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Examensarbete Erinnern Kriegsenkel anders als Kriegskinder? Ein Vergleich der Erinnerungsformen in Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders und Katja Petrowskajas Vielleicht Esther

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Academic year: 2021

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Examensarbete

Erinnern Kriegsenkel anders als Kriegskinder?

Ein Vergleich der Erinnerungsformen in Uwe Timms Am

Beispiel meines Bruders und Katja Petrowskajas

Vielleicht Esther

Do grandchildren of the war generation remember differently than war children?

A comparison of different forms of remembrance in Am Beispiel meines Bruder of Uwe Timm and Vielleicht Esther of Katja Petrowskaja

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Abstract:

Vorliegende Arbeit thematisiert das Erinnern an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust in den Werken Am Beispiel meines Bruders des deutschen Autors Uwe Timm und Vielleicht Esther der ukrainischen Autorin Katja Petrowskaja. Die Arbeit stützt sich auf den kultur- und erinnerungswissenschaftlichen Hintergrund der Kulturwissenschaftlerin und Erinnerungsforscherin Aleida Assmann. Ausgehend von den theoretischen Grundlagen werden Gemeinsamkeiten im Erinnerungsprozess herausgearbeitet und Unterschiede beim individuellen, sozialen und kollektiven Erinnern aufgezeigt, die sich insbesondere dadurch ergeben, dass beide Autoren unterschiedlichen Nachkriegsgenerationen angehören. Das individuelle Erinnern in beiden Werken wird anhand folgender Kriterien untersucht: Umgang mit dem Vergessen, gewählte Erzählmethode, Grundhaltung des Erinnernden und Zielsetzung beim Erinnern. Der Vergleich des sozialen Erinnern baut auf einer Analyse des spezifischen sozialen Kontextes, in dem erinnert wird, auf. Außerdem wird gegenübergestellt, wie und in welchem Ausmaß die Werke zum kollektiven Erinnern beitragen, und welche Bedeutung Erinnerungsorte für den kollektiven Erinnerungsprozess haben.

Nyckelord:

Erinnerungsliteratur, Erinnern, Vergessen, kollektives Erinnern, individuelles Erinnern, soziales Erinnern, Erinnerungsort, Erinnerungsraum, zweite

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1 Einleitung

„Wir haben das 20. Jahrhundert verlassen, aber es hat uns nicht verlassen˝, schreibt Aleida Assmann über die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart.1 In Deutschland sind die Erinnerungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts stark mit den Ereignissen des 20. Jahrhunderts verbunden. Krieg und Nationalsozialismus, Flucht und Vertreibung stehen im Zentrum der Erinnerungen. Diese Themen werden in der deutschen Erinnerungsliteratur auf vielperspektivische Weise ins Bewusstsein gerufen. Verschiedene Generationen erinnern dabei Geschichte auf ihre individuelle Weise. In der deutschen Erinnerungsliteratur der Nachkriegszeit unterscheidet man drei Generationengruppen von Autoren: Die Autoren der frühen Werke der Erinnerungsliteratur waren direkte Zeitzeugen, die das Erinnerte selbst erlebt haben.2 In der ersten Generation sind Erinnerungen immer auch Zeugnisse der Zeit und die Erinnernden waren entweder als Opfer oder Täter direkt an der Geschichte beteiligt. Nachdem Zeitzeugen zu Beginn des 21. Jahrhunderts rar geworden sind, kommen in der neueren deutschen Erinnerungsliteratur die Nachfolgegenerationen, also die Kriegskinder und -enkel zu Wort. Die Angehörigen der zweiten Generation haben meist nur ein lückenhaftes Bild der zu erinnernden Ereignisse, da sie zum Zeitpunkt des Zweiten Weltkrieges Kinder waren oder erst während dieser Zeit geboren wurden. Diese Generation versucht, eigene Erinnerungen im Dialog mit der Elterngeneration zu komplettieren. Dabei stößt sie oft an die Grenzen der Erinnerungsmöglichkeiten, vor allem weil sich die Eltern im Verdrängungsprozess des Grausamen oft in Schweigen hüllen und dem Dialog ausweichen. Die dritte Generation zeichnet sich durch noch größere Distanz zum Geschehenen aus. Sie erinnert ausgehend von lückenhaften Erzählungen, Filmen, Fernsehdokumentationen, Bildern und Texten. Ihre Erinnerungen werden damit zu einem Balanceakt zwischen Erinnern und Vergessen, zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Wahrheit und Erfundenem.3 Assmann betont die gemeinsame Verantwortung der zweiten und dritten Autorengeneration: „Es ist die Aufgabe der zweiten und dritten Generation, diese streng getrennten Überlieferungen des subjektiven Familiengedächtnisses und des heutigen objektiven historischen Wissens zusammenzuführen.”4

Uwe Timms Werk Am Beispiel meines Bruders gehört zur zweiten Generation der Erinnerungsliteratur. Uwe Timm recherchiert die Geschichte seines im Zweiten Weltkriegs als

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Mitglied der Waffen-SS gefallenen Bruders, an den er nur eine einzige direkte Erinnerung hat. In Vielleicht Esther begibt sich die der Enkelgeneration angehörende Petrowskaja, also eine Autorin der dritten Generation, auf eine Erinnerungsreise, deren Ziel darin besteht einzelne Familienmitglieder wie bspw. die Großmutter, die als Jüdin in Babij Jar ermordet wurde, ins Gedächtnis zurückzurufen. Beide Werke weisen eine Vielzahl von vergleichbaren Voraussetzungen für das Erinnern auf: Es handelt sich um Familiengeschichten mit autobiografischem Bezug; beide Autoren sind gezwungen, auf externe Materialien zurückzugreifen, um die Erinnerungsarbeit zu verdichten. Bei beiden Autoren werden fragmentarische Erinnerungen geordnet und strukturiert und der Nachfolgegeneration in Form eines kohärenteren Erinnerungsbildes zur Verfügung gestellt. In beiden Werken spielt die Problematik des Vergessens eine große Rolle. Dennoch erfolgt die Erinnerungsarbeit auf sehr unterschiedliche Art und Weise, was bspw. Erzählstil, Sprache, Raum, Grundstimmung und Vorgehensweise beim Erstellen des Erinnerungsbildes betrifft. Diese Unterschiede werden im weiteren Verlauf der Arbeit herausgearbeitet.

Die vorliegende Arbeit knüpft an den kulturtheoretischen Definitionen und Überlegungen von Assmann an, wobei der Fokus auf der Darstellung unterschiedlicher Formen und Dimensionen von Erinnerung und der Bedeutung von geschichtlichen Erinnerungsorten liegt.5 In der Analyse werden unterschiedliche Erinnerungsformen erläutert, vertieft und gegenübergestellt.

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2 Fragestellung und Themawahl

Die Arbeit stützt sich auf einen kultur- und erinnerungswissenschaftlichen Hintergrund und setzt speziellen Fokus auf die Arbeiten der Kulturwissenschaftlerin Assmann. Ausgehend von diesem theoretischen Gerüst werden die Themengefüge Erinnerung und Vergessen in den Werken analysiert und gegenübergestellt. Das Thema ist bis in die heutige Zeit von großer Bedeutung, da die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges, des Holocaust und der damit verbundenen Vertreibung auch heute noch nicht als abgeschlossen angesehen werden kann. Dabei ist ein veränderter Umgang mit Erinnerungen in der Gesellschaft festzustellen. Kriegskinder erinnern anders als Kriegsenkel. Zeitliche und räumliche Distanz schaffen Zugang zu neuen Dimensionen des Erinnern und neuen Möglichkeiten des Reflektierens über die Vergangenheit. Inwiefern diese Beobachtungen auch auf die Werke Vielleicht Esther von Katja Petrowskaja und Am Beispiel meines Bruders von Uwe Timm zutreffen, soll in vorliegender Arbeit erläutert werden.

2.1 Fragestellung

Vorliegende Arbeit thematisiert das Erinnern in seinen vielfältigen Ausprägungen in den Werken Am Beispiel meines Bruders des deutschen Autors Uwe Timm und Vielleicht Esther der ukrainischen Autorin Katja Petrowskaja. Die Arbeit zielt auf die Beantwortung der Frage ab, in welcher Form Erinnerung in beiden Werken stattfindet. Hierbei sollen Formen des Erinnerns gegenübergestellt werden und Ähnlichkeiten sowie Unterschiede im Erinnerungsprozess herausgearbeitet werden.

2.2 Abgrenzung des Themas

Die Betrachtungen der Themenkomplexe Erinnerung, Erinnerungsorte und Vergessen in der Analysen beziehen sich lediglich auf die ausgewählten Werke und nehmen damit keine Allgemeingültigkeit ein.6 Die für das Thema des Aufsatzes entscheidenden Begriffe Erinnerung, Vergessen, Identität und Erinnerungsraum werden in folgendem Theorieteil abgegrenzt. Aufgrund des begrenzten Umfanges der Arbeit kann nur auf exemplarische Aspekte des Erinnerns eingegangen werden.

6Anmerkung: In vorliegender Arbeit werden die Begriffe Erinnerungsort und Erinnerungsraum als Synonyme

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3 Kultur- und erinnerungswissenschaftlicher

Hintergrund

Das folgende Kapitel definiert die Leitbegriffe Erinnerung und Erinnerungsort und greift verschieden Formen der Erinnerung aus der Forschung Assmanns auf. Darüberhinaus wird auf die Dialektik zwischen Erinnern und Vergessen sowie auf den theoretischen Zusammenhang zwischen Erinnerungsarbeit und Identitätsfindung eingegangen.

