpunkt des Interesses rückt.

„Eine Gefühlsbindung zu einzelnen Figuren gilt in der Dramaturgie gemeinhin als Voraussetzung dafür, dass sich der Zuschauer für eine Geschichte interessiert“,31 meint die Dramaturgin Eva Maria Fahmüller. Sie führt in ihrem Buch Neue Dramaturgien auch den Literaturwissenschaftler Fritz Breithaupt ins Feld,32 der noch einen Schritt weitergeht und die Einnahme der Sichtweise „eines beteiligten Charakters oder einer beteiligten Person“33 als fundamental für Auffassen und Erleben von Geschehnissen in ihrer Gesamtheit bezeichnet.34 Er erwähnt in diesem Zusammenhang den Begriff Empathie, deren „höchste[] Steigerung“ die „Form der Identifikation“35 sei und bezeichnet sie als „maximal gesteigertes Mitleiden, welches sich im Augenblick erschöpft.“36

Aufbauend auf das Erlebnis-Modell haben sich drei wichtige „Arbeitsfelder“ für das Entstehen eines Erlebnisses beim Konsumieren einer Aufführung herauskristallisiert, zwei betreffen den Darsteller (Absichten erkennen, Einsichten vermitteln) und eines die Zuschauer (Einsichten aufnehmen) - alle drei Felder setzen Aktivität seitens der Teilnehmer voraus. Im komplementären Zusammenwirken

30 Fahmüller 2017, S. 35.

31 Ebd.

32Vgl. ebd.

33 Breithaupt 2009, S. 147.

34 Vgl. ebd.

35Ebd., S. 147 f.

36 Ebd.

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bilden sie ein kreatives Kraftfeld, dessen Resultat, verstärkt durch Gefühlsbindung an zumindest eine der Figuren, ein haltbares ästhetisches und aktives Rezipieren ermöglicht.

2 Erzählen im Spiegel der Zeit

2.1 Die Johannes-Passion von J. S. Bach – eine kurze Einführung

Wie schon am Titel „Johannes-Passion“ erkennbar, behandelt das Werk die Leidensgeschichte Jesu Christi und erstreckt sich inhaltlich von seiner Festnahme über die Verurteilung und Kreuzigung bis hin zur Grablegung. Erzählt wird die Geschichte aus dem Blickwinkel des Evangelisten Johannes, dessen neutestamentlicher Text die inhaltliche Basis der Johannes-Passion bildet. Sein Bibeltext37 macht aber nur einen Teil des gesamten Librettos in Bachs Werk aus, ihm wird freie Dichtung hinzugefügt. Laut Meinrad Walter wird in dieser Phase der

„Passionsmusiken“38 „biblische[r] Wortlaut […] mit auslegenden Texten ergänzt“,39 weiters sei „die geradezu bunte Mehrtextigkeit aus Bibelwort, Choralstrophen und Ariendichtung“40 für den Typus der Oratorischen Passion charakteristisch.

Die Johannes-Passion wird also der Gattung der Oratorischen Passion41 zugerechnet. Sie kann als solche als musikalisches Drama mit geistlichem Inhalt bezeichnet werden oder wie Meinrad Walter es ausdrückt als „konzertante Musik im liturgischen Dienst“42 und geht auf „zwei Wurzeln: die textlich-geistliche in der Predigt sowie die musikalisch-dramatische in der Oper“43 zurück. Die vielfältige musikalische Formensprache liefert ein abwechslungsreiches Hörerlebnis, das mit seinen Turba44-Chören, Arien und Ariosi emotional zu beeindrucken und mit seinen

37 Johannesevangelium, Kap. 18/19 (Vgl. Walter 2011, S. 51 und Dürr 1988, S. 52). Mehr dazu unter Libretto im Anhang.

38 Walter 2011, S. 26.

39 Ebd., S. 26.

40 Ebd., S. 34 f.

41 Inspiriert von Oper und Oratorium wurden im 17. Jhdt. Choräle, liedartige Arien, Generalbass- und Orchesterbegleitung in die Passionen integriert. Secco-Rezitativ, Accompagnato-Rezitativ, Da-Capo-Arie, Arioso und Chöre brachten eine Erneuerung der Passionsgattung. Hierbei stammen große Teile des Librettos aus freier Dichtung. (Vgl. Michels 1977, S. 139).