3.1 Zu den Begriffen Erinnerung und Erinnerungsort

Das Online-Handwörterbuch für Philosophie beschreibt die Grunddefinition von Erinnerung als

„die Fähigkeit, sich eine Sache, ein Ereignis oder Erlebnis erneut vor das Gedächtnis zu rufen”.7 Dabei ist der Begriff der Erinnerung vom Begriff des Gedächtnisses abzugrenzen. Gedächtnis kann nach Jünger mit Kenntnissen gleichgesetzt werden, die einem Menschen beigebracht werden können oder die er selbst lernen kann, wohingegen Erinnerungen mit persönlichen Erfahrungen assoziiert werden können und nicht erlernbar sind; man erinnert sich oder man erinnert sich nicht.8 Die Erinnerung ist ein Prozess, der von der Gegenwart abhängig ist und von ihr geprägt wird, so Assmann.9 Der Ausgangspunkt des Erinnerns ist in diesem Prozess die Gegenwart. Die Erinnerung wird somit aufgrund des aktuellen Kontextes verändert oder erneuert, je nach Zeitpunkt des Abrufs aus dem Gedächtnisspeicher. „Im Intervall der Latenz ruht die Erinnerung also nicht wie in einem sicheren Depot, sondern ist einem Transformationsprozess ausgesetzt.“10

Braun hat in seiner Publikation mit dem Titel Wem gehört die Geschichte verschiedene Leitfragen formuliert, die dazu dienen, können, eine bestimmte Erinnerungsform näher zu beschreiben. 11 Zunächst ist es wichtig zu erörtern, (1) wer erinnert. Hierbei ist es von Bedeutung zu erläutern, ob die Erinnerung aus Täter- oder Opfersicht geschieht und welcher Generation der Erinnernde angehört? Des weiteren ist der (2) Zeitpunkt des Erinnerns von Bedeutung, da, wie anfangs erörtert, Erinnerung mit der Gegenwart verknüpft ist. Eine weitere Leitfrage lautet: (3) Wie wird erinnert? An dieser Stelle muss bspw. analysiert werden, ob der Inhalt des Erinnerten im Erinnerungsprozess durch traumatische Erlebnisse verfälscht, verschwiegen oder gar verändert wird. Eine weitere wichtige Frage ist, welchen Umfang das Erinnern im Verhältnis zum Vergessen einnimmt. Von Bedeutung ist auch, ob gemeinsam

7 utb-Online-Wörterbuch Philosophie für Philosophie, S. 1. 8 Jünger 1957, S. 48.

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erinnert wird oder die Erinnerung sich individuell vollzieht und welche Quellen angewendet werden, um zu erinnern. Eine abschließende Frage, die auch von Braun angeführt wird, betrifft den Ort der Erinnerung: (4) Wo wird erinnert? 12 Mit Hilfe der von Braun definierten Fragestellungen werden Erinnerungsformen in der der Arbeit zugrunde liegenden Primärliteratur analysiert.

Auf die letzte Leitfrage soll etwas näher eingegangen werden. Sie zielt auf den Terminus Erinnerungsraum oder Erinnerungsort ab.13 Nora, der den Begriff im 20. Jahrhundert geprägt hat, beschreibt den Begriff der ”lieux de memoires”, also der Erinnerungsorte, als Räume, in denen sich Erinnerungen an eine gemeinsame Geschichte kristallisieren.14 Damit bilden Erinnerungsräume einen bedeutenden Teil der Erinnerungskultur der jeweiligen sozialen Gruppe bzw. Nation. Erinnerungsräume können durchaus für eine Vielzahl an Generationen bedeutungsvoll werden und gemeinsam Erinnerungen einer Nation festhalten.15 Konkret versteht man unter Erinnerungsräumen im 20. Jahrhundert in erster Linie Gedenkstätten, reale Orte des Gedenken, Jahrestage oder Symbole. Der Begriff des Erinnerungsortes kann als problematisch verstanden werden. Streng genommen kann es auch keine gemeinsamen Erinnerungsorte geben, da der Prozess des Erinnerns, wie beschrieben, ein individueller ist und die jeweiligen Erinnerungsorte damit individuell unterschiedlich sind. Laut Assmann ist eine so strenge begriffliche Auslegung jedoch nicht haltbar. Sie weist auf den kulturellen Zusammenhang hin, den eine Nation bzw. Gemeinschaft verbindet.16 Durch eine gemeinsame Kultur und Geschichte verbindet die Nation gemeinsame historisch-soziale Erlebnisse und damit auch eine Erinnerung an diese. Dies schließt nicht aus, dass Erinnerungen auch individueller Art sein können, erklärt aber den sozialen Zusammenhang, an dem sich auch die individuellen Erinnerungen orientieren. Die Partizipation am gemeinsamem Leben und das Teilen einer gemeinsamen Kultur sind damit gleichsam ein nationaler Erinnerungsrahmen, an dem sich individuelle Erinnerungen zwangsläufig orientieren.

12Braun 2010, S. 13f.

13Anmerkung: In vorliegender Arbeit werden die Begriffe Erinnerungsorte und Erinnerungsräume als Synonyme

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3.2 Formen der Erinnerung

In folgendem Abschnitt werden verschiedene Erinnerungsformen aufgegriffen, die insbesondere für die Beantwortung der im vorangehenden Abschnitt beschriebenen dritten Leitfrage zur Analyse von Erinnerungen (Wie wird erinnert ?) relevant sind. Die Unterschiede zwischen individueller Erinnerung, sozialer Erinnerung sowie kollektiver Erinnerung werden definiert und problematisiert.

3.2.1 Individuelle Erinnerung

Individuelle Erinnerungen sind nach Assmann geprägt durch das Individuum, das erinnert und damit grundsätzlich perspektivisch, d.h. nicht austauschbar aufgrund seiner spezifischen Lebensgeschichte.17 Dies macht die individuellen Erinnerungen auch veränderbar, da sich die erinnernde Person und deren Lebensumstände im Laufe der Zeit ändern können. Oft sind individuelle Erinnerungen zudem nur Fragmente eines inhaltlichen Moments mit flüchtigem, instabilem Charakter. Eine Gefahr dabei besteht darin, dass die Erinnerungen interpretierbar und verformbar werden und damit neue, vielleicht falsche Informationen verbreitet werden können.18 Da wir Menschen nicht in einem Vakuum leben, sind individuelle Erinnerungen grundsätzlich mit anderen individuellen Erinnerungen verknüpft. Der französische Philosoph Maurice Halbwachs behauptet, dass jede Erinnerung sozial verankert ist.19 Halbwachs sieht zwischenmenschliche Kommunikation als Voraussetzung dafür, dass Erinnerungsprozesse überhaupt erst ablaufen können.20 Im Rahmen des sozialen Erinnerungsprozesses können sich Erinnerungen bestätigen und gegenseitig verstärken. Es können aber auch Widersprüchlichkeiten auftreten, die uns an der Korrektheit unserer eigenen Erinnerungen zweifeln lassen mögen. Dies wird insbesondere problematisch, wenn wir ein Ereignis erinnern, an dem wir selbst nicht beteiligt waren und im Erinnerungsprozess auf die Kommunikation mit anderen sozialen Gruppen, bspw. anderen Generationen, angewiesen sind.

Trotz aller Begrenzungen der individuellen Erinnerung gibt es auch Möglichkeiten, den subjektiven und veränderlichen Erinnerungsfragmenten eine stabilere Form und festere und glaubwürdigere Struktur zu geben und damit dem Vergessen vorzubeugen. Eine Möglichkeit, eine solche stabilere Form des individuellen Erinnerns zu schaffen, ist das Erzählen

17 Assmann 2006, S. 24f. 18 Vgl. Nicklas 2014, S.33. 19 Halbwachs 1992, S. 37.

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individueller Erinnerungen. Durch das Erzählen werden die individuellen Erinnerungen einem größeren Personenkreis zugänglich gemacht, wie Eigler verdeutlicht:

Im Erzählprozess liegt die Chance, dass vergessene, verdrängte oder marginalisierte Aspekte der Vergangenheit neue Bedeutung erhalten und damit wieder dem aktiven identitätsbildenden Gedächtnis der Gruppe zugänglich werden.21

Die Erzählung ist ein Medium, das Erinnerungen zusammenfasst und damit Erinnerungen plastischer und strukturierter werden lässt.22 Sie schafft es damit, nicht nur dem Einzelnen, sondern auch der Gemeinschaft ein kohärenteres Erinnerungsbild zugänglich zu machen.

3.2.2 Soziale Erinnerung

Erinnerung findet nicht nur im individuellen Bereich statt, sondern ist auch mit dem sozialen Umfeld verknüpft. Die sozialen Erinnerung vollziehen sich in einer Gruppe, z. B. in der Familie. Sobald wir unsere persönlichen Erinnerungen mit anderen Verwandten teilen bzw. zusammen in der sozialen Gemeinschaft der Familie erinnern, werden aus individuellen Erinnerungen soziale Erinnerungen. Assmann beschreibt als Charakteristika der sozialen Erinnerung die zeitliche Begrenztheit.23 Die sozialen Erinnerungen können nur im Kontext der spezifischen Gruppe bestehen und werden daher von Assmann als ”Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft” bezeichnet.24 Sie können durch Briefe, Fotoalben und dergleichen medial unterstützt werden, aber nie wie gemeinsame Erinnerungsorte über viele Generationen hinweg bestehen. Soziale Erinnerungen können demnach nur im Rahmen eines lebendigen gemeinschaftlichen Erinnerungsprozesses existieren. Wenn dieser nicht mehr fortbesteht, erlöscht der Speicher des sozialen Gedächtnisses und es werden auch keine neuen sozialen Erinnerungen gebildet. Beispiele für soziales Erinnern sind neben Familienerinnerungen Erinnerungen unterschiedlicher Generationen oder anderer definierter gesellschaftlicher Gruppen.