42 Walter 2011, S. 40.

43 Ebd., S. 35.

44 „Turba (lat. Menge): In Passionsmusiken die Chorsätze der wörtlichen Rede von Gruppen wie der Jünger oder Gegner Jesu. In der Johannespassion sind dies vor allem die jüdischen Gegner Jesu, deren Reden Bach in

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Chorälen nachdenklich zu stimmen versteht. Verbunden werden die einzelnen Erlebnisse durch die handlungstragenden Rezitative (Evangelist) und intensiviert durch die direkten Reden einzelner Rollen (Christus [Vox Christi], Petrus, Pilatus, Diener, Magd).45

Die erste Fassung der Johannes-Passion erlebte ihre Uraufführung in der Karfreitagsvesper des Jahres 1724 in der Nikolaikirche in Leipzig.46 Das Werk sollte in den darauffolgenden Jahren vom Komponisten noch in drei weiteren Ausführungen vorgelegt werden. Von diesen sind heute Fassung I und III mangels erhaltenen Materials nicht mehr aufführbar.47 Die Mischfassung in der Neuen Bach- Ausgabe48 nach Arthur Mendel dominiert im heutigen Konzertleben.

Als geistliche Musik ursprünglich für Kirchenraum und Gottesdienst49 erschaffen – dies zeigt schon die übergreifende Gliederung des Werkes in „Parte Prima“ und

„Parte Seconda“ (vor- und nach der Predigt) - liegen die mittlerweile meist rein konzertanten Aufführungen der Johannes-Passion auch heute noch häufig in der Karwoche, die seit jeher den bevorzugten Rahmen für Passionsmusik bildete.50 So galt laut Walter zu Bachs Leipziger Zeit der Karfreitag „als musikalischer Hauptfeiertag des [protestantischen; Anm. der Verfasserin] Kirchenjahres“.51 Als Aufführungsort dienen gewöhnlich auch jetzt noch der Kirchenraum und Konzertsäle, theologische Themen werden bei dieser Gelegenheit jedoch allenthalben im privaten Kreis diskutiert oder im Stillen bedacht. Schon ab 1766 durfte der liturgische Passions-Vortrag in Leipzig nur noch in gelesener Form stattfinden und um die Jahrhundertwende sei die Passionsmusik „aus dem

einer symmetrischen Ordnung mit dem Choral-Zentrum ›Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn‹ gestaltet, die insgesamt ›Turba-Symmetrie‹ genannt wird.“ Definition entnommen aus: Walter 2011, S. 278.

45Vgl. Walter 2011, S. 40 f.

46 Vgl. Walter 2011, S. 257.

47 Fassung I (1724) und III (1732) können heute, mangels erhaltenen Materials nicht mehr aufgeführt werden

„[…] es sei denn, man greift zum Mittel der Rekonstruktion, was im Blick auf Fassung I gelegentlich geschieht.“

(Vgl. ebd., S. 14).

48 Herausgegeben im Verlag Bärenreiter (siehe Klavierauszug im Quellenverzeichnis).

49 Von Fischer weist im Zusammenhang mit Bachs Passionen darauf hin, dass es wichtig ist, „diese Stücke als betont gottesdienstlich-liturgische Werke in ihrem Zusammenhang mit der theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Situation in Deutschland um 1720/1730 und insbesondere im damaligen, noch der lutherischen Orthodoxie verpflichteten Leipzig zu sehen.“ (von Fischer 1997, S. 102).

50 Vgl. Walter 2011, S. 22.

51 Ebd., S. 23.

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protestantischen Gottesdienst“52 beinahe gänzlich verschwunden hält von Fischer fest.53

„Gleichzeitig mit solcher Distanzierung vom alten Passionsritual vollzog sich im protestantischen Raum ein Abbau von Kantoreifunktionen und die allmähliche Übernahme der Passionsmusiken durch neu gegründete bürgerliche Chorvereinigungen.“54

Durch technische Entwicklung und digitale Rezeptionsmöglichkeiten, ist die Johannes-Passion für ein Publikum von heute jederzeit in aufgezeichneter Form abrufbar und somit unabhängig von Tradition, Zeit, Räumlichkeit und liturgischem Regelwerk konsumierbar.

2.2 Die veränderte Passionsrezeption in Zeiten von zunehmender Säkularisierung und Video-on-Demand

2.2.1 Von der Glaubensvorlage zum theatralen Kunstgenuss

In rechtlich-politischer Hinsicht sind die Demokratien Europas [---] säkulare Gemeinwesen, [---] weil ihnen die Autonomie von Recht, Staat und Politik gegenüber der Religion selbstverständlich geworden ist. [---] In gesellschaftlicher Hinsicht liegt dort eine Säkularisierung vor, wo religiöse, in unseren Breiten vor allem christliche Prinzipien, entweder zurückgedrängt, sogar aufgegeben oder schlicht in Vergessenheit geraten sind, oder wo man gewisse religiöse Prinzipien, etwa das Liebesgebot, zwar beibehält, sie aber auf eine weltliche, profane Weise praktiziert.55

Spielte der Glaube der Gemeinde früher bei der Rezeption eine wichtige Rolle,56 da die Gläubigen sowohl auf bereits bekanntes Liedmaterial stießen als auch dem Verständnis zuträgliches ergänzendes theologisches Wissen mitbrachten, so muss das Werk, von Bach musikdramatisch stark in „Szene“ gesetzt, auch heute - in