3.2.3 Kollektive Erinnerung

Das kollektive Erinnern geht über das soziale Erinnern hinaus. Die sozialen Erinnerungen erlöschen mit dem Aussterben einer Generation, wohingegen die kollektiven Erinnerung in das Gedächtnis einer Nation eingehen und damit über Generationsgrenzen hinweg bestehen können. Assmann definiert den Kern kollektiver Erinnerungen eng. Lediglich Erinnerungen, die zu einer

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starken gemeinsamen Identität führen, sind für sie reine kollektive Erinnerungen.25 Kollektive Erinnerungen prägen unser Weltbild, unsere eigene Identität und unser Geschichtsbewusstsein”.26 Nationen haben kein Gedächtnis, aber sie schaffen sich eines durch die Anwendung verschiedener Hilfsmittel, mit denen sie die kollektive Erinnerung lebendig werden lassen.27 Über Generationen wiederholte Texte, Bilder, Monumente und Riten werden zu Platzhaltern für den vergangenen Ort der Erinnerung und schaffen damit ein kollektives Gedächtnis an vergangene bedeutsame historische Ereignisse.28 Das Holocaustmahnmal in Berlin wurde errichtet, um der heutigen und allen kommenden Generationen eine Möglichkeit zu bieten, der Judenverfolgungen im Zweiten Weltkrieg zu gedenken. Gedichte und Erzählungen der Nachkriegsautoren, die in ihren Texten den Holocaust erinnern, sichern den Fortbestand der Erinnerungen und beugen dem Vergessen vor. Durch kollektive Erinnerungen wird Vergangenes ins Bewusstsein gerückt, selbst wenn man das Vergangene nicht selbst erlebt hat.29 Dies ist insbesondere für die zweite und dritte Nachkriegsgeneration von Bedeutung, die den Nationalsozialismus und den Holocaust nicht direkt erlebt hat und nun in größerem Ausmaß allein erinnert, ohne im Austausch mit Zeitzeugen zu stehen.

Die Erinnerungsliteratur kann somit einen entscheidenden Beitrag leisten, einen kollektiven Erinnerungsraum zu schaffen, indem sie durch narrative Aufarbeitung der historischen Ereignisse das Vergangene wieder lebendig werden lässt und im Bewusstsein der Nachfolgegenerationen verankert. Hierbei bietet die Erinnerungsliteratur der Kriegskinder und der Kriegsenkel neue Chancen, da deren Erinnerungen im Gegensatz zu denen ihrer Eltern und Großeltern nicht durch Heroisierung, Traumatisierung und eindeutige Schuldzuweisungen gekennzeichnet ist, sondern einen offeneren Blick auf das Vergangene zulässt, der unterschiedliche Perspektiven ausleuchtet.30 Durch die Anstöße aus der Erinnerungsliteratur der Nicht-Zeitzeugen kann sich damit das kollektive Gedächtnis weiterentwickeln und den Blick für andere Sichtweisen schärfen.

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3.3 Zur Dialektik von Erinnern und Vergessen

Die Kulturwissenschaftlerin Astrid Erll beschreibt Erinnerungen als „kleine Inseln in einem Meer von Vergessen.“31 Erinnern und Vergessen sind stets eng miteinander verknüpft und bedingen einander. Dies gilt sowohl für das individuelle als auch für das kollektive Erinnern.32 Sowohl der Einzelne als auch eine Nation müssen die Vergangenheit zumindest teilweise ausblenden können. Zum Erinnern gehört das Vergessen und umgekehrt.33 Ohne die Möglichkeit des Vergessens würde die Vergangenheit die Gegenwart eines Menschen zu stark belasten. Zum Blick zurück in die Vergangenheit gehört auch immer der Blick nach vorn in die Zukunft, ansonsten würden wir zu Gefangenen der Vergangenheit und könnten uns weder in der Gegenwart zurechtfinden noch weiterentwickeln. Durch das Vergessen wird zudem der Blick auf das Wesentliche geschärft. Auf der anderen Seite kann erst vergessen werden, was zuvor erinnert und einmal gespeichert wurde, das Erinnern wird damit zur Voraussetzung für das Vergessen. Haben wir keinerlei Erinnerungen an ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis, kann dieses nicht vergessen und damit nicht wieder erinnert werden.

Theoretisch ist eindeutig: Das Vergessen ist mit dem Erinnern verbunden. Für die deutsche Bevölkerung stellt die Dialektik von Erinnern und Vergessen jedoch ein Dilemma dar, unterliegt sie doch seit der Nachkriegszeit einem moralischen Postulat, das besagt, dass die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges niemals vergessen werden dürfen. Durch das Vergessen entlasten wir das Gedächtnis und schaffen damit Freiraum für neue Erinnerungen.34 Dieser Freiraum war für die Nachkriegsgenerationen allerdings nur sehr begrenzt, zu stark lastet die Vergangenheit auf den Schultern der Nachfolgegenerationen. Erst mit dem Tod der direkten Zeitzeugen sind die zweite und die dritte Nachfolgegeneration einem zwangsläufigen natürlichen Prozess des Vergessens ausgeliefert, der nun einen freieren Blick auf die Vergangenheit ermöglicht und neue Erinnerungen zulässt.

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bestimmte vorausgegangene Konfliktsituation. Unangenehme Ereignisse werden oft verdrängt. Das Verdrängen ist eine Form des aktiven Vergessens, die darauf abzielt Erinnerungen von der eigenen Person zeitweilig abzuspalten. Sie findet sich sowohl beim individuellen als auch beim sozialen Erinnern. Insbesondere nach traumatischen Ereignissen wie dem Holocaust ist zu beobachten, dass Erinnerungen an Schrecken und Gewalt verdrängt werden. Das Vergessen gehört nun zum Überlebenskampf. Die Formen des Verdrängens sind vielfältig: Erinnerungen werden ausgeblendet, verharmlost oder verschwiegen.36

3.4 Erinnerung und Identität

In vorliegendem Abschnitt soll auf das Verhältnis zwischen Erinnerung und Identität eingegangen werden und die Bedeutung der Erinnerungsarbeit bei der Suche nach der eigenen Identität hervorgehoben werden. Eine besondere Form der Erinnerungsarbeit ist das literarische Erzählen, auf dessen besondere Bedeutung im Erinnerungsprozess hingewiesen wird.

Zwischen Erinnerung und Identität besteht ein zirkuläres Verhältnis.37 Erinnerungen prägen unsere Identität, gleichzeitig ist ein Bewusstsein um die persönliche Identität wichtig, um erinnern zu können. „Ohne ein Wissen über die eigene Vergangenheit und Gegenwart verliert sich das Gefühl der eigenen Identität“, schreibt Nicklas.38 Erinnerungen werden damit zu Voraussetzungen für die Bildung einer persönlichen Identität. Dies gilt sowohl für Einzelpersonen als auch für Gruppen. Voraussetzung für die Bildung einer persönlichen Identität sind individuelle Erinnerungen, die ihrerseits geprägt sein können von sozialen und kollektiven Erinnerungen. Die Identität einer Nation wird in erster Linie durch das kollektive Erinnern gestärkt.39

Die Suche nach der eigenen Identität, nach dem „Wer bin ich?“ ist ein lebenslanger Prozess, da Identität etwas Dynamisches ist, dass sich im Kontext ständig verändert. Damit erlangt die Erinnerungsarbeit eine entscheidende Bedeutung, ist sie doch die Voraussetzung für die Erarbeitung der Identitäten. Das erinnernde Erzählen kann einen entscheidenden Beitrag für die Identitätsentwicklung von Individuen und Gruppen haben. Im Erzählprozess werden die Erinnerungen reflektiert, strukturiert und priorisiert mit dem Ziel mehr Kohärenz und Klarheit in die eigene Geschichte zu bringen wie bereits in 3.2.1 beschrieben. Dieser Prozess birgt auch

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Problematiken in sich, da das Erzählen zuweilen eine identitätsbedrohende Wirkung haben kann, wenn neue Widersprüche aufgedeckt werden, die die persönliche Identität wanken lassen. Ein Bewusstsein für die neuen Widersprüche kann andererseits neue Zugänge verschaffen, die eine Identitätssuche unterstützen können. Wird das Ergebnis des Erzählens, also die kohärentere Geschichte, der Öffentlichkeit in Form von bspw. Erinnerungsliteratur zugängig gemacht, so kann auch eine gesamte Nation an dieser Neuordnung der Erinnerungen teilhaben und diese sich positiv auf die Identitätsbildung der Gesellschaft auswirken.40

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4 Erinnerung in Timms Am Beispiel meines Bruders

4.1 Zusammenfassung des Werkes

In Am Beispiel meines Bruders erinnert sich der Erzähler Uwe Timm an seinen verstorbenen Bruder Karl-Heinz. Dieser ist in jungen Jahren als Mitglied der Waffen-SS in einem Gefecht in der Ostukraine gefallen. Als Kriegskind, das während des Zweiten Weltkrieges geboren wurde, hat der Erzähler kaum eigene Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus. Dem Erzähler bleibt nur eine einzige persönliche Erinnerung an ihn: eine Spielsituation, die er als Dreijähriger zusammen mit dem Bruder erlebt.41 Die Gedanken daran, dass sich der Bruder freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hat und vielfach gemordet hat, sind Kern der Erzählung und lassen den Autor nicht los. Zu sehr ist seine eigene Identität mit der des Bruders verknüpft und zu sehr wird damit die Schuld des Bruders auch zu seiner eigenen. Insbesondere die Frage, ob der Bruder seine Schuld als Täter anerkannt hat, ist für den Erzähler zentral.42 Erst nach dem Tod der Eltern schafft er es, seine Erinnerungen niederzuschreiben. Es handelt sich bei Am Beispiel meines

Bruders aber nicht um Erinnerungen, die allein auf den Bruder fokussiert sind, vielmehr werden

die Erinnerungen des Erzählers an das Einzelschicksal des Bruders in eine Familienkonstellation eingeordnet. Dabei nehmen insbesondere Erinnerungen an den Vater, der wie der Bruder militärische Ideale verinnerlichte und in beide Weltkriegen als Soldat involviert war, viel Raum ein. Aber auch die Mutter, zu der der Erzähler ein sehr inniges Verhältnis hatte und die Schwester werden erinnert. Auf diese Weise wird ein Bild des sozialen Kontextes der Erinnerungen in der Familie gemalt. Hierzu werden nicht nur Gespräche und persönliche Erinnerungen herangezogen, sondern auch Familiendokumente. Eine zentrale Rolle spielen die Briefe des Bruders an die Eltern sowie das Kriegstagebuch des Bruders. Über den Familienkontext hinaus ist das Werk in einem gesamtgeschichtlichen Zusammenhang zu sehen. Dies belegt schon der Titel Am Beispiel meines Bruders. Der Bruder spiegelt als exemplarische Figur das Privatschicksal der Tätergeneration.43 Die Familie und deren Umgang mit Erinnerungen dient als Beispiel für alle Familien mit ähnlichen sozialen Konstellationen, in denen Zeitzeugen und Kriegskinder aufeinander treffen. Durch die Komplettierung des Familiengedächtnisses mit vielfältigen historischen Quellen erhält der Text zudem allgemeine Relevanz als kollektives Erinnerungsstück und ist damit auch für die Nachwelt von besonderer Bedeutung.

41 Vgl. Bellmann 2011, S. 5.

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4.2 Individuelle Erinnerungen

In folgendem Abschnitt wird das individuelle Erinnern in Uwe Timms Werk analysiert. Dabei dienen die von Braun definierten Leitfragen der Erinnerung (siehe Abschnitt 3.1) – Wer erinnert?, Was wird erinnert?, Wo wird erinnert? und Wie wird erinnert? – als Analyserahmen. Zunächst wird anhand einer kürzeren Beantwortung der ersten drei Fragen der zeitliche, geschichtliche und räumliche Kontext definiert, in welchem erinnert wird. Ein Schwerpunkt wird dann auf die Erläuterung der Frage, wie erinnert wird, gesetzt. Dabei wird der Fokus auf die Grenzen des Erinnerns, die im Erinnerungsprozess verwendete Erzählmethode, die herangezogenen Quellen, die Haltung des erinnernden Autors und die zentralen Themen und die Zielsetzung im Erinnerungsprozess gesetzt.

4.2.1 Kontext der individuellen Erinnerungen

Uwe Timm inszeniert sich im Werk als Erzähler. Als Kriegskind und Verfasser von Erinnerungsliteratur der zweiten Generation möchte er die Greultaten des Nationalsozialismus ins Gedächtnis zurückrufen, indem er seinen eigenen Bruder erinnert. Obwohl der Erzähler nur eine einzige Erinnerung an den Bruder hat, ist dieser in seinem Leben allgegenwärtig.

Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheit begleitet, in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den Eltern.[...].Auch wenn nicht von ihm die Rede war, war er doch gegenwärtig, gegenwärtiger als andere Tote, durch Erzählungen, Fotos und in den Vergleichen des Vaters [...].44

Diese Omnipräsenz im Leben des Erinnernden beruht auf der familiären Verknüpfung mit dem zu Erinnernden. Wie ein Geist schwebt der tote Bruder über der Familie.45 Oft vergleichen die Eltern den Erzähler auch nach dem Tod des Bruders mit dem Bruder und schüren so ein andauerndes Konkurrenzverhältnis zwischen den Brüdern.46 Somit ist das individuelle Erinnern an den Bruder auch immer mit den Erinnerungen an andere Familienmitglieder verbunden. Dass der Bruder auch im 21. Jahrhundert nach dem Tod der Eltern im Leben des Erzählers noch allgegenwärtig ist, hängt damit zusammen, dass die Frage, in welchem Ausmaß der Bruder an den Gewalttaten des Zweiten Weltkrieges beteiligt war, für den Erzähler von existentieller Bedeutung ist. Die Schuldfrage lässt den Erzähler nicht los, er muss sie erforschen.

44 Timm 2010, S. 8.

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Der Erinnerungszeitpunkt weist einen großen Abstand zum Erlebten auf. Erst nach dem Tod der Schwester und der Eltern empfindet der Erzähler ausreichend Freiraum, um sich zu erinnern. Zuvor hat ihn immer wieder seine Angst am Erinnern gehindert. Er beschreibt, dass er in seiner Kindheit nie das gewaltsame Ende des Blaubart-Märchens hören wollte. Auf gleiche Weise ist er auch vor den im Erinnerungsprozess durchdringenden Gewalttaten des Bruders zurückgeschreckt.47 Auch aus Rücksicht auf die Mutter, die will, „dass man die Toten ruhen lässt“48, schreibt Timm erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts seine Erinnerungen nieder. Die zeitliche Distanz erschwert den Erinnerungsprozess: Timm kann zu diesem Moment nur noch individuell erinnern, ein zeitgleicher Dialog mit den Familienmitgliedern kann nicht mehr stattfinden. Timm vermag damit nicht gemeinsam in der sozialen Gemeinschaft der Familie zu erinnern, sondern kann lediglich über vergangene Dialoge reflektieren.

Der Erinnerungsort des Erzählers ist Deutschland. Es wird also genau an dem Ort erinnert, an dem die Familie gelebt hatte. Timm erinnert auf der Muttersprache Deutsch an die deutschen Verbrechen des Nationalsozialismus. Auch wenn es Übersetzungen in viele Sprachen gibt, so ist Timms vornehmliche Zielgruppe eine deutsche Leserschaft, die durch sein Werk zum kollektiven Erinnern angeregt werden soll. Eine räumliche Verknüpfung mit dem Ort der zu erinnernden Ereignisse verschafft den Erinnerungen eine konkretere Form.

4.2.2 Erinnerungsformen

Ausgehen von dem eingangs definierten Kontext werden nun die individuellen Erinnerungsformen im Werk analysiert. Zunächst wird erläutert, wie der Erinnernde mit der Tatsache umgeht, dass er kaum auf persönliche Erinnerungen bauen kann und gegen das Vergessen ankämpfen muss. Da sich der erinnernde Autor in vorliegenden Werken als Erzähler inszeniert, wird zudem die Frage relevant, welche Erzählmethode und welche Quellen der Autor zur Darstellung seiner Erinnerungen im Werk einnimmt. Darüberhinaus wird die Grundhaltung und Zielsetzung des Erinnernden im Erinnerungsprozess verdeutlicht.

4.2.2.1 Umgang mit den Erinnerungsfragmenten

Durch den fehlenden Kontakt zum Bruder und dem Schweigen und Verdrängen der Eltern sind die Erinnerungen Timms an den Bruder unvollständig, fragmentarisch und oft widersprüchlich. Nur eine einzige Erinnerung baut auf einer persönlichen Erfahrung mit dem zu Erinnernden. Der Erzähler macht die Leserschaft schon zu Beginn auf den konfliktären Erinnerungsprozess des

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aufmerksam. Die Erinnerungen spielen sich im Spannungsfeld zwischen emotionaler Nähe zum Bruder und distanzierter Darstellung von Gewalt ab. Der Erzähler erinnert die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges und setzt die Täterschaft des Bruders in den Fokus, ist aber dem Bruder gleichzeitig emotional verbunden.49

An den Bruder bleibt ihm nur eine einzige persönliche Erinnerung: „An sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern, auch nicht an das, was er trug, wahrscheinlich Uniform, aber ganz deutlich ist diese Situation: wie mich alle ansehe, wie ich das blonde Haar hinter dem Schrank entdecke, und dann dieses Gefühl, ich werde hochgehoben – ich schwebe. 50

Oft erinnert der Autor seinen Bruder im Traum und vermischt so Wirklichkeit und Fiktion im Erinnerungsprozess. So begegnet er dem Bruder im Traum als einem Wohnungseindringling, dem er den Eintritt verwehrt. In einer anderen fiktiven Szene wird beschrieben, wie der Bruder beim Mondschein vergeblich die Kaserne der Waffen-SS sucht, um sich dort freiwillig zu melden. Beim Suchen des Weges begegnet ihm ein Irrer und er bekommt Angst.51 Diese fiktive Darstellung wird jedoch sogleich von der Wirklichkeit eingefangen: „[...]1,85m groß, blond, blauäugig. So wurde er Panzerpionier in der SS-Totenkopfdivision. 18 Jahre war er alt.“52 Die Wunschvorstellung, dass der Bruder vielleicht doch aufgehalten würde, wird der Realität gegenübergestellt. Hiermit wird die Täterschaft des Bruders zu einem Faktum, gleichzeitig manifestiert sich aber auch die emotionale Verbundenheit des Erzählers im Wunsch, dass dies nie geschehen wäre.