52 Von Fischer 1997, S. 112.

53 Vgl. ebd.

54 Ebd., S. 113.

55 Höffe 2018, S. 16.

56 „Charakteristisch für die Oratorische Passion sind drei miteinander zusammenhängende Aspekte: Bibelnähe, geistliche Auslegung und theologisch-poetische Traditionsbindung. Bibelnähe meint das Erklingen des wörtlichen Passionsberichts nach einem der vier Evangelien oder einer Passionsharmonie im Wortlaut der Luther-Bibel. […] Geistliche Auslegung meint das Eintragen der Hörer in die neutestamentliche Botschaft, mit der sie gleichzeitig werden wollen. Sie sollen sich in der Passionsmusik gleichsam auf die Bühnen des Geschehens gespiegelt finden. Deshalb verzichtet die Oratorische Passion auf eine vordergründige Dramatisierung.“ (Walter 2011, S. 36).

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„Video-on-Demand und Live-Streaming-Zeiten“57 - bestehen und ein theologisch nicht bewandertes Publikum fesseln und berühren.58

Nicht zuletzt die Rolle des Evangelisten als Erzählfigur ist hier gefordert, eine

„Brückenbauerfunktion“ für das Publikum einzunehmen und sich verstärkt emotional und strukturierend in das Geschehen einzubringen. Akzentuierung und Gliederung als Kommunikationsstrategie werden noch wichtiger, wenn die Kenntnis der biblischen Erzählung und theologisches Allgemeinwissen nicht mehr vorausgesetzt werden können. Wenn Manfred Pfister in seinem Kapitel „Drama und Film“ die Erzählfunktion der Kamera mit dem fiktiven Erzähler im narrativen Text gleichsetzt und beschreibt, wie wichtig für den „Betrachter eines Films wie de[n]

Leser eines narrativen Textes […] eine perspektivierende, selektierende, akzentuierende und gliedernde Vermittlungsinstanz - die Kamera bzw. de[r]

Erzähler “59 ist, also eine sogenannte „Zwischeninstanz“ zwischen Dargestelltem und Erlebenden (Publikum), so gilt dies in gleichem Maße für den Evangelisten und seine Aufgabe in Bezug auf ein modernes säkularisiertes Publikum.

Die Frage danach, was mit dem dramatischen Element geschieht, wenn das Ritual der Predigt und somit der liturgisch enge Rahmen keine Relevanz mehr besitzt, weil das „Kunstwerk“ nur noch als solches wahrgenommen wird,60 ist äußerst wichtig, denn hier wird die Passionsgeschichte, die „Story“, noch weiter in den Vordergrund rücken müssen, um eine kommunikative Lücke zu füllen. Der Rolle des Evangelisten wird folglich mehr Gewicht zugemessen werden und sein zweifellos vorhandenes szenisches Potential stärker an Bedeutung gewinnen. Zugunsten des publiken Erlebnisses wird die Betrachtung der Handlung mehr Raum geben müssen.

Die „Balance von Bericht und Deutung, von Wort und Antwort, von nach vorn drängender Dramatik und nach innen weisender Meditation im Sinne von Luthers

›ernstlichem Bedenken‹, das in der Johannespassion des Thomaskantors

›Betrachten‹ und ›Erwägen‹ heißt“,61 wird somit automatisch einer Verschiebung in Richtung des Dramatischen weichen und das konzertante Element in den

57 Mehr dazu in Kapitel 2.2.2 in der vorliegenden Arbeit.

58 Vgl. Höffe 2018, S. 12.

59 Pfister 1977, S. 48.

60 ”Insbesondere Bachs Passionswerke stehen seit ihrer Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert in der Spannung von ursprünglich liturgischer Bestimmung und späterer konzertanter Rezeption im Kirchenraum oder Konzertsaal.“ (Walter 2011, S. 25).

61 Walter 2011, S. 26 f.

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Hintergrund treten. Das bestätigt auch die hohe Zahl an szenischen Aufführungen im 21. Jahrhundert. Meinrad Walter listet zw. 1930 und 2018 um die 20 szenische Interpretationen der Johannes-Passion,62 wobei allein 15 Stück zwischen 2000 und 2018 liegen. Hier lässt sich ein deutlicher Trend ablesen.

2.2.2 Vom analogen zum digitalen Erlebnis – die Zeiten von Video-on- Demand und Live-Streaming

Die Formen der Narration und Rezeption werden auch durch eine zunehmend digitale Lebensform verändert. Die Legitimität der szenischen Umsetzung des ursprünglich kirchlich-konzertanten63 Stoffes liegt schon allein durch die veränderten Rezeptionsgewohnheiten des Publikums auf der Hand. In Zeiten von Video-on-Demand und Live-Streaming wird in Zukunft kein Konzertveranstalter, Theater oder Opernhaus drum herumkommen, sich mit dem Erstellen von digitalen Spielplänen und dem Entwerfen von digitalen Konzerthäusern auseinanderzusetzen.