Immer wieder deckt der Erzähler Widersprüche, Unklarheiten und Lücken im Erinnerungsprozess auf, die er mit aller Kraft zu schließen versucht. So reflektiert Timm bspw. über die „Läusejagd“ , die im Tagebucht festgehalten wurde, bei der „viel Beute“ gemacht wurde.53 Der Erzähler fragt sich, was unter der „Läusejagd“ zu verstehen ist.54 Er reflektiert darüber, ob der Bruder an Säuberungen gegen Partisanen, Zivilisten oder Juden beteiligt war oder ob es sich womöglich wirklich um eine Läusejagd am Körper des Bruders handelte.55 Unterschiedliche Möglichkeiten der Interpretation des Tagesbuchtextes werden angeführt. Auch wenn die Wahrheit letztendlich ungeklärt bleibt, so bekommt der Leser eine Vielzahl an Perspektiven und Interpretationsmöglichkeiten geboten.

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4.2.2.2 Erzählmetode und Erinnerungsquellen

Im folgenden Abschnitt wird erläutert, welche Methoden Timm wählt, um seine Erinnerungen durch den Erzähler der Nachwelt zugänglich zu machen. Dabei wird untersucht, welche Struktur er für das Zusammenstellen der Erinnerungsbruchstücke findet und wie er beim Erinnern vorgeht. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Frage, wie mit dem Spannungsfeld von Fiktion und Wirklichkeit umgegangen wird.

Timms Erinnerungsschrift ist keine chronologische Zusammenfassung von Erinnerungen, sondern er versucht, den natürlichen nicht-chronologischen Prozess des Erinnerns widerzuspiegeln, indem er Erinnerungsszenen aus dem 20. und dem 21. Jahrhundert sprunghaft vermischt. Die Erinnerungsbruchstücke werden in einzelnen Abschnitten, oft ohne Überleitung und Verbindung, zueinander erzählt. Den Grund dafür erwähnt Timm selbst in einem Interview mit der TAZ vom 13.9.2003:

Diese Erinnerungen sind Bruchstücke, sie können nicht durchlaufend erzählt werden, weshalb ich auch diese Methode der kurzen Absätze gewählt habe. Die Dokumente und Erinnerungen sprechen für sich. 56

Timm beschränkt sich nicht nur auf seine individuellen Erinnerungen, sondern ergänzt diese mit verschiedenen Quellen zu einer Art Collage.57 Die Hauptquellen des Erzählers sind das Tagebuch des Bruders, das er unerlaubterweise während seiner Zeit in der SS-Totenkopfdivision schrieb, sowie die zahlreichen Briefe des Bruders an den Vater und die Mutter. Schon in der Materialauswahl zeigt sich das Vorhaben des Autors, die Erinnerungen an den Bruder aus verschiedenen Perspektiven zu reflektieren. Die Tagebucheinträge und die Briefe spiegeln die Perspektive des Bruders, die individuellen Erinnerungen den Blickwinkel des Erzählers selbst, aber auch die Sichtweise der Eltern wider. Die subjektiven Perspektiven in der Familie werden ergänzt durch familienexterne Quellen. Im Erinnerungsprozess werden Zeitungsberichte hinzugezogen, Militärberichte zitiert, die Kriegstagebücher des Generals Heinrici sowie Himmlers Rede an die Waffen-SS analysiert. Brownings Studie „Ganz normale Männer“ über eine Reserveeinheit in Polen wird ebenso einbezogen wie die Stimmen von Levi und Améry, die die Opferperspektive repräsentieren. Dazu führt er historische Hintergründe zu den Verbrechen an den ukrainischen Juden in Babij Jar an. All diese Quellen werden vom Erzähler in einer Collage montiert, die zudem durch Bilder und Fotos des Bruders ergänzt wird.58 Durch die Vielzahl sorgfältig ausgewählter und auf ihre Relevanz überprüfter Quellen, bekommt der

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erinnernde Text damit eine fast wissenschaftliche Relevanz, die durch Objektivität, Neutralität, Validität und Reliabilität gekennzeichnet ist. Dennoch ist Timms Text mehr als eine wissenschaftliche Studie, dadurch bedingt, dass dem Erzähler die notwendige Distanz zum Untersuchungsobjekt fehlt und der Prozess des Erinnerns damit zusätzlich durch die Persönlichkeit des Erinnernden geprägt ist. Der Erzähler ist dem Bruder und der ganzen Familie tief emotional verbunden, was sich in seinen individuellen Reflektionen ausdrückt. Anekdoten treffen auf Sachtexte. Somit verknüpft Timm Allgemeingültigkeit und Mitgefühl sowie Verständnis für den Bruder. Seine kritische Recherchearbeit wird durch persönliche Reflektionen unterbrochen, wobei immer auch die emotionale Verbundenheit zum Bruder durchscheint. Der erinnernde Erzähler erschreckt bspw., bevor er den Entschluss fasste, ein Buch über den Bruder zu schreiben, immer wieder bei der Reflektion über folgenden Tagebuchsatz zurück: „75m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG.“59 Dieser Satz, der die Täterschaft des Bruders auf brutale Weise darstellt, beschäftigt den Erzähler auch während des Schreibens so sehr, dass er gleich sechsmal im Werk auftritt.

Durch die große Anzahl externer Quellen wird auch dem fiktiven Charakter der individuellen Erinnerungen ein sachlicher Gegenpol geboten, der dazu genutzt wird, individuelle Leerstellen im Erinnerungsprozess zu ergänzen und subjektive Wahrnehmungen zu kontrastieren.60 Das Kontrastieren ist ein wichtiges Werkzeug Timms im Erinnerungsprozess. Ziel ist die Sinneserweiterung durch das Schaffen neuer Perspektiven, Kontexte und Zusammenhänge.61 Nie lässt der Erzähler die Tagebucheinträge oder Briefe allein wirken. So stellt er bspw. die brutale Beschreibung des Tötens eines russischen Soldaten („Fressen für mein MG) eine Schilderung aus der Perspektive des russischen Soldatens gegenüber und fragt sich, was der Soldat wohl in den letzten Minuten seines Lebens gedacht und gefühlt hat.62 Eine andere Szene beschreibt, wie der Bruder den britischen General aufgrund des Luftangriffs in Hamburg verurteilt. Diese Beschreibung wird dem Brief des deutschen Generals Henrici über die Zerstörung russischer Städte gegenübergestellt.63 Dabei werden durch bewusstes Arrangieren nicht nur unterschiedliche Perspektiven, sondern auch unterschiedliche Textformen kontrastiert, in denen wie im ersten Beispiel narrative Erzählabschnitte auf Quellenmaterial stoßen. Durch das ständige Kontrastieren entsteht eine Art Dialog der Erinnerungen, der als Ersatz zu dem

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nicht mehr möglichen erinnernden Dialog mit den Familienmitgliedern angesehen werden kann.64

4.2.2.3 Grundhaltung des Erinnernden

Beim erinnernden Schreiben zeigt der Erzähler eine kritische Grundhaltung, die allerdings durch seine Angst und emotionale Verbundenheit ständig herausgefordert wird und ihn stellenweise verzweifeln lässt. Das Erinnern ist für den Erzähler ein angstgeladener Prozess.65 Dies wird bereits an der Blaubartanalogie aus der Kindheit deutlich, die zuvor beschrieben wurde. Ständig hat er Angst, noch Schrecklicheres zu entdecken und malt sich aus, welche Grausamkeiten noch aufgedeckt werden könnten. Im Text wird dies bspw. durch eine Was-Wenn-Frage deutlich, in der er darüber reflektiert, was passiert wäre wenn der Bruder KZ-Wächter geworden wäre. Die Frage „Was wenn der Bruder zur Wachmannschaft des KZ versetzt worden wäre?“66 ist omnipräsent. Da er keine Antworten auf seine Was-Wenn-Fragen bekommen kann, spürt man die Angst durch den gesamten Text hindurch. Trotz seiner Angst möchte er der Wahrheit „in aller Härte“ so nahe wie möglich kommen.67 Aufgrund der vielen Widersprüchlichkeiten und Leerstellen misstraut er auch an einigen Stellen seinen eigenen Erinnerungenund es kommt eine Verzweiflung zu Tage, die seine Hoffnung, der Wahrheit näher zu kommen, zuweilen zunichte macht. Insbesondere der Schluss, der einen Tagebuchsatz des Bruders aufnimmt, lässt diese Ambivalenz zwischen Hoffnung und Verzweiflung weiterleben: „Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich es für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen.“68 Die Verzweiflung entsteht durch die Tatsache, dass er der Wahrheit nicht

näher kommen kann. Hoffnung spielt mit, da dieser Satz auch eine gewisse Empathie des Bruders erkennen lässt. Zumindest hat der Bruder die Geschehnisse als Grausamkeiten wahrgenommen.