Nicht zuletzt die aktuelle Corona-Krise64 treibt den längst überfälligen Diskurs rund um dieses Thema voran - ob Berliner Theatertreffen65, Bachfest Leipzig oder Wiener Staatsoper – es gibt wohl kaum einen kulturellen Akteur, der 2020 nicht über eine nachhaltige „Netz-Strategie“ nachdachte. Und auch wenn das Publikum nach dieser Krise wieder vermehrt physisch in Theaterbau oder Konzertsaal zurückkehrt, wird die digitale Form der Rezeption von Kunst und Kultur in starkem Ausmaß erhalten bleiben. Analoge Präsentation und digitale Interaktion werden sich inspirieren, aneinander reiben66 und eine gemeinsame Entwicklung durchmachen, die im besten Fall Innovationen im sowohl technologischen als auch künstlerischen

62 Vgl. Walter 2011, S. 272.

63 Siehe Kapitel 2.1. in der vorliegenden Arbeit.

64 Coronavirus SARS-CoV-2, Covid 19, wurde am 11.03.2020 im Zuge weltweiter Ausbreitung von WHO als Pandemie bestätigt. Siehe Quellenverzeichnis.

65 Auf Grund der Corona-Pandemie 2020 fand das Berliner Theatertreffen vom 1. - 9. 5. 2020 zum ersten Mal in seiner Geschichte im virtuellen Raum statt. Es streamte nicht nur sämtliche Finalisten für ihr Publikum, sondern veranstaltete auch ein Kontext-Programm, mit dem Namen „UnBoxing Stages – digitale Praxis im Theater“. <https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/programm/on-demand/tt-virtuell.html>

[letzter Zugriff: 29.06.2020]).

66”Mit Blick auf das Theater und die Theaterwissenschaft sind zwei konträre Auffassungen zu I. [Intermedialität – Anm. d. Verf.] zu konstatieren. Medienpuristischen Vorstellungen auf der einen Seite, die Theater auf die konkrete leibliche Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern beschränken und insbesondere den Einsatz technischer Medien wie Film, Video, Mikrophon etc. weitgehend minimieren wollen, stehen Positionen gegenüber, die sowohl historisch als auch strukturell produktive Medienkollisionen als konstitutiv für jegliche Form von Theater verstehen. Statt von einer klaren Trennung und Hierarchisierung verschiedener Medien […]

auszugehen, wird deren Interaktion und Wechselverhältnis in Theater und anderen Künsten betont. Diese beiden Tendenzen […] finden sich auch in der Theaterpraxis wieder.“ (Kolesch 2005, S. 160).

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Bereich hervorbringt. Wie groß die Notwendigkeit ist, sich mit der digitalen Welt zu beschäftigen, zeigt auch die 2019 von Regisseur Kay Voges gegründete

„Akademie für Theater und Digitalität“ in Dortmund67 – eine Spielwiese zur

„kreative[n] Erprobung digitaler Technik auf der Bühne“.68 Unter dem Artikel „Die Bühne geht ins Netz“ beschäftigt sich Autor und Dramaturg Tom Mustroph in der aktuellen Maiausgabe (05/2020) von Theater der Zeit mit dem Thema Digitalisierung im Theater. Er stellt fest, dass es wichtig wäre, „die Kommunikations-, Interaktions- und Perzeptionsdynamiken […], die das Theater so einzigartig machen […] in den digitalen und virtuellen Raum zu übertragen und weiterzuentwickeln.“69 Er verweist ferner darauf, dass „[i]n der Verschränkung von virtuellen, digitalen und analogen Räumen […] neben den neuen technischen Möglichkeiten große Potenziale [liegen; Anp. der Verfasserin].70

2.2.3 Unter die Lupe genommen – zum Streaming bestehender Produktionen und den Folgen für den Darsteller

Beim Streaming bereits bestehender Produktionen hat die Transformation der Aufführungen vom analogen zum digitalen Erlebnis nicht nur weitreichende Folgen für das Narrativ, sondern auch für Inszenierung, Aufführungsraum und Rezeption, ganz zu schweigen von der darstellerischen und kreativen Herausforderung, der die ausführenden Künstler gegenüberstehen. Gesten, Mimik, Tempo und Bewegungsmuster müssen einer übergeordneten Kamera-, Licht- und Schnittregie Rechnung tragen. Denn wird gezoomt, geschwenkt, perspektiviert, fokussiert, den Ausführenden visuell Raum gegeben und Raum genommen, so liegt das vermittelte Erlebnis nicht mehr einzig in der Hand des Darstellers. Da kann es durchaus vorkommen, dass sich die Erzählfigur im Off als eine Art „Voice-over“71 wiederfindet, währenddessen Bildausschnitte parallel stattfindender Bühnenmomente gezeigt werden. Die geänderten Bedingungen verlangen nach

67 Vgl. Nioduschewski 2019b, S. 17.

68Nioduschewski 2019a, S. 12.