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„meinem Bruder“. Von sich selbst spricht er nicht als „ ich“, sondern bezeichnet sich als „ der Junge“, der Nachkömmling“, der Heranwachsende“ oder „der Sohn“.69 Insgesamt versucht der Erzähler durch diese Mittel, einen Ausgleich zwischen der persönlichen Verbundenheit mit dem Bruder und dem Anspruch einer objektiven Berichterstattung zu finden.

4.2.2.4 Zielsetzung des Erinnernden

Der Erzähler im Werk Am Beispiel meines Bruder verfolgt eine doppelte Zielsetzung. Zunächst hat er ein persönliches Ziel: Er sieht sich stark durch seine Familie und deren Werte definiert. Im Erinnern sieht er eine Möglichkeit, seine eigene Herkunft und Erziehung und seine sozialen Kontakte in der Familie auszuleuchten und sich selbst damit ein Stück weit näher zu kommen. Das Erinnern an den Bruder wird damit für ihn zu einer Suche nach der persönlichen Identität. Er betont selbst, dass er nicht nur über den Bruder und die Familie, sondern auch über sich selbst schreibt:

Und erst mit dem Entschluss über den Bruder, also auch über mich, zu schreiben, das Erinnern zuzulassen, war ich befreit, dem dort (Ergänzung: im Tagebuch) Festgeschriebenen nachzugehen.70

Im Zentrum der persönlichen Zielsetzung steht die Suche nach der Wahrheit, die immer auch eine Suche nach sich selbst ist. Bei der Suche nach der Wahrheit möchte er die Schuldfrage in Bezug auf den Bruder ausleuchten. Er fragt sich, warum der Bruder sich freiwillig zur Waffen SS gemeldet hat. Zudem macht er sich Gedanken darüber, ob der Bruder den Text des Tagebuchs, das er unerlaubterweise geschrieben hatte, evtl. ideologisch verschärft hat. Er stellt sich zudem die Frage, ob der Bruder an Säuberungsaktionen gegen Zivile, Partisanen oder Juden beteiligt war.

Die Erzählung verbleibt aber nicht im familiären Kontext, sondern wird durch die vielen intertextuellen Verflechtungen mit der „Großen Geschichte“ verschränkt.71 Die persönlichen Erinnerungen Timms und sein eigener familiärer Kontext werden dabei zum Beispiel für viele Nachkriegsfamilien, in denen ebenfalls nicht kritisch-hinterfragend erinnert wird. Durch die Veröffentlichung seiner Erinnerungen werden damit der ersten und zweiten Nachkriegsgenerationen Denkanstöße mitgegeben, die den Erinnerungsprozess ankurbeln sollen.

69 Vgl. Sathe 2006, S. 56.

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4.3 Soziale Erinnerungen

Die individuellen Erinnerungen des Erzählers sind nicht losgelöst von den Erinnerungen im sozialen Kontext der Familie zu sehen. Besonders prägend für den Autor sind die Erinnerungen der Eltern, insbesondere des Vaters. Eine besondere Bedeutung nehmen die sozialen Erinnerungen des Vaters ein, dessen Erinnerungsformen repräsentativ für das Erinnern seiner Generation sind. Die Vätergeneration kennzeichnet sich durch ein Nicht-Erinnern-Wollen, ein Flüchten vor den Gewalttaten des Nationalsozialismus. Dieses Nicht-Erinnern findet sich in zwei Ausprägungen: Entweder verschweigt die Vätergeneration die Vergangenheit oder sie verharmlost sie in verschiedenen Erzählungen, wie in folgendem Zitat deutlich wird:

Die Vätergeneration, die Tätergeneration, lebte vom Erzählen oder vom Verschweigen. Nur diese zwei Möglichkeiten schien es zu geben, entweder ständig davon zu reden oder gar nicht. Je nachdem wie verstörend die Erinnerungen empfunden wurden. 72

Das Erzählen, das eigentlich dem Erinnern dient, wird dazu benutzt, die Wahrheit zu verfälschen. In gemütlicher Runde werden Kriegsanekdoten erzählt. Das Grausame wird in verträgliche Stücke portioniert und auf diese Weise salonfähig gemacht.73 Das wahrhaftig Brutale wird verschwiegen. Timm beschreibt bspw. in einer Szene, in der der Vater weint, was er sonst tunlichst vermied, die Sprachlosigkeit der Situation. Im Verschweigen und Nicht-Wissen-Wollen sieht Timm die Hauptschuld der Vätergeneration. Dabei klagt er die Feigheit, das „Kneifen“ , das „Sich-Nicht-Stellen“ der Generation des Vaters an74:

Diese Nicht-darüber-Sprechen findet eine Erklärung in dem tiefverwurzelten Bedürfnis, nicht aufzufallen, im Verbund zu bleiben, aus Furcht vor beruflichen Nachteilen, erschwerten Aufstiegsmöglichkeiten und in einer hintergründigen Angst vor dem Terror des Regimes. Es ist die zur Gewohnheit gewordene Feigheit – das Totschweigen.75

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Schmerz, der sich in einem Hornhautabriss an einem Auge am Ende der Erinnerungsarbeit im Rahmen des Werkes körperlich ausdrückt.

4.4 Kollektive Erinnerungen

Durch kollektive Erinnerungsräume wird das kollektive Bewusstsein zum Leben erweckt und kann dadurch über viele Generationen hinweg bestehen. Damit nehmen kollektive Erinnerungen und deren Erinnerungsorte eine entscheidende Bedeutung dahingehend ein, dass sie den Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft überwinden bzw. für die Kontinuität geschichtlicher Erinnerungen sorgen.77 In Am Beispiel meines Bruders findet jedoch kein kollektives Erinnern statt. Ein einziger Ansatz zum gemeinsamen Erinnern der Familienmitglieder findet sich in den Reisen der Mutter und später des Erzählers nach Kiew, der Todesstätte des Bruders, angedeutet. Hier werden die Erinnerungen der Mutter und des Erzählers untereinander, aber auch mit den Erinnerungen der Lokalbevölkerung verbunden. An diesem Ort wird auch symbolisch das Schweigen unterbrochen, ein Sprechgesang eines wandernden Sängers durchbricht die Stille.78 Abgesehen von diesem gemeinsamen Erinnerungsort sind die individuellen Erinnerungen des Autors sowie die sozialen Erinnerungen in der Familie an den Bruder und die Zeit des Nationalismus aufgrund des Schweigens und der Verharmlosungsstrategien der Elterngeneration entkoppelt. Im Werk erinnern der Erzähler und die übrigen Familienmitglieder die Schrecken des Krieges auf ihre spezifische Art und Weise. Es gibt damit kein familienspezifisches, und da die Familie repräsentativ für die deutsche Bevölkerung steht, auch kein deutschlandweites kollektives Erinnern die Schrecken der NS-Zeit. Assmann erklärt, dass das „traumatisierende Geschichtsereignis entehrend aus der kollektiven Erzählung getilgt wurde“.79 Gegen diesen Prozess des Auslöschens des kollektiven Gedächtnis beim Übergang von der einer Generation zur nächsten, schreibt Timm an. Sein Werk bricht das Schweigen zwischen den Generationen, verleiht der Elterngeneration eine neue Sprache und lässt alle Nachkriegsgenerationen in einen Dialog treten. Auf diese Weise kommen nicht nur die Familienmitglieder zu Wort, sondern alle zuvor erwähnten Quellen werden zu einem vielstimmigen Text aggregiert. Macchein beschreibt diesen Prozess der Schaffung eines kollektiven Erinnerungswerkes folgendermaßen: „Auf diese Weise öffnet sich die persönliche Erinnerung in die kollektive Geschichte hinein, wird die Binnenperspektive der Familie auf ein breiteres Spektrum an Sichtweisen hin geöffnet und so auch problematisiert.”80 Dadurch wird das Werk Timms selbst zum Erinnerungsort für alle

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5 Erinnerungen in Petrowskajas Vielleicht Esther

5.1 Zusammenfassung des Werkes

Katja Petrowskaja, in der Ukraine geborene Jüdin, erzählt als Kriegsenkelin ihre Geschichte der Vergangenheit. Die Erzählerin begibt sich auf eine Erkundungsreise quer durch Europa, zurück bis ins Jahr 1864. Sie spürt nahe und entfernte Verwandte auf und bringt so Licht ins Dunkel des eigenen komplexen Familiengeflechts. In einer Rahmengeschichte erzählt sie, wie sie sich selbst auf die Reise nach Polen, Österreich, in die Ukraine und nach Russland begibt. In diesen Rahmen sind die einzelnen Episoden eingebettet, in denen sie unzähliger Verwandter gedenkt und deren Geschichten erinnert. Sie gibt bspw. Einblick in die Berufstradition der Familie, die vornehmlich Taubstummenlehrer waren, erinnert an den Großvater und die Großmutter und verflechtet diese Geschichten auch mit ihren persönlichen Erinnerungen sowie Dialogen mit den Eltern. Die Orte ihrer Erinnerungsreise sind von historischer Bedeutung: So begibt sie sich nach Kiew, in die Schlucht Babij Jar, wo die Ugroßmutter ermordet wurde. Eine weitere Station der Reise ist Mauthausen, wo ihr Großvater gegen Kriegsende inhaftiert war. Auf ihrer Reise stößt sie oft an ihre Grenzen, ist sie doch selbst oft kein Zeitzeuge der geschichtlichen Abläufe, sondern muss sich auf teilweise widersprüchliche oder unvollständige Quellen berufen: falsche Zahlen, Archivrecherchen, die ins Nichts führen und irreführende Google-Suchanfragen. Der unklare Name der Urgroßmutter, der den Titel des Werkes „Vielleicht Esther“ bildet, steht als Synonym für die Unsicherheiten, denen die Erzählerin auf ihrer Erinnerungsreise ausgeliefert ist. Die scheinbar lose angeordneten Geschichten aus unterschiedlichen Kulturkreisen und unterschiedlichen Ländern werden im Werk durch die Rahmengeschichte zusammengehalten und erscheinen damit als Ganzes. Auf diese Weise werden dem Leser Erinnerungen zugänglich gemacht, die keine Nationsgrenzen kennen und auch ganz unterschiedliche Sichtweisen auf die Geschichte widerspiegeln.