69 Mustroph 2020, S. 27.

70 Ebd.

71 „Als Voice-Over bezeichnet man die Stimme eines weiblichen oder männlichen Erzählers, der auf der Leinwand oder Bildschirm nicht präsent ist, sich jedoch auch nicht im Feld außerhalb des Bildkaders (off screen) aufhält, also nicht mit der Off-Stimme einer im kinematografischen Raum anwesenden Figur verwechselt werden darf. Die Erläuterungen der Voice-Over kann erklären und interpretieren, aber auch werten und manipulieren.“ (Grzeschik 2002, S. 305, zitiert nach Heiser 2014, S. 12).

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einer differenzierteren Spielweise, auch wenn bei einer für das Streaming gedachten Aufzeichnung der chronologische Ablauf des Werkes erhalten bleibt. Denn der digitale Prozess ist hier nur „optionale[s] Mittel eines an sich unveränderlichen Darstellungsmodells“72 (also mehr „Schauspiel und Medien“73 als „Schauspiel durch Medien“74). Und auch wenn das Modell an sich, in unserem Fall der Ablauf der Inszenierung, noch keine Rückschlüsse auf die Wirkung der Performance zulässt, so tun es sehr wohl andere technische Parameter (siehe oben). Denn der Wechsel zwischen Großaufnahme und Nahaufnahme bestimmt Flow75 und Fokus und die Einzelleistungen der Darsteller werden in Close-up und Totale in stärkerem Maße über Kontakt oder Nicht-Kontakt mit dem Publikum vor dem Schirm entscheiden, über Relevanz und Akzeptanz des vermittelten Stoffes. Ist das Dargebotene nicht angelegen genug, wird sich der Rezipient anders als im Konzertsaal mit einem Klick aus dem Geschehen auskoppeln.

Als audiovisuelles Medium ist dem Film eine präsentische Grundform eigen, da dem Zuschauer das Dargestellte immer als etwas unmittelbares, in genau diesem Moment geschehendes, vermittelt wird. Dies liegt unter Anderem [sic!] daran, dass die zeitliche Gegenwart des Dargestellten mit der zeitlichen Gegenwart des Zuschauers korreliert und so ein Jetzt-Eindruck entsteht, der durch bestimmte narrative Mittel noch verstärkt werden kann. Dazu zählt zum Beispiel das direkte Ansprechen des Zuschauers durch eine Figur.76

Die Konzentration auf die inhaltliche Aufbereitung des Werkes und das mikroskopisch genaue Ergründen der Motivationen der Figuren in Bezug auf ihr szenisches Handeln wird in der Vorbereitung von höchster Wichtigkeit sein, denn die Kamera deckt jeden falschen Untertext77 und nicht gemeinten Satz auf und empfindet die Figur schnell als unglaubwürdig. In unserem Fall muss der Sänger als Darsteller, Kraft seiner intellektuellen, sensuellen, stimmlichen - also seiner handwerklichen – Fähigkeiten, die Aneignung soweit vorantreiben, dass er eine für alle verständliche und zugängliche Figur und berührende Authentizität erschaffen

72 Ernst 2007, S. 34.

73 Ebd.

74 Ebd.

75 ”Für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Theaterspielflow ist einerseits das spielerische Moment zwingend erforderlich: Dieses stellt sich dann ein, wenn ein Schauspieler eine Situation potentiell kontrolliert (ohne sie vollständig kontrollieren zu können), wenn er sich seiner Handlungen relativ sicher ist (ohne sich absolut sicher zu sein), wenn er eine situative Offenheit und Wendigkeit aufbringt (ohne unflexibel an vorgefertigten Konzepten, Vorgängen und Abläufen festzuhalten).“ (Sachser 2010, S. 73).

76 Heiser 2014, S. 218.

77 Stanislawskis Definition von Untertext: „Es ist das nicht offen ersichtliche, aber innerlich spürbare ›geistige Leben der Rolle‹, das beständig unter den Worten des Textes strömt und sie unablässig rechtfertigt und belebt.

[…] Das, was wir im Bereich des Tuns die durchgehende Handlung nennen, bezeichnen wir auf dem Gebiet des Sprechens als Untertext. (Stegemann 2007: Stanislawski-Reader. S. 148 f.).

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kann - unabhängig davon, ob der Zuschauer sich körperlich „vor Ort“ befindet oder im virtuellen Raum daran teilnimmt. Weiters wird es Aufgabe des Regisseurs sein, diese Arbeit zu begleiten, die Partitur in für den Betrachter zugängliche, starke Bilder und Zeichen78 umzusetzen und eine übergreifende Vision zu entwickeln.

Hierbei ist zu bedenken, dass beim Streaming sowohl das Saalpublikum als auch die Musiker79 als Teil der Aufführung begriffen werden, da sie in unterschiedlichen Ausschnitten präsentiert und somit Teil des gestreamten Narratives werden. So verweben sich ihre Reaktionen auf das Dargebotene bzw. ihre Interaktion mit den Darstellern - im Fall der Johannes-Passion Chor und Solisten – für den Zuschauer vor dem Schirm visuell zu einem Gesamt-Erlebnis. Schön zu sehen im Streaming der Inszenierung von Peter Sellars: Auftritte und Abtritte des Ensembles pochen auf Aufmerksamkeit, der Applaus des Publikums lässt sich ebenso wenig aus der Zuschauerwahrnehmung herauslösen wie Saalbeleuchtung und -architektur. Da wird Treppennotbeleuchtung zu Seitenwänden und das Licht eines einzelnen Scheinwerfers zum Spielraum. Der Saal ist gleichsam Bühnenbild und entführt die Zuschauer in die imaginäre Welt des „Theater[s] der Einbildung“.80

3 Vom Vortragenden zur dramatischen Figur

3.1 Der Evangelist bei Bach – Umrisse der Erzählfigur

Als Erzähler der Passionsgeschichte kommt dem Evangelisten in der Johannes- Passion eine entscheidende Rolle zu. Als Rückgrat des Werkes, um dessen rezitativische Inseln Bach emotionales Erleben und „betrachtende Reaktionen“81 im Sinne der Glaubensvertiefung gruppiert hat, ist er Guide, Beobachter, Zeuge und Moderator in einem und legt gleichzeitig einen narrativen Ring um das musikalische Geschehen. Als auf den ersten Blick „statisch konzipierte[] Figur[..]“82 in einer

78 Im Kontext einer Inszenierung können Zeichen zur Anwendung kommen. (Vgl. Fischer-Lichte 1983, „Das System der theatralischen Zeichen“).

79Hierbei meine ich nicht die von Peter Sellars bewusst ins Zentrum inszenierten Musiker, sondern das Orchester in seiner Gesamtheit.

80 ”Theater der Einbildung“ ist der Titel des Buches von Benjamin Wihstutz, das sich mit der „Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers“ beschäftigt. Siehe Quellenverzeichnis.

81 Walter 2011, S. 48.

82 Pfister 1977, S. 241.

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geschlossenen Geschichte wird ihr in der Johannes-Passion schnell eine dynamische Komponente zuteil. Dies ergibt sich sowohl aus der formalen Konzeption, „Testo (Evangelist), Vox Christi (Christusworte), Personae alienae (weitere Personen wie Petrus, Pilatus, Diener, Magd) und Turbae (Gruppen der Widersacher Jesu und der Kriegsknechte) sind die ›Rollen‹ des biblischen Berichts in der Richtung nach vorn“,83 als auch aus der „für das Drama tauglich[eren]“ revolutionären Situation.84 Auch musikalisch wird dies vom Komponisten forciert:

In der Johannespassion lässt bereits der Evangelisten-Einsatz auf dem hohen a die Dramatik erahnen, mit der die Geißelung […] musikalisch vergegenwärtigt wird. Im gesamten Werk hat kein anderes Wort eine auch nur ähnliche Ausdehnung wie dieses »geißelte« mit seinen 51 Noten in der Singstimme. Wie unerbittliche Schläge wirken die Punktierungen des Generalbasses, welche den Evangelisten gleichsam einpeitschend weiterdrängen.85

Der Darsteller des Evangelisten hat vorrangig drei übergeordnete „Funktionen“ – eine narrative, (die getreue Wiedergabe des Textes des Autors Johannes), eine pädagogische, er ist für die verständliche Vermittlung des Inhaltes an das Publikum zuständig und zu guter Letzt eine dramatische, er muss das Publikum durch seine Spielweise berühren, um es so für die Kommunikation zu öffnen.86

3.2 Der Evangelist als Bühnen-Figur – Rezitation als dramatische Chance

Der Begriff „vermittelndes Kommunikationssystem“87 aus der Literaturwissenschaft als Bezeichnung für den Erzähler ist höchst zutreffend.

Die Rolle des Evangelisten als „Erzählinstanz“ für das Publikum lässt sich also prinzipiell gleichsetzen mit der des Erzählers eines literarischen Textes - mit dem Unterschied, dass er als Figur im Drama mit Hilfe von Gestik, Mimik, Stimme, Emotion und Untertext viel stärker in der Lage ist, Schwerpunkte zu setzen, Figuren zu werten, Ereignisse in Frage zu stellen, Doppelbödigkeiten offenzulegen, ganz

83 Walter 2011, S. 41.

84 Vgl. Stegemann 2009a, S. 11 + S. 24 f.

„Wenn die Herrschenden nicht mehr so können, wie sie wollen, und die Beherrschten nicht mehr gehorchen, wie sie sollen, dann spricht man von einer revolutionären Situation.“ (Stegemann 2009a, S. 11).