5.2 Individuelle Erinnerungen

In folgendem Abschnitt wird analysiert, welche Form das individuelle Erinnern in Petrowskajas Werk einnimmt. Dabei liegt wiederum die in 4.2 bereits definierte Struktur zugrunde: Zunächst wird der Kontext des Erinnerns erläutert und aufbauend darauf eine Charakterisierung des individuellen Erinnerns im Werk vorgenommen. Des Weiteren werden in einer vergleichenden Analyse die Hauptunterschiede in den Erinnerungsformen der Werkes Vielleicht Esther und Am

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5.2.1 Kontext der individuellen Erinnerungen

Vor einer genauen Analyse der individuellen Erinnerungsformen muss der Kontext dieser beschrieben werden. Dabei werden die Fragen Wer erinnert?, Was wird erinnert? Wann wird erinnert ? und Wo wird erinnert? untersucht.

Analog Timm inszeniert sich die Autorin Petrowskaja in Vielleicht Esther als Erzählerin. Die erinnernde Erzählerin spiegelt damit die persönlichen Erinnerungen Petrowskaja wider. Petrowskaja ist eine jüdischstämmige, in der Ukraine geborene Autorin, die mit 29 Jahren nach verschiedenen beruflichen Stationen in den USA und in Estland nach Deutschland kam. Ihre Muttersprache ist Russisch, sie schreibt ihre Erinnerungen in vorliegendem Buch aber auf Deutsch. Bei einem näheren Blick auf ihren Familienstammbaum erkennt man, dass ihre Vorfahren weit verzweigte auf viele verschiedene europäische Länder verteilte Wurzeln haben. Der Gegenstand ihrer Erinnerungen sind Geschichten über ihre Vorfahren. Im Gegensatz zu Timm beschäftigt sich die Erzählerin bei Petrowskaja mit einem breiten Personenkreis und nicht nur mit einer einzigen Person. Sie möchte das breiten Familiengeflecht erkunden und den Mangel beheben, den sie empfindet, weil sie ihre eigenen Wurzeln zum großen Teil nicht kennt. Sie schreibt aber nicht nur eine lose Sammlung Geschichten, sondern reist mit ihren Geschichten zurück in die Geschichte Europas. Die Geschichten berühren sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der Judenverfolgung und erhalten damit in ihrer Gesamtheit allgemeingültigen geschichtlichen Charakter.81 Hier wird wie bei Timm Geschichte ausgeleuchtet, diesmal nicht am Beispiel des Bruders, sondern am Beispiel aller Vorfahren der Erzählerin.

Die Erinnerungen der Erzählerin verfasst Petrowskaja im Jahr 2014 und sie erstrecken sich zurück bis ins Jahr 1864. Dies führt mit sich, dass den Erinnerungen der Erzählerin, nur einige wenige persönliche Erinnerungen zugrunde liegen. Die wichtigsten persönlichen Erinnerungen hat sie an die Geschehnisse in der eigenen Familie. Schon an die Großmutter hat sie keine direkten Erinnerungen mehr. Sie muss daher ihre Erinnerungen auf Erzählungen, Bildern, Archivinformationen und Internetrecherchen basieren.

Der wohl deutlichste Unterschied zwischen Timm und Petrowskajas Werken liegt im räumlichen Kontext. Während die Erinnerungen bei Timm vornehmlich national fixiert sind und

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zu einem kollektiven deutschen Erinnerungsbewusstsein führen sollen, bewegen sich die Erinnerungen bei Petrowskaja in einem kulturübergreifenden und grenzüberschreitenden europäischen Kontext. Dies ermöglicht, wie Rutka beschreibt, eine „neue europäische, transnationale Verständigungsmöglichkeit über das Gewesene“.82 Der Holocaust wird nicht nur aus einer nationalen Perspektive geschildert, sondern es treten unterschiedliche Kulturen und Nationen in einen Dialog über die Vergangenheit. Die Kommunikationsmöglichkeiten über das Vergangene werden dadurch stark erweitert, was eine differenziertere Aufarbeitung ermöglichen kann.

5.2.2 Erinnerungsformen

Bei der Analyse der individuellen Erinnerungsformen wird demselben Schema gefolgt wie in Kapitel 4.2.2.. Es wird analysiert, wie die Ich-Erzählerin mit den Erinnerungsfragmenten und dem damit verbundenen Problem des Vergessens umgeht (5.2.2.1). Weiterhin wird aufgezeigt, mit welchen Methoden die individuellen Erinnerungen im Werk abgebildet werden und welche Erinnerungsquellen dabei genutzt werden (5.2.2.2). Abschließend wird auf die Grundhaltung (5.2.2.3) und auf die Zielsetzung (5.2.2.4) der Erinnernden eingegangen.

5.2.2.1 Umgang mit den Erinnerungsfragmenten

Die Erzählerin bei Petrowskaja ist ebenso wie der Erzähler Timms mit dem Problem lückenhafter Erinnerungsfragmente konfrontiert. Ihr Bestreben, Licht ins Dunkel der Familiengeschichte zu bringen erweist sich als schwieriges Unterfangen. Diese problematische Situation beschreibt sie mit folgendem Bild:

Eines Tages standen plötzlich meine Verwandten – die aus der tiefen Vergangenheit – vor mir. Sie murmelten ihre frohen Botschaften vor sich hin in Sprachen, die vertraut klangen, und ich dachte, mit ihnen werde ich den Familienbaum blühen lassen, den Mangel auffüllen, das Gefühl von Verlust heilen, aber sie standen in einer dicht gedrängten Menge vor mir, ohne Gesichter und Geschichten, wie Leuchtkäfer der Vergangenheit, die kleine Flächen um sich herum beleuchteten, ein paar Straßen oder Begebenheiten, aber nicht sich selbst.83

Aufgrund der Tatsache, dass Petrowskaja aus der Perspektive der dritten Generation berichtet und zudem noch weiter in die Vergangenheit schaut als Timm, sind ihre Erinnerungen an die Verwandten oft noch lückenhafter. Auf der Suche nach ihrer Vergangenheit ist die Erzählerin

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dabei wie der Erzähler bei Timm ständig auf Berichte anderer Familienmitglieder, aber auch auf externes Material, wie Archivrecherchen, angewiesen, die sich ihrerseits als fehlerhaft oder uneindeutig erweisen. Je mehr sie versucht, die Familiengeschichte zu erfassen, desto mehr scheint sie ihr bei der Recherche aus den Händen zu gleiten.84 Ein besonderes Problem, mit dem sich die Erzählerin in Vielleicht Esther konfrontiert sieht, stellen die Möglichkeiten und Gefahren der Internetrecherche dar, die sie sowohl neue Verwandte aufspüren lässt als auch oft ins Irre führt. Der große Unterschied zwischen den individuellen Erinnerungen bei Petrowskaja und Timm liegt aber nicht im Ausmaß des fragmentarischen Charakters der individuellen Erinnerungen, sondern im Umgang mit diesen. Die Erzählerin Vielleicht Esther wird sich im Verlaufe des Erzählens darüber klar, dass sie die Erinnerungsfetzen nie zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen können wird, dass sie „keine Macht über die Vergangenheit habe“85. Sie verzweifelt nicht daran, sondern akzeptiert, dass sie sich in der Schwebe zwischen „Wahrheit und Täuschung“ 86 befindet. Während der Erzähler bei Timm verzweifelt versucht, das Bild so klar und deutlich mit Fakten zu komplettieren und seine Recherche bis ins Detail verfolgt, komplettiert die Erzählerin bei Petrowskaja das Erinnerte mit Phantasie. Auch bei Timm bewegen sich die individuellen Erinnerungen zwischen Fiktion und Fakten, da dies in der Natur der Erinnerungen liegt, sein Bestreben besteht allerdings darin, der Wahrheit mit Hilfe einer klar gesteuerten Recherche- und Analysearbeit so nahe wie möglich zu kommen. Erinnerungslücken lassen ihn dabei zweifeln und zermartern ihn. Der Weg der Erzählerin bei Petrowskaja ist ein anderer. Für sie liegt die Wahrheit nicht nur in den Fakten, sondern auch in der Dichtung, im Fiktiven. In ihren Geschichten füllt sie die Lücken mit Dichtung.87 Sie wählt diesen Weg, weil das Fiktive verschiedene Perspektiven abbilden kann, die uns der Wahrheit näher bringen. Als Angehörige der dritten Generation hat sie die Unvollständigkeit der Geschichte akzeptiert und sucht nun nach neuen Wegen der wahrheitsgetreuen Erinnerung, die im Fiktiven verschiedene Perspektiven ausleuchtet. Als sie erzählt, wie sie einem Fikus ihr Leben zu verdanken hat, da ihr Vater während der Evakuierung Platz im LKW fand, da genau diese Pflanze weggeräumt wurde, fängt sie selbst an daran zu zweifeln, ob es diesen Fikus wirklich gab. Ihr Vater antwortet darauf:

Sogar wenn er (der Fikus) nicht existiert hat, sagen solche Fehlleistungen manchmal mehr aus als eine penibel geführte Bestandsaufnahme. Manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht.88

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Der Vater der Erzählerin bekräftigt sie darin, Fiktives zu ergänzen, wenn ihre Geschichten lückenhaft werden. Diese Strategie des fiktiven Auffüllens von Erinnerungslücken durchzieht das gesamte Werk Petrowskajas.