85 Walter 2011, S. 153.

86 Im kommunikativen Prozess auf den Ebenen des Spielsystems bezieht sich das Spielen des Sch.

[Schauspielers; Anm. der Verfasserin] auf Spiel-Handlungen des ›Darstellens‹ von etwas, von dem er eine bestimme ›Vorstellung‹ besitzt. Diese Vorstellung von jenem Etwas sucht er durch sein spielendes Darstellen für den Zuschauer zur Schau zu stellen, indem er es vorspielt, damit der Zuschauer ebenfalls eine Vorstellung davon bekommt. (Kreuder 2005, S. 286).

87Vgl. Pfister 1977, S. 223.

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einfach die Rezipienten in größerem Maße zu beeindrucken. Die auf diese Weise geformte physische Darstellung des geschriebenen Wortes gibt ihm mehr Profil und Flexibilität. Auf den Punkt gebracht, der Evangelist als Erzähler-Figur im Drama macht dem Publikum ein Angebot - ähnlich dem des Erzählers als vermittelnde Instanz in der Literatur an den Leser eines narrativen Textes:

Im Prinzip kann jede kommentierende Äußerung einer Figur (sowie auch des Erzählers) über sich selbst, über eine andere Figur, über eine erzählte Situation ein Angebot an den Leser sein, sein Wahrnehmungsverhalten entsprechend auszurichten. 88

Dieses Angebot wird durch die physische Darstellung intensiviert und das Erlebnis für den Zuschauer verstärkt.

Aber dem Erzähler auf der Bühne muss es initial gelingen, das Interesse der Rezipienten zu wecken. Er muss sich als Erzählfigur schon zu Beginn genügend Raum geschaffen haben, um seine Vermittlungsposition voll und ganz wahrnehmen zu können. Hans Martin Ritter benennt „die Aufmerksamkeit von seiten der Zuschauer“ als „zentrales Moment“ der von der Bühne gestellten

„Herausforderungen“.89

Der Schauspieler begegnet der Aufmerksamkeit des Zuschauers mit seiner eigenen Aufmerksamkeit: dem Vorgang, der Figur, dem Partner – und schließlich auch dem Zuschauer gegenüber, von diesem Gesichtspunkt her setzt die elementare Arbeit für das Sprechen auf der Bühne weit vor dem eigentlichen Wortlaut ein..90+91

Augenkontakt und offene Körperhaltung sind eine gute Voraussetzung, um eine Interaktion zu etablieren, notengebundenes Vortragen eher weniger. Das ist keine Degradierung der Konzertsituation per se, aber in diesem Fall halte ich aus den schon erwähnten Gründen die Betonung einer konzertanten „Vorsingsituation“ als der Rezeption bis zu einem gewissen Grad abträgliche Form der Vermittlung.

Die Vermittlung ist von Sänger zu Sänger verschieden und geprägt von seiner subjektiven Haltung zum dargestellten Text, von den vorhandenen handwerklichen

88Fieguth2017,S.155.

89 Vgl. Ritter 1999, S. 21.

90 Ebd.

91 Da in dieser Arbeit des Öfteren aus dem Bereich der Schauspieltheorie bzw. Dramentheorie zitiert wird, ist immer wieder vom Schauspieler/Sprecher die Rede. Dies mag für den Leser etwas verwirrend scheinen, da der Darsteller des Evangelisten in der Johannes-Passion üblicherweise ein klassischer Sänger ist. Weil aber der Sänger in seiner Funktion als Darsteller auch Schauspieler ist, kann man die Begriffe synonym denken.

Das gilt auch für den Akt des Sprechens, der hier synonym für das Singen gilt.

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Fertigkeiten im Umsetzen derselben, von seinen stimmlichen Voraussetzungen (z.

B. etwaigen Begrenzungen) sowie von seiner Präsenz. Für das Publikum wird so von Mal zu Mal ein individuelles Rezipieren möglich, geprägt von subjektiven Vorerfahrungen, vorhandenem Vorwissen und Prägnanz der Vermittlung.

Der Evangelist stellt durch seine Art der theatralen Darstellung für den Zuschauer transparente und emotional deutbare Szenarien her, die diesen über das reine Verständnis hinaus zur Emotion verleiten. Wohl durchdachtes Agieren innerhalb und außerhalb des „vermittelnden Kommunikationssystems“,92 etwa durch gezieltes Durchbrechen der 4. Wand 93, so wie ein gut balanciertes Einsetzen seiner epischen Spielweise 94 sind Voraussetzung und Beweis für eine umfassende narrative Kompetenz, die den Evangelisten schnell zu einer hierarchisch übergeordneten Instanz und zur wichtigsten Spielfigur auf der Bühne macht. Sie ähnelt „durch ihre kontinuierliche Bühnenpräsenz“95 und Spielleiterfunktion der bei Pfister erwähnten

„Regiefigur“.96 „Der Erzähler ist als Vermittlungsinstanz deutlich wahrnehmbar, bewertet und filtert das Geschehen, fasst zusammen und reguliert offensichtlich den Erzählfluss wie das Mitgeteilte.“ 97 Sein „narrativer Modus“98 nach innen und außen verlangt vom Darsteller große Flexibilität.