5.2.2.2 Erzählmethode und Erinnerungsquellen

Analog Timm kennzeichnen sich die Erinnerungen in Petrowskajas Werk durch unerwartete Zeitsprünge, die den Leser förmlich vor und zurück durch die Vergangenheit wirbeln. Den Erzähler bei Timm lassen die Erinnerungen an den Bruder nicht los, sie verfolgen ihn bis in die Gegenwart. Ebenso haben die Erinnerungen der Erzählerin in Vielleicht Esther einen klaren Gegenwartsbezug89, der nicht zuletzt durch die Rahmengeschichte, die sich in der Jetztzeit abspielt, erreicht wird. Auf der Recherchereise der Erzählerin wird in verschiedenen Situationen deutlich gemacht, wie der Zweite Weltkrieg im Kopf der Erinnernden omnipräsent ist. Beim Lesen des Schildes „Bombardier – Willkommen in Berlin“ erinnert sie die Bombardierungen Berlins und auch die Aufschrift WARS auf den Vorhängen und Servietten des Warschauexpresses verknüpft sie direkt mit dem Kriegsgeschehen. Innerhalb des Rahmens wird in einer Vielzahl disparater Geschichten, Vergangenheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt und zu einem Ganzen zusammengefügt. Capano spricht daher auch von einer „multiperspektivischen Textmontage“90. Innerhalb der Erinnerungssequenzen reflektiert die Erzählerin oft über Unterschwelliges, hinterfragt Worte und Formulierungen und versucht so, die Erinnerungen zu bereichern und multiperspektivisch zu gestalten. Sie reflektiert bspw. beim Betrachten des Tores von Auschwitz und dessen Inschrift nicht über Fakten und historische Hintergründe des Konzentrationslagers, sondern schließt eine Reflektion über das Wort „Arbeit“ an.91

Wie bei Timm beruhen die Erinnerungen der Erzählerin nicht nur auf dem individuellen Gedächtnis der Erzählerin, sondern werden verknüpft und ergänzt durch Quellen unterschiedlicher Art. Durch die Quellen werden die individuellen Erinnerungen kontextualisiert und mit den sozialen Erinnerungen der Familie in Verbindung gebracht. Die Quellen bringen aber nicht immer Erkenntnisgewinn. Bilder und erinnerte Gespräche regen den Erinnerungsprozess an, führen aber auch in die Irre. Archivrecherchen und Internetabfragen führen teils zu neuen Erkenntnissen, sind aber auch gespickt mit Fehlinformationen. Helfen bei

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Timm die Quellen die Erinnerungen der Wahrheit ein Stückchen näher zu kommen, so konterkarieren einige Quellen bei Petrowskaja den Erinnerungsprozess. Das Archivbild des Wohnhauses der Familie in Kiew entpuppt sich bspw. als falsche Quelle, da es sich herausstellt, dass bei der Recherche die Hausnummer verwechselt wurde. Die Erzählerin leidet unter der Fehlinformation, auch wenn sie letztlich die lückenhafte Informationslage akzeptiert: „Ich fühlte mich als Betrogene und Betrügerin zugleich, wie viele hatte ich aufgescheucht, mir meine Nummer 14 zu suchen, und nun war sie falsch, mein Haus war nicht mehr meins.“ 92

In Ermangelung zuverlässiger Quellen findet Petrowskaja, wie schon in 5.2.2.1 beschrieben, einen neuen Weg, den Erinnerungsprozess heranzutreiben: Sie ergänzt die Lücken durch Phantasie und Mythen und bildet damit die Geschichte neu ab.93 Ein großer methodischer Unterschied zeigt sich damit im Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion gegenüber Timms Werk. Stehen Fakten und Fiktion bei Timm in einem Konkurrenzverhältnis, in der Form, dass ein Überhandnehmen von fiktiven Elementen den Wahrheitsgehalt der Erinnerungen in Frage stellen würde, so ergänzen sich bei Petrowskaja Faktisches und Fiktives und stehen in einer Symbiose. Erinnerungen werden dabei nicht nur rekonstruiert, sondern gleichzeitig auch konstruiert, d.h. fiktiv ergänzt.94 Dabei spielen Bilder und Metaphern eine große Rolle. Die Schlüsselszene, in der die Großmutter auf der Straße in einen Dialog mit den Soldaten tritt und aufgrund der Tatsache, dass sie Jiddisch spricht sofort erschossen wird, erinnert die Erzählerin, indem sie selbst zur Beobachterin des Geschehens wird, aus dem Fenster des gegenüberliegenden Hauses:

Ich sitze oben, ich sehe alles! Manchmal fasse ich mir ein Herz und komme näher heran und stelle mich hinter den Rücken des Offiziers, um das Gespräch zu belauschen. Warum stehen sie mit dem Rücken zu mir? Ich gehe um sie herum und sehe nur ihre Rücken. Sosehr ich mich bemühe, ihre Gesichter zu sehen, in ihre Gesichter zu blicken, von Babuschka und von dem Offizier, sosehr ich mich auch strecke, um sie anzuschauen und alle Muskeln meines Gedächtnisses, meiner Phantasie und meiner Intuition anspanne – es geht nicht. Ich sehe die Gesichter nicht, verstehe nicht, und die Geschichtsbücher schweigen.95

Diese Szene zeigt zweierlei: das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion sowie die besondere Perspektive der Erzählerin. Das historische Geschehen der Ermordung der Großmutter wird rekonstruiert, aber zugleich mit einer Metapher aufgeladen. Das Faktische wird also

92Petrowskaja 2014, S. 114.

93 Vgl. Caspari 2019, S. 71. Caspari spricht an dieser Stelle von ”reimaging history”, Geschichte wir also neu abgebildet, neu konstruiert.

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fiktionalisiert. Die Tatsache, dass alle historisch Beteiligten der erinnernden Beobachterin den Rücken zuwenden, kann als Metapher für die Begrenztheit der Erinnerungen verstanden werden. Die Erzählerin bekommt die Wahrheit nicht zu fassen, die Vergangenheit hat sie verschleiert.96 Darüberhinaus nimmt die Erinnernde eine besondere Perspektive ein; von oben, d.h. mit der notwendigen Distanz, erinnert sie die Gewalt. Aus dieser Perspektive kann sie eine neue Sprache für das Unfassbare finden, die sich nicht für Rassen, Nationalitäten oder Opfer-Täter-Debatten interessiert, sondern einen alternativen Weg aufzeigt, zu erinnern.97

Nicht die Gewalt, sondern die Menschen stehen bei Petrowskaja im Mittelpunkt. Ihnen versucht sie näher zu kommen und sie versucht sie mit allen Sinnen zu erinnern, wie an folgendem Textausschnitt deutlich wird:

Zurück in Kiew, legte ich die Schallplatte auf, und meine Großmutter, die ihr ganzes Leben lang mit leichtem polnischem Akzent sprach – [...]–, meine Großmutter, die, solange ich mich erinnern konnte und auch so lange, wie meine Mutter sich erinnern konnte, niemals ein Wort auf Jiddisch gesagt hatte, begann auf einmal, übermütige Lieder in einem obdachlosen Moll zu singen, erst den Worten folgend, ihnen nachgehend, dann sicher im gleichen Schritt und plötzlich den Worten voraus, fröhlich und vorschnell, und ich hörte ihr mit der gleichen Ungläubigkeit zu, wie ich den Mogendovid auf der Schallplatte ertastet hatte.98

In der distanzierten Rolle der Erzählerin gegenüber Gewalt und dem Wunsch nach Nähe zum Menschlichen drückt sich auch eine bestimmte Grundhaltung aus, die in folgendem Abschnitt erläutert werden soll.

5.2.2.3 Grundhaltung der Erinnernden

Die Erzählerin bei Petrowskaja nimmt eine wertfreie Distanzperspektive beim Erinnern von Gewalt ein. Aus der beobachtenden Rolle heraus verurteilt sie nicht. Im Gegensatz zu Timm ist die Grundhaltung der Erzählerin nicht kritisch, sondern wertneutral. Sie zeigt verschiedene Denkweisen auf, ohne diese aus einer moralischen Grundhaltung heraus zu bewerten.99 Diese Distanzperspektive zeigt sich in einer Schlüsselszene beim Besuch des Konzentrationslagers Mauthausen. Die Erzählerin bleibt wie auch beim Beobachten der Erschießung der Großmutter

96 Vgl. Benjamin 2018, S.45.

97 Vgl. Capano 2018, S. 108.

98Petrowskaja 2014, S. 75-76.

References

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