Nun muss der Schauspieler sein Spiel so entwickeln, dass er in zwei Richtungen zugleich agieren kann. Er muss mit den Zuschauern kommunizieren, und er muss mit seinem Partner und dessen Figur zusammen agieren. […] Der Zuschauer würde nicht mehr die Figuren sehen und ihren Handlungen folgen, sondern er wird mit der Erzählung einer Handlung konfrontiert, in deren Verlauf einige Passagen dargestellt und andere berichtet werden.99

Stegemann sieht in der epischen Spielweise eine Verbindung von „realistischer Verkörperung“ und „zeigendem Spiel“, die das Bewältigen von zwei Realitäten

92 Vgl. Pfister 1977, S. 109.

93 „Mit der vierten Wand entsteht eine Beobachtungssituation, in der Zuschauer sich nicht mehr als Grund und Adressat des Theaters begreifen muss. Er ist für die gespielten Figuren nicht anwesend, denn Publikum und Bühne sind durch eine gedachte Wand voneinander getrennt. Zugleich verschwindet der Zuschauer aufgrund der sich verändernden Spielwiese, die nicht mehr an ihn adressiert ist, auch zusehends für sich selbst. Der Zuschauer wird zum Beobachter einer Situation, die durch das Ausblenden seiner Anwesenheit eine fundamentale Bedingung des Theaters verändert. […] Im Theater ohne vierte Wand ist das Schauspiel immer doppelt adressiert: Es meint die Mitspieler und es meint die Zuschauer.“ (Stegemann 2013, S. 172 f.).

94 Stegemann 2011, S. 107.

95Pfister 1977, S. 111.

96 Vgl. ebd., S. 111.

97 Allkemper/Eke 2004, S. 112.

98 Die Unterscheidung zwischen narrativem und dramatischem Modus gibt Auskunft über „die Vermittlung des narrativ Dargestellten“. (Ebd., S. 112).

99 Stegemann 2009b, S. 47.

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voraussetzt, so muss der Spieler die vorgestellte Situation entstehen lassen und gleichzeitig „zur Diskussion stellen“.100

Die richtige Balance zu finden zwischen Zeigen und Erleben, ist der Gradmesser für den Status der Erzählfigur. Kippt er zu viel in die eine oder andere Richtung, kann ihn das schnell in Bedrängnis bringen und ihn vom starken Partner und Verbündeten des Publikums zu einem schwachen Berichterstatter machen. Was vorher noch Hauptfigur wird plötzlich zur Nebenfigur, verliert an Status und verschwindet in der Menge auf der Bühne. Mehr dazu in Kapitel 5.2.6.

3.3 Der Sänger als Darsteller

Gesungen wird der Evangelist von einem Tenor – er erzählt in „Continuo- begleiteten Rezitativen“.101 In seiner Funktion als Darsteller hat der Sänger epische, dramatische und organisatorische Aufgaben zu übernehmen, wann er von der einen in die andere Funktion gleiten muss, zeigt ihm das Herausarbeiten der Absichten durch die Textanalyse.102

Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass bei einem musikdramatischen Werk wie diesem die Musik großen Einfluss auf Phrasierung, Dynamik und Intensität der Darstellung hat und der Ausführende sich in stärkerem Ausmaß an formale Gegebenheiten anpassen muss. Der Sänger ist also nicht gänzlich frei in der Wahl seiner Darstellungsmittel - auch wenn die Form des Rezitativs dem Evangelisten noch relativ große Gestaltungsmöglichkeiten lässt.103

Die Musik ist jedoch vorerst zweitrangig. Zuerst ist es wichtig, dass der Darsteller des Evangelisten die Absichten des Erzählers kennt, denn „die Geschichte liegt als das Präsentierte der Darstellung zugrunde und kann vom Rezipienten aus der

100Vgl. Stegemann 2011, S. 107.

101 Lichtenfeld 2020, S. 19.

102 Siehe Kapitel 4 in der vorliegenden Arbeit.

103 Gesangliche Anforderungen können sich je nach Musizierpraxis ändern: Wird das Werk auf Originalinstrumenten gespielt ändern sich die Anforderungen an den Sänger. Barockinstrumente sind auf 415 Hz gestimmt und moderne auf 440, die Erhöhung um einen Halbton kann das Singen dieser Partie um einiges erschweren.

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